Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1989
Autoren
Themen
Stichworte

Wie ich Euch geliebt habe (Johannes 13,34)
Biblische Reflexion zur Kultur der Beziehungen
von Roman Bleistein SJ

LeerDie Frage nach der christlichen Kultur der Beziehungen drängt sich aus zwei Gründen auf: aus der Glaubwürdigkeit eines Glaubens, der in Gemeinde lebt und in Gemeinde erfahren wird - und aus den Erwartungen eines modernen Menschen, bei dem die Beziehungsfähigkeit und die Geborgenheit hoch im Rang stehen. Die deshalb notwendige Frage wird in ihrer Beantwortung an das Neue Testament verwiesen; denn in ihm spiegelt sich nicht nur das Leben der ersten Christen, sondern dort finden auch die Erwartungen Jesu ihren Niederschlag, wie er sie an seine Jünger richtete, gemäß dem glaubwürdigen Vorbild seines Lebens.

LeerDie biblischen Reflexionen sollen in vier Gängen vorgetragen werden, die in je unterschiedlichen Ansätzen immer wieder einer christlichen Kultur der Beziehungen nachgehen.

1. Urkirchenromantik

LeerDer Zugang zu den biblischen Aussagen in unserer Frage wird oft dadurch erschwert, daß die Aussage Jesu ausschließlich durch die Brille von Berichten über die erste christliche Gemeinde in Jerusalem wahrgenommen wird. Diese in Apostelgeschichte 2,43-47 übermittelte Beschreibung spricht davon, daß jene, die gläubig geworden waren, eine Gemeinschaft bildeten und alles gemeinsam hatten (Urkommunismus der Christen), daß sie ihr Hab und Gut verkauften, daß sie einmütig im Gebet verharrten, daß sie miteinander das Mahl in „Freude und Einfalt des Herzens” hielten, daß sie Gott lobten und beim ganzen Volke beliebt waren. Diese Äußerungen werden von vielen als einzige und authentische Beschreibung der Beziehungssituation in der Urgemeinde absolut gesetzt und dazu noch harmonisierend verklärt.

LeerAlle übrigen Berichte über Konflikte und Spannungen, Auseinandersetzungen und Drohungen - etwa auch von Seiten des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth (vgl. 1. Kor 5,ff.) - werden ausgeblendet und bereits einem früh einsetzenden Verfall des Christentums zugeschrieben. Auf diese Weise kommt eine „Urkirchenromantik” zustande, die kirchengeschichtlich falsch ist, die einen kirchlichen Illusionismus hervorbringt und einen moralischen Rigorismus fördert. Ludwig Hertling sagt zu diesem Problem: „Verständnisvolles Einfühlen ist für die Kenntnis des Urchristentums berechtigt und notwendig. Nur darf es nicht in Übertreibung und falsche Idealisierung ausarten. Solche übertreibende Urchristentums-Romantik hat es schon in früheren Zeiten gegeben” (L. Hertling, Urkirchenromantik, in StdZ 160, S. 321).

Linie

LeerAufgrund solcher verzerrter Maßstäbe muß dann jede konkrete Gemeindeerfahrung einen Christen unbefriedigt lassen. Ein Ideal, das soweit weg von jeder historischen Wirklichkeit liegt, kann keine echten Impulse geben. Im Gegenteil: es entmutigt. Wenn man sich schon „Kirchenträumen” hingeben will, so sollten sich in ihnen auch jene Tagesreste auswirken, die in der Realität einer Gemeinde gewonnen oder sogar erlitten wurden. Dort gibt es gewiß Harmonie und Erfahrung von Geborgenheit; es gibt aber ebenso Konflikte und zuweilen eine ebenso gnadenlose wie unverständliche Rivalität. Diese bedauerliche Tatsache mag auch die Folge einer fehlenden Beziehungskultur sein. Gerade angesichts von Konflikten sind jene Beziehungen herausgefordert, die mit Begriffen wie Begegnung und Versöhnung, Duldsamkeit und Gelassenheit umschrieben werden. Es ist doch so, daß sich die Kultur von Beziehungen erst im Grenzfall, also in ihrer Belastung, als tragfähig und gemeinschaftsfördernd erweist.

