Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1988
Autoren
Themen
Stichworte

Der heilende Blick
von Joachim Stoelzel

Der Herr sprach zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben.
Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biß, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.

4. Mose 21, 8.9

LeerNach 40jähriger Wüstenwanderung steht Israel an der Grenze des gelobten Landes, das heißt kurz vor dem Ziel. Und nun diese unheimliche Schlangengeschichte! Was hat sie  u n s  zu sagen?

LeerGott hatte Israel aus dem „Land der Knechtschaft” geführt, aus der geordneten Welt der „Fleischtöpfe” und der Gefängnissicherheit. Unter dem Pharao hatte es sich ohnmächtig angepaßt, um existieren zu können. Geht es heute nicht Millionen Menschen in aller Welt ebenso, angepaßt, um existieren zu können? Dann aber hat Gott dieses Volk in die Freiheit, in die Freiheit der Wüste geführt. Da sagt niemand mehr, was zu tun ist. Auch wer in die Arbeitslosigkeit gerissen, „freigestellt” (!) ist, braucht nicht mehr zu malochen, aber nun hat er Angst vor der Freiheit, die er sich doch zuvor wünschte. Gibt es ein erfolgreiches Leben nur im „Lande der Knechtschaft”, der sklavisch geordneten Welt? Angst ergreift die Israeliten von vorn und von hinten, vor der Freiheit und vor der elenden Sklaverei. Sie fühlen sich preisgegeben.

LeerWelch starke Persönlichkeit ist da Moses, freilich nicht aus sich heraus, sondern weil Gott ihn ergriffen und unwiderstehlich beauftragt hat. Er muß sich mit diesem Volk vortasten in das unbekannte Morgen. Die Menschen dieses Volkes verdanken nun ihr Leben weder der „Betreuung” durch den Pharao noch der eigenen Leistung. Nun ist jeder Tag der gefährlichen Freiheit ein Geschenk Gottes. Es bleibt nichts anderes übrig, als sich diesem Gott anzuvertrauen, der sie mit Gewalt aus der Unfreiheit gerissen hat. Seine unerbittliche Gnade lernen sie erkennen und dabei ihn selbst. Denn Gott exerziert sein Volk, das er erwählt hat, mit einem 40jährigen Hin und Her, mit vielem Darben und Dürsten. Immer wieder will es diese Freiheit verweigern, den Befehl verweigern. Seine eigenen Wege sind nicht Gottes Wege. Vielmehr will Gott nichts anderes als das, was unserem innersten eigenen Wesen - oft uns nicht bewußt - entspricht. Die Welt - damals wie heute - mit ihren Pharaonen, will uns zu ihrem Vorteil und zu unserem Nachteil formen. Gott aber liebt uns so, wie wir - nach seinem Plan - sind. Aus einem Volk der Knechte soll Gottes freies Volk werden!

LeerUnd nun also steht dieses Volk vor dem Ziel, dem gelobten Land. Moses schickt einen Spähtrupp, zwölf Kundschafter in dieses Land. Bei ihrer Rückkehr bringen sie eine Rebe mit einer großen Weintraube mit, von zwei Männern an einer Stange getragen, um sie nicht zu beschädigen. Sie berichten: „Ja, Kanaan ist wirklich ein fruchtbares Land, in dem Milch und Honig fließt.” Freilich, das Volk dort wohnt nicht in Zelten, sondern in befestigten Städten. Es ist zahlreich, eine kräftige Rasse und groß wie Riesen. Zehn der Kundschafter meinten: Wir können sie nicht besiegen. Nur zwei entgegneten: Mit Gottes Hilfe können wir es schaffen. Da schrie das ganze Volk und weinte, begehrte auf gegen Moses: Ach daß wir in der Wüste stürben! Ist es nicht besser, wir ziehen wieder nach Ägypten? Da war es bequem und sicher, und wir hatten genug zu essen. Nach 40 Jahren armseliger Wüste schaffen wir die Eroberung Kanaans nicht.

