Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1989
Autoren
Themen
Stichworte

Der Schlüssel
von Albrecht Schaeffer

LeerEin Wanderer, der den ganzen Erdball umkreist hatte auf der Suche nach der Stadt Gottes, weil er in seiner Jugend vernahm, daß auch diese Stadt irgendwo auf der Erde gelegen sei und daß Einlaß zu ihr erhalte, wer sie zu finden wisse, sah an einem Abend jenseits einer unermeßlichen Ebene diese Stadt wirklich unter dem Himmel liegen. Sie mußte es wohl sein, denn die Maße ihrer Türme und Kuppeln, die zwischen die Türme und Kuppeln der glühenden Abendwolken hinaufragten, überstiegen alle Maße von Menschenbauten, die der Wanderer jemals gesehen hatte.

LeerObgleich ihn noch eine kaum zu ermessene Wegstrecke von der Ersehnten trennte, wanderte er rüstig zu; und er wußte nicht, wie viele Stunden vergangen waren, als er, schon wankend vor Müdigkeit, aus der Nacht eine dunkle Wand aufsteigen sah. Ein winziger Lichtpunkt hatte ihn die letzte Wegstrecke geleitet, und nun erkannte er, daß es das Schlüsselloch eines mächtigen Tores war, aus dem der Lichtstrahl herausfiel.

LeerSogleich pochte er an. Da tat sich im Tore ein Fenster auf, und er konnte drinnen in einem goldenen Dunst Lichter und selige Gestalten mit Flügeln erkennen, die da hin- und herzugehen schienen.

LeerEine solche neigte sich aus dem Fenster, reichte ein Brot heraus und sagte: „Nimm und iß!” Allein der Wanderer versetzte: „Dank! Speise habe ich selbst und bin nicht darum gekommen, sondern ich bitte um Einlaß.” Das Fenster schloß sich sogleich; in der Finsternis schimmerte nur der einsame Strahl aus dem Schlüsselloch, und der Mann sprach: „Es ist nicht das rechte Tor - der Einlaß wird anderswo sein.”

LeerUnd wie sehr seine Füße und Schläfen brannten, begann er, unter dieser Mauer weiter einherzugehen und ging viele Stunden lang. Die Mauer schien sich in einem unendlichen Kreise herumzubiegen, aber so oft seine Augen die Umrisse eines Tores zu erkennen glaubten, fiel aus keinem ein Schimmer heraus, und sein Pochen hallte vergeblich.

LeerUnd so fand er sich am Ende zu seinem Anfang zurückgeführt, dem glänzenden Schlüsselloch; und wieder wurde über dem tödlich Erschöpften das Fenster aufgetan, die Engelsgestalt bog sich zu ihm, reichte das Brot und sagte: „Nimm und iß!”

Leer„Einlaß!” rief er, fast weinend, „ach, Einlaß ist, was ich begehre!”

LeerDas Fenster schloß sich zu, und in der Verzweiflungsentschlossenheit des Todes machte er sich abermals auf, ging und schlug an die Tore, wanderte, weinte, betete und fluchte - umsonst: von wo er ausgegangen war, da stand er am Ende wieder; und der Engel reichte das Brot. Diesmal nahm er das Brot, denn nun war sein Hunger begierig. Und er sagte, hinsinkend am Fuß der Mauer, murmelnd schon halb im Schlaf: „Was will ein Mensch auch mehr? Ein Brot aus Gottes Stadt und schlafen am Fuß ihrer Mauer.”

LeerSeine Hände brachen das Brot, und aus dem Brot fiel der Schlüssel, der ihm das Tor erschloß.

aus: Zeitschrift „Mythos”, herausgegeben von W. Ehlert, 1958

Quatember 1989, S. 122

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-23
Haftungsausschluss
TOP