LeerSomit kann die Urkirchenromantik nur zu einer Flucht in eine realitätsferne Idylle ermutigen und ist deshalb für einen modernen Christen und für eine christliche Gemeinde im besonderen kontraproduktiv.

2. Das neue Gebot

LeerIm neuen Testament spiegelt sich nicht nur das Leben der ersten christlichen Gemeinde. Es drückt sich darin vor allem die Erfahrung der Jünger im Umgang mit Jesus aus - und darin besonders die Erfahrung der Passion und der Auferstehung Jesu. Von beidem sind sie zutiefst betroffen. Beides gibt ihnen zu denken. Gerade diese einmalige Heilstat, daß der Messias für sein Volk stirbt, daß der Menschensohn nichts anderes mehr „als ein Wurm” ist, daß der Sohn Gottes das Kreuz trägt, daß jenseits des Todes die Auferstehung liegt und darin ein neues Leben garantiert - gerade diese einmalige Erfahrung schlägt sich im „neuen Gebot” nieder. Jesus sagte - wie Joh 13,34 berichtet -: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.” Dieser einfache, folgenreiche Satz bringt einige Probleme mit sich.

LeerEin erstes Problem: Inwiefern ist dieses Gebot ein „neues Gebot”? Es ist insoweit neu, als es das Doppelgebot des Alten Bundes (Dt 6,5; Lev 19,18) überwindet, das fordert: Gott radikal zu lieben „und den anderen wie sich selbst”. Das Doppelgebot gibt für die Gottesliebe den Maßstab der Radikalität „aus ganzem Herzen” - und für die Nächstenliebe den Maßstab der geordneten Selbstliebe. Bezugspunkt der Liebe ist dann jene Annahme seiner selbst, die zumindest psychologisch und im Blick auf eine mögliche Lebensreifung immer die Basis jeder Beziehung zu anderen ist und bleiben wird -und dies wird mit der Struktur der sogen. „Goldenen Regel” (Mt 7,12), nur noch intensiver bestätigt.

LeerObgleich Jesus weitgehend innerhalb der sittlichen Tradition des Alten Testaments bleibt, deutet sich doch in seinem Verhalten zu den Jüngern und zu den Mitmenschen eine neue Auffassung an; denn er überschreitet ungerechte Sitten und Gewohnheiten (vgl. sein Umgang mit Frauen, seine Begegnung mit Kranken, seine Hinwendung zu Sündern, Dirnen und Zöllnern). Er spricht auch in seinen Gleichnissen von anderen sittlichen Motiven und Zielen in der Begegnung, man vergleiche nur Lk 15 mit seinen Gleichnissen über das Verlorene. Welche herzliche und vielfältige Kommunikation wird dort unterstellt!

Linie

LeerEin zweites Problem: Das Liebesgebot Jesu, wie es Johannes formuliert, ist radikal und deshalb universal. Es ist radikal, weil es zum Maßstab die Maßlosigkeit der Liebe Jesu nimmt. Jener heilschaffende Mann aus Nazareth liebt uns - nach den Worten der Bibel - „obgleich wir Sünder waren”, „er liebte uns bis zum Letzten”, er liebte uns wie „Freunde”, er „gab das Zeichen der größeren Liebe, die für die Freunde das Leben hingibt”. Die geöffnete Seite Jesu am Kreuz ist das große Symbol dieser radikalen Liebe. Frühere Zeiten verehrten im Herz-Jesu diese einmalige Liebe Jesu.

