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Der Engel ist nicht parteilich
von Jürgen Boeckh

Und es begab sich, als Josua bei Jericho war, daß er seine Augen aufhob und gewahr wurde, daß ein Mann ihm gegenüberstand und ein bloßes Schwert in seiner Hand hatte. Und Josua ging zu ihm und sprach zu ihm: Gehörst du zu uns oder zu unseren Feinden? Er sprach: Nein, sondern ich bin der Fürst über das Heer des HERRN und bin jetzt gekommen. Da fiel Josua auf sein Angesicht zur Erde nieder und betete an.

Josua 5, 13-14

LeerKinder haben ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit. Von Vater und Mutter, von Lehrerin und Lehrer erwarten sie, daß diese unparteiisch sind. Von einem Richter erwarten das Erwachsene - in der Regel - auch. Bis in unsere Zeit gehörte es für die meisten Menschen zum Wesen des Richters, daß er über den Parteien steht. Jeder Partei, sei es eine einzelne Person oder eine Gruppe, bleibt es jedoch unbenommen, für ihr - tatsächliches oder vermeintliches - Recht einzutreten. Es ist auch das gute Recht eines Anwalts, für seinen Mandanten Partei zu nehmen - und insofern parteiisch zu sein. Die Instanz, die über Recht und Unrecht entscheidet, ist jedoch weder der Rechtsanwalt noch ein Staatsanwalt, sondern der Richter.

LeerWenn der Apostel Petrus nach dem Bericht des Lukas (Apostelgeschichte 10,34) sagt „Nun erfahre ich in Wahrheit, daß Gott die Person nicht ansieht”, dann steht er damit in der Tradition des Volkes Israel, für das Gott Richter ist. Petrus als Jünger Jesu geht in seiner Aussage noch hinaus über das, was die Menschen seines Volkes in der Praxis damals für möglich hielten: Der eine Gott ist der Gott aller Menschen, nicht nur der Juden, sondern auch der Römer und Griechen. Hinter diese Erkenntnis sind die Christen, ja ist die Kirche in ihrer jeweiligen Gestalt immer wieder zurückgefallen.

LeerHeiliger Erzengel MichaelFür das abendländische Imperium in der Nachfolge des römischen Reiches wurde der Erzengel Michael, in dem sich einst das ganze Gottesvolk repräsentiert gesehen hatte, zum „himmlischen Kapitän”: „Hilf uns hier kämpfen, die Feinde dämpfen ...” Und damit war nicht mehr nur der geistliche Kampf gemeint, sondern ein Kampf mit irdischen Waffen. Für den geistlichen Kampf, in dem das Wort Gottes als „Schwert des Geistes” dient (Epheser 6,17/Hebräer 4,12), steht uns St. Michael mit Recht vor Augen. Der zum irdischen Parteigänger gemachte Engel des Gottesvolkes konnte jedoch sowohl von den Deutschen als auch von den Franzosen als Schutzpatron in Anspruch genommen werden, nachdem das Reich in Nationen auseinandergefallen war. Solche Versuchungen fechten Christen des nachchristlichen Abendlandes heute kaum noch an. Die Nation hat für uns zu Recht ihren absoluten Wert verloren.

LeerAber der „schreckliche und kluge”, der „große Geist” (so nennt Dostojewskijs Großinquisitor den Widersacher) findet immer neue Möglichkeiten, den Menschen vom rechten Wege abzubringen. Die Infragestellung des göttlichen Gebotes („Sollte Gott gesagt haben ...”, 1. Mose 3,1) geschieht in unserem Jahrhundert immer wieder durch eine allmählich sich durchsetzende, oft bewußt gesteuerte Umdrehung der Sprache. So finden wir neuerdings in den Wörterbüchern neben dem Wort „parteiisch” auch den Begriff „parteilich”. Manchmal wird beides in eins gesetzt. Vielen Zeitgenossen ist nicht klar, daß „parteilich” von seinem Ursprung her etwas ganz anderes meint als „parteiisch”. Eine „Parteilichkeit der Justiz”, zum Beispiel, stellt die Unabhängigkeit des Richters in Frage. Manche sagen heute: „Die Kirche muß parteilich sein.” Einmal las oder hörte ich sogar den Satz: „Gott ist parteilich.” Wenn damit gemeint ist, daß Gott für die Leidenden da ist und daß Christen die Aufgabe haben, für die Leidenden einzutreten, dann ist das eine gute Meinung. Wer aber in diesem Zusammenhang den Begriff „parteilich” verwendet, der steht in Gefahr, daß er unter den verschiedenen politischen und sozialen Möglichkeiten des Eintretens für andere seinen Weg als den einzigen, den absolut richtigen ansieht. Denn dies gehört mit zur „Parteilichkeit”.

LeerIm Buch Josua wird uns berichtet, wie der Nachfolger des Mose im Gefilde von Jericho seine Augen erhebt und plötzlich einen Mann vor sich stehen sieht, das Schwert gezückt in der Hand. Die Frage ist berechtigt: „Gehörst du zu uns oder zu unseren Feinden?” Nicht nur im Krieg ist diese Frage verständlich. Der Unbekannte, der andere, wo gehört er hin? Ist er Freund oder Feind? Ist er einer von unseren Leuten - oder gehört er auf die andere Seite? So fragen wir oft, weil wir nur mit zwei Möglichkeiten rechnen. Eine Parteinahme als solche ist nichts Schlechtes. Jeder hat das Recht, für das, was er als gut und richtig erkannt hat, einzutreten und sich auch Parteigänger für seine Sache zu suchen; auch dann, wenn er weiß (und das sollte jeder wissen!), daß es immer nur ein relatives Recht gibt für eine Partei, die, wenn wir das Wort recht gebrauchen, immer eine unter mehreren oder mindestens unter zweien ist. Das gilt für politische Parteien ebenso wie für Religionsparteien (wie man früher gelegentlich die christlichen Konfessionen genannt hat). Es gibt keine vollkommene Welt und wir haben nicht die Möglichkeit, eine vollkommene Welt zu schaffen. Wir sind unvollkommene Menschen, die immer wieder schuldig werden, wenn sie in dieser Welt handeln. Darum ist es gefährlich, den Ewigen für die eigene Sache in Anspruch zu nehmen. Der Engel des HERRN ist nicht parteilich. Seine Antwort auf die Frage, ob er Freund oder Feind ist, lautet: „Nein, sondern ich bin der Fürst über das Heer des HERRN.”

LeerWenn dennoch, wie im folgenden Kapitel des Buches Josua berichtet wird, der Fall der Stadt Jericho als ein Werk des HERRN erscheint, so werden wir dies als eine überwundene Stufe auf dem Weg Gottes mit seinem Volk anzusehen haben. Wer das Spiritual „The battle of Jericho” singt, sollte bedenken, daß es da um einen totalen Krieg ging, in dem - bis auf die Verräterin Rahab und ihre Sippe - auch Frauen und Kinder niedergemacht wurden. In der Erscheinung des Engels vor Josua leuchtet wie ein Blitz jene Zeit auf, in der es keine „heiligen Kriege” mehr gibt. Auch Kreuzzüge mit nationalem oder konfessionellem oder parteilichem Vorzeichen sind keine „heiligen Kriege”.

Quatember 1988, S. 119-121

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-30
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