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von Jürgen Boeckh |
Weder ein besonderer Jahrestag seiner Geburt (1907) noch seines Todes (1980) ist der Anlaß, daß wir hier auf den früheren Schriftleiter unserer Zeitschrift (1952 bis 1959) zu sprechen kommen. Anlaß ist vielmehr die neu aufgebrochene Frage nach dem Verhältnis der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarvölkern, die Erich Müller-Gangloff seit jeher bewegt hat. Der hier abgedruckte Aufsatz war in dem vom Freundeskreis der Evangelischen Akademie Berlin herausgegebenen Nachrufheft für ihren Gründer erschienen. Er ist damals vermutlich nur wenigen unserer Leser bekannt geworden.In einem der Nachrufe, die anläßlich der Beisetzung von Erich Müller-Gangloff gehalten wurden, hieß es von dem Verstorbenen: „Er stand einmal rechts vom Nationalsozialismus.” Mancher wird erstaunt gewesen sein, dies zu hören. Was aber war damit gemeint, wenn Erich Müller, wie er sich damals nannte, als „rechts” vom Nationalsozialismus stehend bezeichnet wurde? Ist er ein Rechtsextremist gewesen, einer Gruppierung zugehörig, etwa noch gewalttätiger als der Nationalsozialismus? Was mit der Bemerkung „rechts vom Nationalsozialismus” gemeint war, ist mir durchaus verständlich, da der nun Verstorbene mir vor etwa drei Jahren eine von ihm verfaßte Schrift mit dem Titel „National-Bolschewismus” überreicht hat. Diese Broschüre, mit schwarzem Pappeinband und weißer Beschriftung, erinnert in ihrer Aufmachung an Oswald Spenglers ebenfalls mit „Copyright 1933” versehenes Buch „Jahre der Entscheidung”. Während dieses zwar vor 1933 geschrieben worden war, aber erst nach der „Machtergreifung”, mit einem anderen Titel als vorgesehen, erschien, ist Erich Müllers Schrift offenbar vor dem 30. Januar abgeschlossen und gedruckt worden. Der Begriff „nationalsozialistisch” kommt in der 46 Seiten umfassenden Broschüre nur zweimal beiläufig vor, der Name „Hitler” taucht nur einmal im Zusammenhang mit Otto Strasser auf, von dem es heißt, daß er mit einer Gruppe „Revolutionärer Nationalsozialisten” vor den Reichstagswahlen 1930 aus der NSDAP ausschied. In dem Exemplar seines Buches, das Erich Müller-Gangloff mir übergab, fand ich auf den letzten vier Seiten mehrere Striche quer durch den Text und darunter die Worte: „Kohl / Urteil Dezember 1973”. Damit hatte sich der Verfasser von früheren, von ihm selbst vertretenen Positionen, distanziert. Aber es ist keineswegs so, daß die Schrift vom Jahre 1933 mit dem Müller-Gangloff der 50er, 60er und 70er Jahre, wie wir ihn kennen, überhaupt nichts zu tun hätte. Im Gegenteil: Viele seiner Gedanken (die Taten nach sich zogen!) aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg finden wir schon in der Schrift „Nationalbolschewismus”. Und jene, die ihn verdächtigten, ein Kommunist zu sein und seine Verständigungsbereitschaft mit dem nahen und fernen europäischen Osten in Mißkredit zu bringen versuchten, könnten gerade durch die Lektüre des „Nationalbolschewismus” eines Besseren belehrt werden. Es geht Erich Müller - wie Ernst Niekisch - in erster Linie um Rußland, um die Hinwendung zum Osten und die Abkehr vom Westen. „Nationalbolschewismus” bezeichnet er selbst als ein „an sich schon groteskes Wort”. Im Vorwort spricht er die Hoffnung aus, „daß der deutsche Staat... zugleich mehr als ein Staat, daß er wieder wie im Mittelalter ein ‚Reich Deutscher Nation’ sein wird und schließlich, daß die Aufgabe dieses neuen Reiches nicht wie die des alten im Süden oder Westen des Abendlandes, sondern im bäuerlich-chaotischen Osten liegen wird.” Der wilhelminischen Diplomatie, so meinte damals Erich Müller, gereichte der Entschluß, Lenin durch Deutschland zu befördern zur Ehre, „da er von einer für die Regierung eines bürgerlich-reaktionären Staates immerhin