LeerEine Radikalität der Liebe nun, die nicht auch universal wäre, wäre ein Widerspruch in sich. Deshalb ist das Liebesgebot der Christen nicht begrenzbar auf diese oder jene Gruppe oder Rasse oder ... Der Jude hatte nur das Mitglied des Volkes Israel zu lieben, die anderen waren die Gojim, die er geringschätzen durfte (Lev 19,18). Daß ein Christ alle zu lieben hat, wird im Gleichnis vom barmherzigen Samariter offenbar (Lk 10,25-37). Denn nicht ich bestimme, wer mein Nächster wird und ist, sondern der Notleidende, der unter die Räuber gefallen ist, wählt mich, bestimmt mich, beruft mich (passivisch) zu seinem Nächsten. Dieses Gleichnis enthält anschaulich das „neue Gebot”. Dieses ist unbegrenzbar. Und daß ein solches Liebesverständnis dann auch und sogar zur Feindesliebe fortschreitet, bringt die Radikalität nur in ihrer letzten Konsequenz zum Ausdruck, wie schwer dieses Gebot auch zu erfüllen sein mag.

LeerEin drittes Problem: Wie wird denn eine solche Liebe konkret? Gerade etwa im Verzeihen. „Nicht sieben mal, sondern sieben-und-siebzig mal”. (Mt 18,22) Diese Worte Jesu an seinen Apostel Petrus beweisen die These von der Maßlosigkeit jener Liebe, die das „neue Gebot” heißt. Und was baut eher die immer wieder gefährdete Beziehung auf als jenes Wagnis des immer neuen Verzeihens?

LeerIm übrigen ergibt sich aus einer Reflexion auf das Wesen des christlichen Glaubens, der als lebendige Beziehung zu Jesus Christus begriffen wird (und nicht als abstrakte Gnadentatsache), daß der Vollzug dieses Glaubens notwendigerweise auf ganzmenschliche Beziehung hin angelegt ist. Die transzendentale, mystische Beziehung zu Jesus legt sich in historischer Realität in der Liebe zu allen aus. Daraus ergibt sich: Glaube und Gemeinde gehören zusammen. Glaube gewinnt Gestalt in Liebe. Die Frage „Bin ich denn der Hüter meines Bruders?” (Gen 4,9) ist vorchristlich; denn der Christ ist nur denkbar als Mitchrist und kann nur unter Brüdern und Schwestern leben. Daraus läßt sich ableiten, daß der auf seine Vereinzelung bestehende Christ eine Defizit-Form des Christen darstellt.

LeerDiese Sicht des Neuen Gebots wird in ihrer grenzenlosen Radikalität noch einmal vertieft durch das Gerichtsgleichnis bei Matthäus (Mt 25,31-46). Jeder in Not ist dein Nächster - das ist die Aussage des Gleichnisses. Und die Begründung heißt: Jeder Nächste ist in mystischer Weise Christus selbst. Damit ereignet sich in der Erfüllung des „neuen Gebots” zugleich eine Christusbegegnung. Und damit besteht die „Kultur” einer christlichen Beziehung darin, daß sie wesenhaft die Christusbeziehung mitmeint und mitenthält, daß sie also eine spirituell-geistliche Kultur ist.

Linie

LeerWer von solchen Herausforderungen eines „neuen Gebots” redet, muß mit dem Vorwurf rechnen, auch diese Vorstellungen seien „Romantik”. Nicht bestritten werden kann, daß der durchschnittliche Christ hinter dem Anspruch der Botschaft Jesu Christi zurückbleibt. Deshalb ist die Ethik Jesu noch lange keine Ethik besonders begabter einzelner; denn wer die menschliche Liebe in sich versteht, wer sie authentisch erfahren hat, weiß, daß sie eben nicht zählt und daß sie dort, wo sie zählt, bereits gestorben ist. Jesu Forderung greift also nur eine tiefe Sehnsucht des Menschen auf. Und Delp hätte wieder einmal Recht, wenn er schreibt: Wer Mensch bleiben will, muß Christ werden.

