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Rückkehr des verlorenen Sohnes
Meditation über Rembrandts Radierung aus dem Jahre 1636
von Heinrich Kahl

LeerDer verlorene SohnIm Bild ist der Augenblick wiedergegeben, da der verlorene Sohn zum Vater zurückkommt. Nach biblischem Text hat der Vater den Sohn von ferne kommen sehen und ist ihm entgegengekommen und -gelaufen. (Lukas 15, Vers 20) Der Vater ist aus dem Haus getreten. Auf den Stufen vor seinem Haus kommt es zur Begegnung. Der Stock, der dem Sohn als Pilgerstab diente, ist ihm entfallen: die Wanderschaft ist zu Ende.

LeerDas Besondere dieses Ereignisses, der Heimkehr, wird unterstrichen durch die drei Personen, die der Künstler als Zuschauer hinzukommen läßt. Eine Person öffnet den Fensterladen und blickt herab auf die Szene. Es ist der älteste Sohn des Vaters, der Bruder des Heimgekehrten. Als kritischer Betrachter ist ihm der Zugang verwehrt; denn von seiner hohen Warte am Fensterladen führt keine Stiege herab. Er bleibt abständiger Betrachter, ohne Kommunikation. Sieht nicht die Schwärzung über seinen Augen aus wie eine schwarze Binde? Die zwei anderen Personen folgen dem Vater durch die Tür nach draußen. Einer bringt das Gewand - „Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße ...”. (Lukas 15,22)

LeerDie (Wieder-)Begegnung, die Versöhnung erfolgt, nachdem der Sohn durch ein Tor getreten und einige Stufen emporgestiegen ist. Der Vater aber ist die Stufen zu der Begegnung hinabgestiegen. - So also sieht der Künstler Rembrandt die Umkehr und Heimkehr: Der Büßer tritt durch ein Tor von einem Raum in den anderen, und er steigt aus seiner Niederung empor; die Gnade des Vaters aber neigt sich herab.

LeerDer Sohn ist nur notdürftig bekleidet mit einem Lendentuch. Er ist barfuß und barhäuptig. - Wir sehen darin nicht nur Mangel und Abgerissenheit, sondern auch Demut und Ehrerbietung: So, wie man im Orient die Schuhe abstreift, wenn man Haus oder Heiligtum betritt, so, wie man im Abendland die Kopfbedeckung abnimmt als Ehrenbezeugung. Anders der Habitus des Vaters: Er trägt Kopfbedeckung, einen weiten Mantel und Schuhzeug; damit ist er der Ehren würdig.

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LeerDer Sohn ist vor seinem Vater auf die Knie gefallen - eine Geste spontaner Demut. Seine Hände sind zu seinem Vater erhoben und bittend zusammengelegt. Das Haupt neigt sich dem väterlichen Herzen zu. Anders der Gestus des Vaters: Mit weitem Schritt tritt er auf seinen hinknienden Sohn zu, selber die Knie neigend; den linken Unterarm reicht er ihm als Stütze. Diese Bewegung von Beinen und linkem Arm zeigt sein Bemühen um Auffangen und Unterstützung. So tritt der Mensch hin, wenn er Sturz und Fall abfangen will.

LeerDurch die Rechte des Vaters, durch seine Schultern und seinen Kopf ist ausgedrückt: Während Füße, Beine und linker Arm unterstützen, wollen Nacken, Kopf und rechter Arm beschützen und zudecken. Zwischen seinen Händen hält der Vater den flehenden Sohn. Die Linke fängt auf, die Rechte berührt und umfaßt liebevoll die Schulter des Sohnes. Ungewollte, spontane Zuneigung spricht aus der Haltung des Vaters, ungewollte, spontane Hinwendung aus der des Sohnes. Den bittenden und flehenden Händen des Sohnes strecken sich haltende und helfende Hände des Vaters entgegen.

LeerWas lesen wir in den Gesichtern?

LeerDer Sohn bettet seinen Kopf am Herzen des Vaters, aber er blickt ihn nicht an. Zwar wendet er sein Gesicht nach oben, aber er blickt dem Vater nicht in die Augen. Ob sein Auge frei ist oder seine Lider geschlossen sind, wir sehen es nicht. Aber er schaut dennoch nach oben. Auch hinter geschlossenen Lidern ist das möglich. Sein Gesichtsausdruck ist ernst und gesammelt. Ein wenig hat er seinen Kopf auf die linke Seite gelegt, seinem Herzen und dem Herzen des Vaters zugeneigt. Der Nacken aber ist nicht gebeugt, sondern vielmehr kräftig erhoben, damit sein Scheitel das Herz des Vaters erreicht. Der Vater neigt Nacken und Schulter herab; er streckt den Kopf vor, aber auch er hält den Nacken fest, und er zeigt damit seine Entschlossenheit, das Verhältnis so zu belassen, wie es nun geworden ist. Sein Gesichtsausdruck verrät Rührung. Beide, Vater und Sohn, haben ihr Ich vergessen und sich dem jeweilig anderen zugewandt.

