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Auf den Spuren Francescos (I)
„... der sein Gesicht im Spiegel betrachtet”
von Heinz Grosch

LeerDen Betrachtungen zu Vätersprüchen, die den Leser von QUATEMBER in den letzten beiden Jahren begleiteten, soll nun eine Reihe von Besinnungen über Franziskus-Legenden folgen. Das Wort „Legende” bedeutet ursprünglich so viel wie „das, was man lesen muß”. Aber viele Menschen tun sich heute schwer damit. Selbst Gebildete (auch theologisch Gebildete) stoßen sich am „Unhistorischen” und Wunderhaften dieser alten Erzählungen. Daß es in ihnen nicht zuerst um die Realität (um die Welt der Dinge), sondern um das Wirkliche, nicht um Gegenstände (Objekte), sondern um das Wirken Gottes im Leben glaubender Menschen geht, ist eine Unterscheidung, die wir erst wieder lernen müssen.

LeerFür uns Evangelische kommt zuweilen noch ein Zweites hinzu. Was Glaube, was das Wahrnehmen Gottes und seiner Botschaft ist oder sein kann, erfahren wir im Grunddokument eben dieses Glaubens, in der Bibel, nicht in „märchenhaften” Geschichten um heilige Frauen und Männer - so sagt man bei uns. Doch viele Legenden sind nichts anderes als bildhaft erzählende Auslegungen der Heiligen Schrift. Sie suchen durch Aufsprengen des Historischen und des Realen sichtbar zu machen, wie der Glaube, wie das Wirken des Geistes Gottes im Leben geschieht: zum Beispiel im Leben einer Frau aus der Oberschicht, die Schritt für Schritt entdeckt, wie ihr Leben mit dem der Armen und Rechtlosen zu tun hat (Elisabeth von Thüringen), oder bei einem jungen Mann, der sein Lebensziel gründlich überprüft und neue Wege zu gehen beginnt (Franziskus von Assisi).

LeerEin Drittes: Insofern Legenden so etwas sind wie Auslegungen der Heiligen Schrift, Predigten in erzählender Form, können auch sie uns zum Spiegel Gottes für unser eigenes Leben werden. (Jak. 1,22-25) Wer sich in diesem Spiegel betrachten will, scheint zunächst nur Bilder zu sehen. Er kann sie als fremd und unverständlich abwehren, er kann ihnen ausweichen oder vor ihnen die Augen schließen, Wenn er das aber nicht tut, wird er in seinem Herzen - leise zuerst, dann jedoch immer deutlicher - Fragen vernehmen: Wie sehe ich eigentlich aus? Wie sieht mein vergangenes und mein gegenwärtiges Leben aus? Was bedarf der Überprüfung oder vielleicht sogar radikaler Veränderungen?

LeerFragen solcher Art werden auch in den Legenden um Franziskus und seine ersten Gefährten laut, in den Erzählungen über den Freundeskreis des „Französleins”.

Wer war „der kleine Franzose”?

LeerWarum der Tuchhändler Pietro Bernardone aus Assisi seinen Sohn Giovanni schon bald nach der Geburt Francesco (das Französlein) nannte, wissen wir nicht genau. Aber der Kosename blieb auch an dem Heranwachsenden hängen - vielleicht wegen seiner Vorliebe für französische Liebeslieder, vielleicht auch wegen seiner äußeren Gestalt.

LeerSein Weg vom jugendlichen Weltkind zum entschlossen Glaubenden, vom verwöhnten Bürgersohn zum demütigen Führer einer Armutsbewegung, läßt sich aus seinen Äußerungen und vor allem anhand der Zeugnisse seiner Zeitgenossen gut erkennen. Schon bald nach seinem Tode - er stirbt als 44jähriger im Herbst 1226 - ranken sich um ihn zahlreiche Erzählungen („legendarisch ausgeschmückt” nennt sie der aufgeklärte Mensch unseres Jahrhunderts). In der Erinnerung der Freunde und derer, die ihm begegneten, wird sein Bild zum Exempel „evangelischen” (evangeliumsgemäßen) Lebens -zum Beispiel eines Lebens, in dem die Freude und der Schmerz des Hörens auf Christus sichtbare Gestalt annimmt.

LeerFranziskus - das spüren die Menschen, die von ihm erzählen - läßt sich ein auf die Stimmen, mit denen sein Herr ihn anredet und ruft: im Wort der Schrift, im Gebet und sogar im Traum. Er öffnet seine Hände, um all das loszulassen, was in der Welt Sicherheit zu geben scheint: überlegene Bildung, materielle Werte, politische Macht. Er weicht den Leidenden nicht aus. Er spürt die Grenzen auf, die unser Leben (auch unser Glaubensleben) ordnen und zugleich gefährden. Er läßt sich die Augen auftun für Gottes ganze Schöpfung und erkennt in Wasser und Erde, in Wind und Sonne, in Pflanze und Tier seine Geschwister. Daß dieser Weg uneingeschränkten Vertrauens und klaren Gehorsams auch bei seinen Gefährten umstritten war, läßt sich verstehen. Er ist es bis heute.