LeerTrotz dieser humanen Vermittelbarkeit bleibt das neue Gebot immer wieder eine Herausforderung. Diese macht aber den Kern jeder christlichen Kultur von Beziehungen aus, sowohl im Ziel, wie im Motiv, wie in der Qualität der Beziehungen.

LeerUm von einer anderen Seite her noch einmal die Eingründung dieser christlichen Liebesethik in Menschlichkeit zu unterstreichen, sei noch einmal auf dieses „lieben wie dich selbst” zurückgekommen. Andere zu lieben, lernt man gewiß nur, indem man geliebt wurde, indem man erfuhr, wie beglückend es ist, von sich wegzugehen. Diesen Mut, dieses Risiko, dieses Wagnis wird man nur eingehen, wenn man sich selbst hat, wenn man seine Identität gefunden hat.

LeerDiese wird nur gefunden und festgehalten, indem man sich liebt. Wer sich haßt, kann sich nicht weggeben. Er würde sich nämlich fürchten, ganz zerstört zu werden. Aus dieser Einsicht resultiert: Die Basis des „neuen Gebots” ist das „alte Gebot”: sich zu lieben. Aus der wohlverstandenen, d. h. nicht narzißtischen Selbstliebe, blüht Liebe auf, kann Liebe im Sinne des neuen Gebotes werden, mit Hilfe des liebenden Gottes selbst. Wir nennen diese Hilfe versachlicht „Gnade”.

3. Die Koinonia-Ethik

LeerAus dem „neuen Gebot” ergibt sich die Vorrangigkeit des Nächsten. Auf dieser Grundlage muß nun weitergefragt werden, welche Gestalt dieses Gebot in der Dimension der christlichen Gemeinde annimmt. In dieser Gemeinde soll in sozialer Dimension greifbar werden, wie das Heil in Jesus Christus zwischenmenschliche Beziehungen aufbaut und verändert. Damit wird neben den drei Wesensbestimmungen einer christlichen Gemeinde - der martyria, der liturgia und der diakonia - eine vierte sichtbar: die koinonia.

LeerWie setzt sich diese vierte Eigenart einer Gemeinde in nähere Zielvorstellungen um? Gibt es so etwas wie eine Koinonia-Ethik? Es gibt sie gewiß. Bei Paulus ist koinonia die „Bezeichnung für verschiedene Gemeinschaftsverhältnisse, die durch gemeinsames Anteilhaben entstehen und sich als (wechselseitiges) Anteilgeben und Anteilnehmen darstellen” (Josef Hainz, Koinonia, in: Exegetisches Wörterblich zum Neuen Testament II. Stuttgart 1981, S. 751). Begründet wird diese koinonia von Jesus Christus selbst: Er gibt Gemeinschaft in „der Eucharistie mit anderen Mahlteilnehmern” (1 Kor 10,16), er führt in die „Gemeinschaft mit seinem Leiden” (Phil 3,10), „Sie erlaubt dem Apostel, Mitgefühl und Erbarmen zu postulieren als Erweise dieser Gemeinschaft (Phil 2,1)” (Hainz, ebd. S. 751).

Linie

LeerEs verwundert nicht wenig, daß diese Aspekte einer paulinischen Kirchentheologie bisher so selten in die theologische Diskussion um die christliche Gemeinde eingebracht wurden. Josef Hainz erkennt in der koinonia ein Prinzip „des wechselseitigen Anteil-Gebens und Anteil-Nehmens zum Zwecke des gemeinsamen Anteil-Habens an allen Gütern” (Josef Hainz, Ekklesia. Strukturen paulinischer Gemeinde-Theologie und Gemeinde-Ordnung. Regensburg 1972; S. 245, vgl. Gal 6,6). Er hält dieses Prinzip auch für einen Schlüssel „des Zueinander von Amt und Gemeinde”.

