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Predigt im Festgottesdienst zum Gesamt-Michaelsfest
der Evangelischen Michaelsbruderschaft
in der Marktkirche in Hannover am 9. Oktober 1988

von Dr. Ulrich Wilckens

Leer„Der Herr hat seinen Thron im Himmel bereitet,
und sein Reich herrscht über alles.
Lobet den Herrn, ihr seine Engel, ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet,
daß man höre auf die Stimme seines Wortes!
Lobet den Herrn, alle seine Heerscharen,
seine Diener, die ihr seinen Willen tut!
Lobet den Herrn, alle seine Werke, an allen Orten seiner Herrschaft!
Lobe den Herrn, meine Seele!”
(Ps. 103, 19-22)


LeerLiebe Gemeinde,

Leerdie Evangelische Michaelsbruderschaft ist aus der Geschichte unserer evangelischen Kirche dieses Jahrhunderts schwerlich wegzudenken. In ihr hat die große Sehnsucht nach einer durchgreifenden Erneuerung der Kirche, die nach dem Ersten Weltkrieg und aus dem Erleben des Zusammenbruchs der ganzen bürgerlichen Gesellschaft und Kultur viele, sehr verschiedene Christen beseelt und in die Pflicht gerufen hat, eine sehr eigene Gestalt gefunden. Wenn man heute, in einer Situation ähnlicher Sehnsucht nach Erneuerung, das „Berneuchener Buch” von 1926 liest, so findet sich darin vieles von dem, was wir gegenwärtig als Not unserer Kirche empfinden und als Aufsatz vor uns sehen: die Sorge, daß in der Kirche das Apparathafte die Kraft der freien Gnade Gottes überwuchert und erstarren läßt, was doch so lebendig sich entfalten soll und will; daß sie alles Leben, Denken und Sichverhalten vom weiten Horizont der Hoffnung auf das Ewige abschließt und sich einkrümmt in die Enge und Oberflächlichkeit des Endlichen; daß darum der Glaube seine Kraft zu verlieren droht, aus seinem Ureigenen das Leben und Zusammenleben neu zu gestalten und all den vielerlei Veränderungen ebenso offen wie kritisch zu begegnen, nicht in ängstlicher Gegenwehr, aber doch des eigenen Weges wohl bewußt.

LeerEine evangelische Kirche stand da vor Augen, die als Glaubensgemeinschaft klar erkennbar und gerade deshalb kompetent ist zu zeigen, wie der Glaube an das Evangelium die ganze Lebenswelt neu zu gestalten vermag, bis hinein in das Verhältnis der Geschlechter zueinander, in die Geburtswehen der damals ganz neuen politischen Ordnung hinein und unter anderem auch in der Arbeitswelt mit ihren brennenden sozialen Nöten und Problemen. Eine erstaunlich „ganzheitlich” orientierte Bewegung war das. Ihr Herz sollte der Gottesdienst sein: ein Gottesdienst allerdings, der die Erstarrung einer Vortragsveranstaltung oder einer Vereinsversammlung überwindet und zum Ort werden kann, wo mitten in dieser modernen Welt die „ganz andere” Wirklichkeit Gottes und die Kräfte seiner Ewigkeit in leibhaft-konkreter Gestaltung lebendig erfahren werden kann: die Predigt als „lebendiges Wort” Gottes, das aus lauter vereinzelten Menschen eine Gemeinschaft von Christen macht, lebendige Kirche; und mit gleichem Gewicht das Abendmahl als leibhaftige Begegnung mit dem anderen Christus selbst, der uns in Sein Leben hineinnimmt und unser Leben mit den bewegenden Kräften Seines Geistes erfüllt. Ein Ort darum großen Erstaunens (denn was gibt es für ein tiefgreifenderes Erstaunen als das eines Menschen, der es wirklich mit Gottes Wundern und Geheimnissen zu tun bekommt). Und ein Ort, an dem aus solchem Erstaunen ein lösender, glückseliger, starker Lonpreis erwuchst - Lobpreis Gottes als Grundton des ganzen Lebens.