Linie

LeerDa ließ Gott durch Mose verkünden: „Ich will das Volk strafen, weil es mir noch immer nicht vertraut.” Durch Krankheiten und Kämpfe mit umliegenden Völkern wird es zermürbt. Das ist der geschichtliche Hintergrund der Schlangenplage. In dem Bericht sind, wie so oft, Schichten uralter Erfahrungen und Mythen miteinander verbunden. So haben die Schlangen die gleiche Bezeichnung wie die Seraphim, die Engel (!), die Jesaja bei seiner Vision sah (Kap. 6). Später (Kap. 30,6) warnt er vor Kontakten mit Ägypten, wo feurige, fliegende Drachen, eben die gleichen Seraphim, ihr Wesen treiben. Bei den Völkern im weiten Umkreis wurden die bissigen, giftigen Schlangen angesehen als begabt mit dämonischen Kräften. Sie wohnen in unzugänglichen Höhlen, oft bringen sie den Tod. Erdhaft also und doch fliegend, vermitteln sie zwischen gefährdenden und heilenden Gottheiten.

LeerAus dem alten Ägypten stammt eine Stelle mit dem Horusknaben, umgeben von Schlangen verschiedener Art. Wer diese ansieht und betet um Bewahrung, dem gewährt der junge Horus Schutz vor gefährlichen Bissen und Heilung von Bissen. Asklepios, dem Sohn Apolls, waren in Epidauros, Pergamon und an anderen Orten Heiligtümer geweiht, die zum Wallfahrtsort für die Kranken wurden. Das Attribut des Gottes war der von der heiligen Schlange umringelte Stab. Noch heute tragen Ärzte und Sanitäter als Berufsabzeichen die Schlange mit dem Stab, den Äskulapstab, und die Apotheken zeigen die Schlange gewunden um die Schale des heiligen Trankes. Ich denke da an den „Kelch des Heils” beim Abendmahl, der uns Anteil gibt am Opferblut Jesu (1. Korinther 10, 16): Furchtbares Gericht und Heil in einem!

LeerIst die Schlange nicht auch ein vielfaches Symbol dessen, was in uns vorgeht? So auch Symbol der Vorgänge zwischen der menschlichen Seele und Gott? Wilde Verzweiflung überfällt die Israeliten im Rückblick auf die zermürbende Wüstenwanderung und im Vorausblick auf die bevorstehenden schweren Kämpfe mit dem übermächtigen Gegner: „Wir sind am Ende. Wir wollen sterben in der Wüste!” Und Gott läßt den Wunsch der Murrenden schreckliche Wirklichkeit werden. Viele sterben aus Verzweiflung und Angst. Die vielen Gefahren von außen und von innen sind verdichtet im Bild der feurigen, geflügelten Schlangen. Aber Gott will nicht vernichten, sondern sein Volk anleiten zum Vertrauen in seine Führung. Auf Gottes Geheiß nagelt Moses eine bronzene Schlange an einen hohen Pfahl. Nun gilt es, dem Bösen ins Auge zu schauen, den Schatten in uns, unsere Schwäche anzunehmen und nicht den Kopf in den Sand zu stecken, auszuweichen in die Knechtschaft Ägyptens, auch nicht auszuweichen vor der schweren Aufgabe, das gelobte Land in Besitz zu nehmen.

Leer„Niedertreten wirst du Löwen und Drachen” betet Israel später im Psalm 91. Es gibt heute genug Leidvolles und Böses im privaten und öffentlichen Leben. Ein Beispiel: Das Krebsleiden wird nicht durch Angst, sondern durch Vorsorge mancherlei Art bekämpft, das heißt durch Ins-Auge-Fassen des Bösen - im Vertrauen auf Gott. An dem Christus, am Holz des Fluches gekreuzigt (Johannes 3, 14), sehen wir, was Gott aus dem Bösen zu unserer Rettung macht. „Wer gebissen wird, aber die eherne Schlange ansieht, wird leben.” Wer als Sünder den Gekreuzigten ansieht, wird leben in Ewigkeit.

Quatember 1988, S. 127-131

[Siehe auch: Wilhelm Stählin - Die eherne Schlange]

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-30
Haftungsausschluss
TOP