LeerAus diesen exegetischen Einsichten läßt sich auf ein ethisches Verhalten schließen. Deshalb soll der Versuch unternommen werden, im Blick auf konkrete Situationen eine solche Koinonia-Ethik zu entfalten. Sie wird aufgebaut in den folgenden Polaritäten: zwischen einzelnem und Gemeinschaft, zwischen Geschwisterlichkeit und Amt, zwischen Orthodoxie und Orthopraxie (d. h. zwischen Glauben und Tun des Glaubens), zwischen Ehre Gottes und sozialer Gerechtigkeit. Gerade in diesen vier Polaritäten scheint auf, daß die Verwirklichung einer solchen Ethik, die auf die Einheit der Kirche und damit auf die Glaubwürdigkeit der christlichen Gemeinde abzielt, Schwierigkeiten mit sich bringen wird. Diese ergeben sich strukturell.

LeerZwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft kann es eigentlich zu keinen Konflikten kommen, wenn die Identität des einzelnen Christen voll in der Gemeinde aufgehoben ist. Was aber, wenn der einzelne prophetisch der Zeit vorausgeeilt ist? Was aber, wenn der einzelne - aus welchen Gründen auch immer - einer fortschrittlichen Entwicklung nicht folgen kann? Werden die damit auftauchenden Probleme durch Ausschluß oder Diskriminierung von Seiten der Gemeinde geahndet? Riskiert der einzelne, die Gemeinde in Gruppen zu spalten, sie durch innere Zwietracht um ihre öffentliche Glaubwürdigkeit zu bringen? Welchen Wert haben in einer solchen Situation Geduld, Gelassenheit, Gesprächsbereitschaft, Toleranz? Oder rangiert die Ausgrenzungsbemühung vor der Liebe?

LeerEin zweiter Spannungsbogen ergibt sich zwischen der Geschwisterlichkeit und dem Amt, verstanden als Amtsträger. Das Wort von der Geschwisterlichkeit (P. M. Zulehner, Das Gottesgerücht, Düsseldorf 1987; S. 66ff.) meint, - wenn man alle irrealen Erwartungen an eine lebensferne Harmonie abzieht - die Gleichwertigkeit der Geschlechter in der Gemeinde. Sie ist weithin noch eine unerfüllte Zielvorstellung, vor allem wenn man den Umgang miteinander betrachtet. Eigentlich sollte es im Herrn „weder Mann noch Frau” geben. Tatsächlich gibt es Elemente von geschlechtsbedingter Überwertigkeit und es gibt Erfahrungen, für geringer gehalten zu werden.

LeerDiese Problematik gewinnt eine besondere Schärfe angesichts des Amtes und seiner einheitsverpflichtenden Leitungsfunktion. Wie stellen sich Amtsträger auf jene geschwisterliche Gemeinde ein, die sie in den meisten Vollzügen der Gemeinde selbst wieder umfängt, und welchen Umgang haben sie mit Mann und Frau in der Gemeinde? Daß es dabei Spannungen, Projektionen, unbewältigte Kindheiten und Reifezeiten, verdrängte Sexualität, lavierende Macht gibt, ist jedem bekannt. Nur - wie geht man damit um? Es gibt hierbei Offenheit (nicht plumpe Vertraulichkeit), Verantwortlichkeit (nicht Bevormundung), Sorge (nicht spitzfindige Gängelei), geistliches Geleit (nicht frömmelndes Moralisieren). In diesen unterschiedlichen Einstellungen äußert sich jener Blick auf die Fülle der Gemeinde, die im Heiligen Geist angezielt wird.