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LeerDies vor allem ist es, was die Berneuchener Bewegung und die Michaelsbruderschaft als gleichsam ihr Schrittmacher unserer evangelischen Kirche als etwas wirklich Neues gebracht und vermittelt haben: die Entdeckung des Gottesdienstes als Feier solcher Gegenwart Gottes in seiner Kirche, im lebendigen Wort und im Heiligen Mahl, wodurch aus einem kleinen Häuflein von Gläubigen ein Teil der großen, weltumspannenden und weltdurchdringenden Kirche wird und eine Feier unserer Teilnahme jetzt und hier an dem nicht endenden Lobpreis aller Gläubigen aus allen Völkern und Generationen der einen Kirche Gottes, die einstimmt in den ewigen Lobpreis der ganzen Schöpfung und aller Engel der oberen, zukünftigen Welt.

LeerUnd so ist das alte Michaelsfest zum zentralen Fest der sonst so festlosen zweiten Hälfte des Kirchenjahres geworden: ein Gottesdienst, in dem dieser Zusammenklang irdischen und himmlischen Lobpreises eigens in die Mitte tritt, der an sich das ganze Jahr hindurch erklingt, wo immer zu Beginn der Feier des Abendmahls das „Sanctus” erklingt mit dem - wie wir in unserer lutherischen Liturgie beten - „die Engel Deine Herrlichkeit, o Gott, loben, Dich anbeten die Mächte und Dich fürchten alle Gewalten, Dich preisen die Kräfte des Himmels mit einhelligem Jubel, mit denen Du auch unsere Stimmen uns vereinen lassen mögest und ohne Ende bekennen:
Heilig, heilig, heilig, ist Gott, der Herr Zebaoth.
Alle Lande sind Seiner Ehre voll.
Hosianna in der Höhe!
Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn.
Hosianna in der Höhe!”
LeerVielen Menschen scheint das aufs erste ganz fremd, ganz weit weg zu sein von dem, worum es uns modernen Menschen heute geht und zu gehen habe. Sie können nicht begreifen, wieso ein Gottesdienst - wie immer festlich begangen - für das wirkliche, reale Leben und Zusammenleben so wichtig sein sollte. Und sie können nicht begreifen, wieso ein Gottesdienst gerade durch solche Lobpreisgebete und -gesänge an Echtheit und Kräftigung gewinnen sollte.

LeerNun, das kann man auch nicht so einfach ‚begreifen’. In die Logik gegenwärtigen Öffentlichkeits-Wirkens paßt es nicht hinein. Da lobt sich jeder selbst; und wenn eine herausragende Persönlichkeit durch öffentliches Lob gefeiert wird, dann als Vorbild dessen, was Menschen doch alles zu leisten vermögen und als Wunschbild für viele Kleine, die eigentlich auch gern einmal selbst zu den ganz Großen gehören möchten. Lob und Selbstlob liegen da jedenfalls ganz nahe beieinander und vermengen sich leicht.

LeerIm Gottesdienst aber geht es nicht um das Lob von Menschen, gar so, daß der Gottesdienst-Lobpreis insgeheim zum Selbstgenuß würde, als lobte darin Gott uns; sondern es geht allein und ganz und gar um das Lob Gottes, um das Lob, das die Engel in der oberen Gotteswelt Gott darbringen, und in das wir Menschen hier auf Erden mit einstimmen dürfen. Da endet all unser dauerndes Selbstlob mitsamt allem Kreisen des Menschen um sich selbst, und es öffnet sich ein Horizont unserer Lebenswelt, den wir so unselig-radikal abgeblendet haben: Es gibt Mächte, über die wir nicht Macht haben und derer auch keine künftige Macht menschlicher Wissenschaft und Technik je Herr werden wird.

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LeerAuch böse Mächte gibt es, die uns überlegen sind, indem sie sich uns unsichtbar machen und eindringen in unser ganzes Denken, Wollen, Wünschen und Verhalten, als ob wir es selbst wären, die wir doch in Wahrheit beherrscht und geschoben werden. Wer da einmal wach wird und Augen bekommt, das zu sehen, der wird von ganz tiefen Ängsten gepackt und geschüttelt, zu schreien anfangen: „Hilfe, Hilfe!”

