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Vor 50 Jahren: Die Pogrom-Nacht am 9./10. November 1938
von Hans-Dietrich Paus

LeerAbweichend von der Regel, unter der Rubrik „Vor 50 Jahren” Texte aus den alten Ausgaben der JAHRESBRIEFE oder des GOTTESJAHRES abzudrucken, möchte ich in diesem Heft Zeitzeugen aus der Michaelsbruderschaft zu Wort kommen lassen, die die Ereignisse und die Folgen der Pogrom-Nacht vom 9. zum 10. November 1938 miterlebt haben, die sich zum 50. Mal jährt.

LeerVorweg dies: Wir sollten nicht von der „Reichskristall-Nacht” sprechen, weil damit verharmlost wird, was eigentlich geschehen ist. Es wurden - das wissen wir ja alle - nicht nur die Scheiben jüdischer Geschäfte zerschlagen und diese geplündert, sondern fast alle Synagogen zerstört oder ausgebrannt, jüdische Friedhöfe geschändet, über 30000 Männer in Konzentrationslager gebracht und 91 jüdische Mitbürger noch in der Nacht ermordet. Es war der systematisch geplante Beginn der brutalsten Judenverfolgung. So ist der richtige Begriff für diese Nacht des Tenors „Pogrom”. Das aus dem Russischen stammende Wort ist das einzig angemessene, weil bezeichnet wird, was geschehen ist: die mit Plünderungen einhergehende Hetze und Ausschreitung gegen nationale, religiöse und rassische Gruppen.

LeerDie gesamte Deutsche Evangelische Kirche (DEK) bot in dieser Zeit ein verwirrendes Bild. Insgesamt hat sie sowohl im Blick auf den Schutz ihrer Judenchristen als auch im Blick auf den Protest und den Widerstand gegen die Judenverfolgung versagt. Die von den „Deutschen Christen” beherrschten Landeskirchen übernahmen den NS-Rassegedanken und den Antisemitismus in allen seinen Konsequenzen. Aber auch die „Bekennende Kirche” (BK) hat sich nicht eindeutig verhalten, der Kampf gegen den Arierparagraphen beschränkte sich nur auf den kirchlichen Raum, und vom damaligen kirchlichen Standpunkt schien es unmöglich zu sein, sich als Kirche für die Juden zu verwenden. Dennoch hat manch ein Pfarrer oder Gemeindeglied ein öffentliches Wort oder Eintreten für die Juden riskiert, viele sind daraufhin überwacht und verfolgt worden. Auf meine Bitte im Heft 2/1988 haben sich aus der Michaelsbruderschaft drei „Zeitzeugen” gemeldet, Hans Adolf Dombois, Heinrich Figge und Günther Karstedt, aus deren Einsendungen ich schlaglichtartig Berichte zusammengestellt habe.

Hans-Dietrich Paus

Hans Adolf Dombois, damals Staatsanwalt in Potsdam, schreibt aus seinen Erinnerungen:


LeerAm Morgen des 9. November 1938 fuhr ich, wie gewohnt, mit der Straßenbahn durch Potsdam zu meinem Dienst. Auf dem großen Wilhelmsplatz im Stadtzentrum stieg aus der geschlossenen Tür der großen Synagoge eine dünne Rauchfahne, die annehmen ließ, daß ein Brand gelöscht worden war. Wir erfuhren, daß es in der Hauptgeschäftsstraße Potsdams zu Krawallen und Plünderungen von jüdischen Geschäften gekommen war. Die Polizei hatte eingegriffen und ein halbes Dutzend Plünderer auf frischer Tat festgenommen. Diese wurden dem Richter vorgeführt, der gegen alle Haftbefehl erließ. Beim Oberstaatsanwalt waren in dieser außergewöhnlichen Lage keine Anweisungen der vorgesetzten Dienststellen ergangen. Ich ließ daraufhin die Akten zwei bis drei Tage liegen und die Delinquenten sitzen und ging dann wieder zum Oberstaatsanwalt. Auch jetzt lag nichts vor. Ich entwarf daraufhin für jeden der Inhaftierten einen Strafbefehlsantrag über drei Monate Gefängnis, die der Oberstaatsanwalt unterschrieb. Dies war die Höchststrafe, welche ohne mündliche Verhandlung verhängt werden konnte. Die Strafbefehle wurden rechtskräftig und vollstreckt. Auf den erforderlichen Ministerialbericht erfolgte nichts.