Linie

LeerDie dritte Spannung wirft sich auf zwischen Orthopraxie und Orthodoxie - eine Spannung, die heute noch einmal durch die Generationenspannung überlagert wird. Ist im Hinblick auf den einen Dienst der Gemeinde tragbar, daß der eine mehr vom Glauben weiß, daß ein zweiter das Wenige, daß er weiß, glaubwürdiger vollzieht, daß ein dritter kaum etwas vom Glauben weiß, aber sich sozial und zwischenmenschlich (anonym) christlich bewährt, daß ein vierter in allem noch am Anfang steht - im Glauben und im Tun des Glaubens, daß ein fünfter im Wissen und Tun des Glaubens erstarrt ist, so daß ihn nichts mehr von seinen Standpunkten wegbewegen kann? Läßt sich dies alles - wenn auch schmerzlich - mit der Geduld Gottes auf Einheit hinführen? Oder hilft nur eine fanatische Uniformität weiter - mit allen Verleumdungen, Rücksichtslosigkeiten und Härten? „Einer trage des anderen Last” (Gal 6,6): Dieses Wort hat doch gewiß etwas mit der Kultur zwischenmenschlicher Beziehungen zu tun!

LeerEndlich gibt es eine Spannung zwischen der Ehre Gottes und sozialer Gerechtigkeit. Natürlich ist für einen Christen das eine nicht ohne das andere zu denken. Aber im konkreten Alltag scheint die Anbetung Gottes verloren zu gehen. Und manchem Aktiven scheint im Gebet die Tatkraft des Christen idyllisch zu verenden. Stimmt es, was Karl Rahner sagt, daß auch das Gebet eine Tat sei? Und daß es für den in der Tat Gläubigen eine sozial relevante Tat ist? Frage: Ist hier jede von den beiden möglichen Gruppierungen geistlich so sensibel, die soziale Dimension des Gebetes und die spirituelle Situation des sozialen Engagements zu realisieren? Und das Lassen des einen wie das Tun des anderen gleichwertig auf das Konto der einen Gemeinde zu schreiben - ohne deshalb in der Beliebigkeit eines Einerlei zu enden? Gibt es die Gabe der Unterscheidung? Das Leben aus dem Heiligen Geist? Die Liebe, die kämpfen kann, wo Kampf nötig ist, und die sich dort vornehm zurücknehmen kann, wo sie das scheinbare Unlösbare dem Herrn der Gemeinde, Christus selbst, zu überlassen fähig ist?

LeerMancher wird fragen, wie ist angesichts dieser Polaritäten noch eine Koinonia-Ethik möglich? Um die Prinzipien im bisher Ausgeführten herauszuarbeiten, sei festgehalten:

a) Die Koinonia-Ethik strebt die christliche Fülle an und darin die Einheit der Gemeinde; denn sie bringt Glaubwürdigkeit vor der Welt und Geborgenheit nach innen hervor.
b) Die Koinonia-Ethik setzt menschliche Reife, Kommunikationsfähigkeit und Frustrationstoleranz voraus; denn die christliche Tugend ist immer in menschliche Reifung eingesenkt.
c) Die Koinonia-Ethik gelingt nur im Vertrauen auf den Herrn der Gemeinde, auf Jesus Christus; denn er gibt seinen Geist in die Vielfalt in der Einheit hinein: als Garant der Vielfalt (denn: „er weht, wo er will”) und als Garant der Einheit (denn: „der Herr ist der Geist”).
d) Die Koinonia-Ethik wird greifbar in den Früchten des Heiligen Geistes, wie sie der Apostel Paulus im Brief an die Galater nennt: „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung” (Gal 5,23). Zu beachten ist, daß Freude an zweiter Stelle steht. Ich bin gewiß, daß die Freude - nach der Liebe - am meisten zur Kultur der Beziehungen in der Gemeinde beiträgt; denn sie macht das Schwere leichter und verbindet die Getrennten.