bemerkenswerten Vorurteilslosigkeit in der Behandlung primär-politischer Fragen zeugt.” Der Primat der Außenpolitik um des nationalen Überlebens willen bestimmt Müllers „Nationalbolschewismus”. Wer dieses Buch liest, der wird erkennen, daß Erich Müller-Gangloff, als er Nikita Chruschtschow aufsuchte, in erster Linie den Russen, nicht aber den Kommunisten zu sprechen suchte. Ganz gewiß wußte Müller-Gangloff um die Geschichtsmächtigkeit des Marxismus. Er erkannte seine Wahrheitsmomente an und rechnete mit ihm. Aber er war kein Marxist. Er suchte die Verständigung mit dem Osten, mit der Sowjetunion, mit Polen und der DDR nicht, weil diese Länder marxistisch regierte Staaten sind, sondern obwohl sie es sind. Im Jahre 1922 stellte Oswald Spengler die Frage: „Daß wir die Feinde Rußlands nicht sind, ist selbstverständlich, aber wessen Freunde sollen wir sein - des Rußlands von heute oder morgen? Ist beides möglich oder schließt eines das andere aus?” In seinen Kontakten zur Sowjetunion suchte Müller-Gangloff ohne Zweifel in erster Linie Rußland im Sinne der preußisch-russischen Tradition, die mit dem Namen Friedrichs des Großen, Steins und Bismarcks verbunden ist. Seine Verständigungsbereitschaft auch mit der DDR ist in „Nationalbolschewismus” bereits vorprogrammiert, obwohl an eine DDR damals nicht zu denken war. Er rühmt den preußischen Bolschewisten Niekisch, der „die Synthese des Prinzips von Potsdam mit dem von Moskau erstrebt und behauptet, daß die Potsdamer Traditionen, denen Preußen und mit ihm Deutschland untreu geworden sind, in Moskau ihre Fortsetzung gefunden haben, daß der bolschewistische Staat ein absoluter Staat ähnlich dem alten preußischen ist und daß Rußland sich heute großhungert, wie es einst Preußen getan hat.” (Hier wird an der jungen Sowjetunion gerade das Staatsein gerühmt, obwohl doch nach Karl Marx der Staat absterben soll!) „Der Sinn des Bolschewismus ist - auf eine kurze Formel gebracht - die Selbstvernichtung der westlichen Zivilisation, anders gesprochen: Der Kampf gegen den Westen mit den aufs äußerste geschärften Mitteln des Westens. Die Maschine aber ist das letzte und vollkommenste Mittel, die schärfste Waffe, die der selbstherrliche, gegen Gott und die Landschaft aufgestandene westliche Mensch geschaffen hat. Wer um der ewigen, konservativen Werte willen der technischen Zivilisation, die jene Werte erbarmungslos vernichtet, zu Leibe gehen will, der muß sich daher, um den Teufel zu vernichten, mit dem Teufel verbünden. So erklärt sich das Paradoxon der Geschichte, daß ein so ausgesprochen bäuerliches und so tief gläubiges Volk wie das russische sich unter der Führung einer dünnen Schicht städtischer, gottlosen Parolen verschworener Menschen, die den Ingenieur an des Priesters Stelle gesetzt, gegen den Petrinismus aufgelehnt hat.” Kurz vorher begrüßt Erich Müller den „preußischen Bolschewismus”; er sieht ihn in engster Verbindung mit dem heroischen Nihilismus des jungen Deutschland. Als Durchgangsstufe soll er einem radikalen Neuanfang den Weg bereiten - wie der russische Nihilismus, durch den es „dem Bolschewismus möglich wurde, zur Tat und zum Neubau des Reiches vorzustoßen.” Nichts deutet darauf hin, daß der Verfasser Sympathien für Hitlers Nationalsozialismus empfunden hat. Aber der „Wunsch” des damaligen National-Revolutionärs ist in anderer Weise, als er und seine Freunde es wünschen konnten oder für möglich hielten, in Erfüllung gegangen; denn sie sind gekommen, die „Männer, die ihre Sache auf nichts gestellt haben und die eher bereit sind, mit Europa auch Deutschland in die Luft zu sprengen, als ein dem Westen höriges Deutschland zu dulden.” - Es ist gefährlich, das Nichts zu beschwören! Anders, als Erich Müller es damals gewollt hat, wurde Deutschland auf den Weg in das Nichts