LeerBetrachten wir die Formen, die Linien und Schwerpunkte des Bildes, so können wir erkennen:

LeerEine Diagonale geht vom Torbogen links oben zur vorspringenden Stufe rechts unten. Die andere Diagonale führt von der hohen Haube der hinzutretenden Person rechts oben zu den Stufenecken links unten. Die Diagonalen schneiden sich im Ellbogen des Sohnes, Dieser Schnittpunkt ist also der Mittelpunkt des Bildes. Es ist der Punkt, da die absteigende Linie des Oberarmes umwendet in die aufsteigende Linie des Unterarmes. Dieser geometrische Mittelpunkt ist indessen nicht der Schwerpunkt des Bildes. Als Schwerpunkt erscheint uns der Kopf des Sohnes; hier weist die Radierung die tiefste Schwärzung, die stärkste Gravierung auf.

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LeerAuch der Kopf des Vaters ist ein besonderer Punkt im Bildaufbau: Er ist der Anfangspunkt einer Spirallinie, die von der väterlichen Stirn über seine Schulter, über Oberarm, Ellbogen, Unterarm und Hand zum Ellbogen des Sohnes und über dessen Oberarm, Schulter und Nacken zum Scheitel führt. In dieser Spirale liegt Bewegung und Energie, sie ist Ausdruck und Symbol psychischer Dynamik. Die väterliche Schulter ist der Scheitelpunkt eines gleichseitigen Dreiecks, dessen Basis durch die Verbindungslinie der Füße gebildet wird. Dieses Dreieck ist die Mitte des Bildes, und wenn man will, kann man hier den Hinweis auf die Trinität sehen.

LeerAbgesehen von geometrischen Strukturen schauen wir im Bild auf eine organische Symbolstruktur: Nämlich in den basierenden Stufen ein mächtiges Wurzelwerk; in der aufstrebenden, schmalen Hausfassade einen Stamm; im gewölbten Torbogen links mit hineinragendem Astwerk und im angedeuteten Bogen rechts bildet sich vor unserem inneren Auge die ausladende Krone eines Baumes. So wächst der Lebensbaum dessen, der umkehrt zur Gnade des Vaters, unverdient reich beschenkt mit den Gnadengaben, geehrt und geliebt.

LeerEinen Dreier-Rhythmus finden wir in den Gebäudeteilen: Links der Torbogen, in der Mitte der schmale Vorbau des Hauses mit dem Fensterladen, rechts der Hauseingang mit der Treppe. Dreier-Rhythmus auch in den waagerechten Stufen. Dreier-Rhythmus in den Nebenpersonen, und Dreier-Rhythmus in der mittleren Personengruppe, wenn man die dritte Person (den Heiligen Geist) als imaginär, aber immanent gelten läßt.

LeerWenn wir Dreieinigkeit in Sprache fassen, dann sind wir mit den Worten „Vater, Sohn und Heiliger Geist” zugleich bei einer Formel, die das Geschehen dieses Bildes in äußerster Konzentration beschreibt.

LeerHier ist „Heiliger Geist” aus der Perspektive des Künstlers Rembrandt mit Inhalt gefüllt, nämlich: Hinwendung und Zuwendung des Vaters, Demut und Hingabe des Sohnes; flehendes Bitten des Sohnes, tröstendes Helfen des Vaters; Bewegung vom Kopf (aus dem Bewußtsein) des Sohnes hin zum liebenden Herzen des Vaters, Antwort vom Haupt des Vaters hin zur Buße des Sohnes.

LeerHier ist Trinität gespiegelt im Verhältnis heimkehrender Sohn - tröstender Vater; Gottes Vatergüte im menschlichen Gestus. Das Wesen Gott-Vater symbolisiert Rembrandt in der Person des Menschenvaters. Im Miteinander und Zueinander des heimkehrenden Sohnes und helfenden Vaters ist Heiliger Geist ausgedrückt, Heiliger Geist, „der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird.”

Quatember 1989, S. 63-65

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-23
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