LeerNach dem 9. November herrschte in den Parteikreisen angesichts der ausländischen Reaktionen ein Riesenkatzenjammer. Ein einziger Mann, der Kreisleiter der Stadt Rathenow, war jedoch Held des Tages. Er ließ die Kraftfahrzeuge aller ihm bekannten jüdischen Bürger der Stadt beschlagnahmen, auf einem Schulhof versammeln, dort sorgfältig bewachen und gab sie nach zwei oder drei Tagen wieder unbeschädigt frei.

Auf die Ereignisse in einer Bremer Kirchengemeinde weist Heinrich Figge hin:

In der St.-Stephani-Gemeinde waren mehrere Gemeindeglieder jüdischer Abstammung. Nach dem Judenpogrom in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 nahm sich die Gemeinde in ganz besonderer Weise ihrer jüdischen Mitchristen an und sorgte dafür, daß sie als christliche Brüder und Schwestern erkannt wurden. In allen Zusammenkünften der Gemeinde waren Träger des Davidssterns. Mehrere judenchristliche Gemeindeglieder wurden in den Gottesdiensten getraut.

Nachdem im Oktober 1941 bekannt geworden war, daß die Juden in den Osten gebracht wurden, nahm die St.-Stephani-Gemeinde mit ihrem Pastor Gustav Greiffenhagen am 2. November 1941 in einem gemeinsamen Gottesdienst von ihnen Abschied. Nach der Abendmahlsfeier wurden sie noch besonders eingesegnet und zum Dienst an ihren Mitchristen in der Fremde beauftragt. Pastor Greiffenhagens deutsch-christlicher Kollege Fischer erstattete Anzeige beim Regierenden Bürgermeister. Eine Reihe von Gemeindegliedern, die den Judenchristen ein paar Kleidungsstücke gebracht hatten, wurden verhaftet und Verhören unterzogen, besonders vier Lehrerinnen. Drei Lehrerinnen sollten in den Osten nach Lodz versetzt werden, wo man sie aber nicht haben wollte. In einem Dienststrafverfahren wurden sie amtsenthoben, in der zweiten Instanz wurde die Amtsenthebung in eine Geldstrafe gemildert.

Günther Karstedt, 1938 Gemeindepfarrer in Schönwalde, Kreis Sorau/Lausitz, erinnert sich:

LeerAus dem Munde von Schönwaldern, die in Sorau am 9. November 1938 beschäftigt waren, und von Sorauern selbst am gleichen Tage erreichten mich mit dem Ausdruck großen Entsetzens folgende Darstellungen: In Sorau haben junge Männer und eine Oberklasse des Sorauer Gymnasiums unter Anführung des Gymnasialdirektors Juden-Wohnungen aufgebrochen, Einrichtungsgegenstände zerschlagen, auch durch die Fenster auf die Straße geworfen, die Klaviersaiten zerschnitten und in den aufgeschlagenen Klavierflügel die Weckgläser mit den eingemachten Nahrungsmitteln zertrümmert hineingeschüttet. Die Juden flohen zu anderen Familien.

LeerTiefgreifendes Entsetzen breitete sich im Kirchenkreis aus, so daß auch wir Pfarrer unseren Gemeinden gegenüber Rede stehen mußten. Am darauffolgenden Sonntag kam ich auf den uns alle erschütternden Vorgang in der Predigt zurück. Ich erinnere mich im Zusammenhang an den Vorwurf christusfeindlichen Verhaltens mit etwa folgenden Worten: „Wir alle werden durch den mit Gericht und Gnade waltenden Gott eines Tages den schmerzenden Wunsch auf den Lippen haben: Ach hätten wir doch ein weniges davon zu essen, was damals voller Frevel an Nahrungsmitteln in den Klavierflügel geschüttet und am Fußboden zertreten und deren Besitzer geschlagen und verjagt wurden!”

LeerEin einziger Jude lebte mit seiner evangelischen Familie in unserer Gemeinde. Eines Abends kommen der Amtsvorsteher und der Bürgermeister ins Pfarrhaus mit der Bitte um Beistand: „Wir haben von höherer Stelle einen Fragebogen vorgelegt bekommen mit der Angabenforderung, wie viele Juden in unserer Gemeinde leben. Wir sind in tiefer Gewissensnot, weil wir ahnen, welche Folgerungen daraus entstehen.” Meine Frau sagte daraufhin: „Meine Herren, damit wir uns ganz klar verstehen und uns darin völlig eins sind: Wir haben keinen einzigen Juden in unserer Gemeinde!” Mit Dank und Zustimmung verließen die beiden führenden Männer das Pfarrhaus. Der Jude überlebte und wurde zum Kriegsende Bürgermeister des Ortes.

Quatember 1988, S. 229-230

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-12
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