getrieben. Und auch die schwarze Fahne der Anarchisten wurde von den Nazis - als Fahne und Farbe der SS -in Anspruch genommen. Dennoch wäre es abwegig, hier folgerichtige Entwicklungen feststellen zu wollen. In der Geschichte kann immer auch alles anders kommen. Bei der Lektüre von Erich Müllers „Nationalbolschewismus” ist mir wieder einmal deutlich geworden, wie vielschichtig die politische Landschaft in Deutschland bis zum Jahre 1933 gewesen ist, wie viele Querverbindungen und wechselnde Koalitionen es auch zwischen radikalen Rechten und Linken gegeben hat. Ein Beispiel: Albert Leo Schlageter, der uns im „Dritten Reich” immer als ein Vorkämpfer des Nationalsozialismus vor Augen gestellt wurde, wird hier auch für die „Schwarze Fahne” in Anspruch genommen, und offenbar haben auch Anhänger der „Roten Fahne” in ihm ihren Mann gesehen. So versteht er sich selbst als Radikalen der Rechten, aber nicht als Extremisten. „Rechts” vom Nationalsozialismus kann man ihn jedoch nicht ansiedeln. Im Reichstag der Weimarer Republik saßen die Nationalsozialisten am äußersten rechten Flügel - eben das „Extrem”! Und auch hier werden wir sagen müssen: les extremes se touchent. Ihre Selbstbezeichnung - Nationalsozialisten - war für beide Seiten ein Affront. Wenn man ihn schon einordnen will, dann höchstens „links” vom Nationalsozialismus. Aber vielleicht sollten wir - auch sonst - solche Einordnungen meiden. Einige Zeit vor seinem Tode sagte er zu mir: „Wir Konservativen ...” Dies wiederum war keine Parteinahme für die CDU. Er war kein Parteimensch und erst recht kein Ideologe. Zwei Passagen aus späteren Büchern mögen deutlich machen, wie alte Positionen unter neuen Vorzeichen noch einmal auftauchen. In „Mit der Teilung leben” (1965) lesen wir: „Karl Marx hat im Entscheidenden ungeschichtlich gedacht. Der Kommunismus ist nach seiner ausdrücklichen Formulierung das aufgelöste Rätsel der Geschichte. Die bisherige Geschichte dient ihm höchstens als Absprung und wird insofern als Vorgeschichte eingeordnet. Alles Gewesene wird abgestoßen. Weil es keiner Erneuerung fähig ist, wird eine schlechthin neue Welt erbaut, in der alles Alte vergangen ist. Es ist dieser Futurismus der Marxisten, der uns mehr als irgendein anderer Wesenszug zur Auseinandersetzung herausfordert ...” Hier ist der frühe Nihilismus aufgegeben, während wie vordem die konkrete Geschichtlichkeit des Menschen betont wird. In diesem Zusammenhang begrüßt Müller-Gangloff Papst Johannes XXIII. und Nikita Chruschtschow, mit denen „eine dogmatisch erstarrte Macht” jeweils „durch die historische Relativierung ihrer Dogmatik ganz neu zur geschichtsmächtigen Größe geworden ist.” Und im letzten Kapitel seiner „Horizonte der nachmodernen Welt” (1962) zitiert er die Frage Reinhold Schneiders, ob es nicht sein könne, „daß (das) rätselhafte Antlitz Rußlands uns zu einem neuen Christentum herausfordern soll, wie wir es noch nicht gelebt haben?” In diesem Zusammenhang erinnert Erich Müller-Gangloff an die Zeitgenossen Teilhard de Chardin und Ernst Bloch, an den von ihm wiederentdeckten Joachim von Fiore, den Künder eines Dritten Reiches des Geistes, aber auch an die Repräsentanten des „Anderen Rußland”, an Bulgakow und „Berdiajew als nachmarxistische, durch den Kommunismus in lebendiger Auseinandersetzung hindurchgegangene Geister”, und an Dostojewski und seinen „Satz, der inzwischen tausendfältig widerlegt scheinen könnte und der wahrscheinlich trotz allem fortdauernde Gültigkeit hat: Das russische Volk habe nur eine Liebe, die heiße Christus.” 30 Jahre vorher hatte er geschrieben: „Vielleicht wird das Dritte Reich ein germanisch-slawisches Reich des noch seiner Entdeckung harrenden östlichen Christentums sein.” Quatember 1988, S. 210-215 |
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