LeerDie letzten Lebensjahre Francescos sind auf geheimnisvolle Weise überschattet von den äußeren Zeichen der Nachfolge, der „imitatio” Christi. Was nur wenige Freunde gewußt hatten, wird offenbar, als er stirbt. Der Leib des Poverello - des kleinen armen Mannes - trug die Leidensmale des Gekreuzigten.

Demut mit sehenden Augen

LeerBei einer Zusammenkunft der ersten Gefährten des Franziskus - so wird in den sogenannten „Blümlein” (XXXII) überliefert - habe einer der Brüder vom wunderbaren Beispiel eines demütigen Menschen erzählt. Ein anderer Bruder, Masseo mit Namen, wurde dadurch so sehr ergriffen (1),
daß er den festen Vorsatz faßte, nimmer in dieser Welt froh zu werden, bis daß er diese Tugend voll und ganz in seiner Seele spüre.
LeerEr unterwarf sich strengen Übungen des Fastens, Wachens, Betens und der Selbstanklage, um auf diese Weise Demut zu erlangen und ein „Freund Gottes” zu werden. Eines Tages hörte er die Stimme des auferstandenen Herrn.
Christus sprach zu ihm: „Was gibst du dafür, wenn du die Gnade erlangst, die du erbittest?” und Bruder Masseo antwortet: „Herr, ich will aus meinem Haupt dir die Augen geben!” Da sagt Christus zu ihm: „Ich aber will, daß du diese Gnade besitzest und deine Augen behältst!”
LeerWas Masseo, der Gefährte des Franziskus, ersehnt, wird manchem heute fremd erscheinen. Ein deutsches Synonymwörterbuch erklärt das Verb „sich demütigen” mit der Wendung „in würdeloser Weise um etwas bitten”. Hätte Demut also gar mit Würdelosigkeit zu tun? Mit der Würdelosigkeit dessen, der die Gesinnung (muot) eines Dienenden hat?

LeerDaß es tatsächlich aber um etwas anderes geht, zeigt Paulus im 2. Kapitel des Philipperbriefes. Dort spricht er von der Demut im Zusammenhang mit glückendem Leben, mit Teilhabe am Leben Christi. Demut hat für den Apostel Paulus zu tun mit einem Leben, das im Letzten nicht den Mächten unterworfen ist, die diese Welt regieren (oder zu regieren scheinen). Sie hat für ihn zu tun mit der Teilhabe an einem Weg, der nicht im Tode endet. Auch Masseo möchte, daß sein Leben glückt, und er ist bereit, viel dafür einzusetzen. Er geht aufs Ganze, weil es ihm ums Ganze geht. Er weiß, daß er sich dem EINEN Herrn über Leben und Tod ganz und gar anvertrauen muß wie ein Dienender, denn dieser Herr sieht auf die Demütigen - so, wie er auch „die Niedrigkeit seiner Magd angesehen” hat. (Lk. 1,48) Es genügt dem Bruder des Franziskus, daß Gottes Augen offen sind, über ihm und über der Welt.

LeerChristus aber, der HERR selbst, ist anderer Meinung. Er tadelt seinen jungen Freund nicht, doch er weist ihn in eine andere Richtung. Er zeigt ihm, daß er das wirkliche Lehen, ein Leben mit Gott, nicht für sich allein haben kann. Paulus drückt das in seiner Mahnung an die Philipper so aus: „In Demut achte ... jeder nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen.” Demut, die allein das eigene Wohl - und wäre es das eigene Heil vor Gott - sucht, ist keine Tugend des Glaubens. Fasten, Beten und wachsame Selbstprüfung (auch vor dem Wort der Heiligen Schrift) haben mit dem guten Willen Gottes wenig zu tun, wenn sie uns nicht zum Bruder, zur Schwester hinführen.

LeerDas mag sogar für die Art des Nachdenkens im Glauben gelten, die wir Theologie nennen; auch sie gedeiht nur auf dem Boden dieser Demut. Sie aber - es ist die Demut Christi selber, und wir sollen von ihr „lernen” (Mth. 11,29) - schließt „sanfte”, behutsame und also wahrnehmungsfähige Hinwendung zum anderen, schließt Liebe ein. Sie braucht sehende Augen. Augen für diejenigen, die Gott an meinen ganz konkreten Weg gestellt hat - hier und jetzt. Darum fragt Charles Péguy: „Was würde ER wohl von uns denken, wenn wir ohne die anderen zu IHM kämen, ohne die anderen heimkehrten?”

LeerMasseo muß das zurechtweisende Wort Christi verstanden haben. Er muß diesen anderen Weg gesucht haben und gegangen sein. Nur so erklärt sich, was die Legende zum Schluß erzählt:
Seither blieb Bruder Masseo ... so von Demut und dem Licht Gottes erfüllt, daß er stets im Jubel lebte ... Und seine Versunkenheit in Gott machte ihm das Antlitz heiter und das Herz froh.
(1) Der zitierte Text folgt der Übersetzung von Max Kirschstein (Franz von Assisi: Die Werke. Die Blümlein = Rowohlts Klassiker, Bd. 34)

Quatember 1989, S. 19-22

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-23
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