LeerLiebe Gemeinde: Daß diese Hilfeschreie unserer modernen Welt nicht im Leeren eines unendlichen Weltenraumes verhallen, sondern daß sie gehört werden, ja, daß sie Antwort finden - das ist das ganz große Wunder, mit dem echter Glaube beginnt: Glaube an Gott, dessen Macht hinausreicht über all diese uns überwältigenden lebenszerstörenden Mächte, wie es in unserem Psalm heißt: „Der Herr hat seinen Thron im Himmel bereitet und sein Reich herrscht über alles.” In ihm hat unser Hilfeschreien eine Adresse: Er hilft, wo sonst niemand hilft und zu helfen vermag. Er liebt uns, wo sonst niemand uns liebhat und wo keine menschliche Liebe uns helfen kann. Und er, der in unausdenkbarer Höhe über alles herrscht, liebt dich kleinen Menschen, dich unter all den Millionen hilfsbedürftiger Kreaturen ganz persönlich. Unzählig ist die Zahl seiner Engel, die er aussendet, um jedem einzelnen von uns nahezukommen und nahe zu sein - und in jedem dieser Myriaden seiner Engel kommt er selbst: unser Gott. Seine Diener sind die, die seinen Willen tun.

LeerWie anders sieht ein Leben aus, wo dieses Wunder wahr wird! Wie ganz anders lebt es sich, wo dieses Wunder sich uns öffnet, so daß wir nicht mit uns selbst allein sind und nur aus dem leben müssen, was wir selbst aus unserem Leben machen, sondern daß wir aus Gott leben dürfen, umgeben von seiner unendlichen, urpersönlichen Liebe und ihren Kräften, die wir Gottes Engel nennen. Wie anders wird die Grundstimmung unseres Lebens, wenn sich uns als wahr erweist, daß es keine Macht des Bösen im Himmel und auf Erden gibt, über die Gott nicht Herr wäre.

LeerUnd aus dieser Ur-Erfahrung des Glaubens kommt das staunende Gotteslob, mit dem die Gemeinde auf das Wunder antwortet, daß Gott da ist als der letzte Retter und Helfer. „Lobt den Herrn, alle seine Werke, an allen Orten Seiner Herrschaft. Lobe den Herrn, meine Seele!” -Beides gehört ganz nahe zusammen: der Lobpreis aller Geschöpfe und der ganz persönliche Lobpreis meiner Seele. Beides wächst zusammen im Gottesdienst: das Lob, das jeder einzelne als die Antwort seines eigenen Lebens Gott singt, und das Lob, das die Gottesdienst-Gemeinde gemeinsam Gott darbringt; der Lobpreis jeder einzelnen Gemeinde und der ganzen Kirche; der der Kirche und der ganzen Schöpfung.

LeerNur wenn wir die Erfahrung ganz und konkret ernst nehmen, daß Gott selbst da ist mitten in solchem Lobpreis seiner Gemeinde, daß Christus leibhaftig da ist: Sein Wort in unseren Ohren und Herzen, und Sein Leib und Blut in dem einen Brot, das wir essen, und in dem einen Kelch, aus dem wir trinken; daß Gottes Geist wirklich da ist und unser Beten und Loben vereinigt mit dem aller Geschöpfe und es in Gottes Ohr und Herz gelangen läßt - nur wenn uns also der Gottesdienst, den wir hier in aller Menschlichkeit feiern, zum Ort der wirklichen Begegnung mit Gott und darum zu Mitte und Herz unseres ganzen Lebens wird, nur dann - in der Tat -wird es zu einer durchgreifenden Erneuerung unserer Kirche kommen können. Das ist heute so wahr wie damals, als vor mehr als 60 Jahren die Berneuchener Bewegung ihren Anfang genommen hat. Und solche Erneuerung unserer Kirche ist heute gewiß ebenso dringlich nötig wie damals.

LeerDanken wir Gott dafür, daß Er seine Kirche so von Grund auf zu erneuern und ihr sein Leben einzuhauchen vermag! Trauen wir Ihm dies aus ganzem Herzen zu! Lassen wir uns selbst persönlich von Ihm in Dienst nehmen, wann und wo Er es will! Und loben wir unseren Gott, daß Seine Kirche besteht und in alle Ewigkeit bestehen wird, weil Er sie so will und immer neu schafft - in Jesus Christus unserem Herrn.

Amen

Quatember 1989, S. 34-36

Siehe auch: Hans-Dietrich Paus - Apostolischer Glaube heute

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-23
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