Linie

LeerUm am Ende noch einmal auf die Koinonia-Theologie des Paulus zurückzukommen, sei seine Ermahnung an die Philipper zitiert: „Wenn es also Ermahnung in Christus gibt, Zuspruch aus Liebe, eine Gemeinschaft (koinonia!) des Geistes, herzliche Zuneigung und Erbarmen, dann macht meine Freude dadurch vollkommen, daß ihr eines Sinnes seid, einander in Liebe verbunden, einmütig und einträchtig, daß ihr nichts aus Ehrgeiz und nichts aus Prahlerei tut. Sondern in Demut schätze einer den anderen höher ein als sich selbst. Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen. Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Jesus Christus entspricht” (Phil 2,1-5). Und dann folgt der große Christushymnus. Am Ende mündet diese Ethik wieder in der einmaligen Gemeinschaft mit dem Jesus, dem Christen alles schulden.

4. Die großen Bilder im Neuen Testament

LeerDie Gemeinde wird in der Bibel in unterschiedlichen Bildern zum Ausdruck gebracht. Diese Bilder beinhalten jeweils Beziehungen und greifen dadurch immer auf konkrete menschliche Erfahrungen zurück. Nur insoweit solche Erfahrungen gemacht wurden, sind die Bilder dann in ihrem geistlichen Gehalt und Anspruch realisierbar. Im folgenden sollen die einzelnen großen Bilder nur angedeutet und in ihrer je andersgearteten Beziehungsbeeinflussung aufgewiesen werden.

a) Hirt und Herde (Joh 10,11-17)

LeerDas Wort vom „guten Hirten” steht im Kontext der orientalischen Führungsidee (Gustav E. Closen, Wege in die Heilige Schrift, Regensburg 21955, S. 193, 196) und zieht sich durch die ganze Bibel und drückt damit Herrschaft aus. Jesus verwendet das Bild in der Absicht, sich als „guten Hirten” herauszustellen, der die Herde führt, verteidigt und in den einen Schafstall rettet. Es wird ausdrücklich gesagt, er kenne die Schafe und die Schafe kennen ihn. Die Beziehungsstruktur ist allein direktiv zur Führung, aber nicht kommunikativ unter der Herde. Ein Bild, das gerade oft von der Kirche für ihre Führungsautorität reklamiert wurde.

b) Der Weinstock (Joh 15,1-8)

LeerIn diesem Bild wird von Jesus herausgehoben, daß wir ohne ihn - auf unser Heil hin - nichts tun können und daß alle Reben in gleicher Weise aus ihm leben. Darin unterscheiden sie sich nicht. Es werden also alle „Positionen” eingeebnet. Alle Reben sind auf den Weinstock bezogen, der sie trägt und durchlebt. Damit wird eine lebensspendende Gemeinsamkeit herausgestellt. Es wird der „ekklesiale Atheismus” herausgestellt.

c) Freunde (Joh 15,14-17)

LeerJesus nennt seine Jünger Freunde. Er streicht ausdrücklich das Wort vom „Knecht” als fortan aufgrund seiner Liebe unberechtigt aus dem christlichen Wortschatz. Freunde, für die er alles gibt und die zueinander in der Liebe sein sollen, wie er sie liebt. Freunde also auch untereinander. Was wäre eine Freundschaftsstruktur in der Gemeinde?

d) Leib (l Kor 12,12-31)

LeerDieses differenzierte Bild des Apostels Paulus hebt vielerlei heraus: den Blick auf das eine Ganze in Überwindung des Egoismus des einzelnen Gliedes, die Bedeutung auch des Kleinsten für das große Ganze. Alle aber sind „der Leib Christi”. Bei aller Bedeutung der Einzelexistenz ermutigt der Apostel am Ende zum Streben nach den „höheren Gnadengaben”. Und so schließt sich an: das Hohe Lied der Liebe (1 Kor 13,1 ff.). Damit wären wir wieder bei jener ersten Überlegung, die uns in das „neue Gebot” einführte. Wer könnte daran zweifeln, daß die Liebe alle Beziehungen trägt und daß eine Kultur der Beziehung nur insoweit gelingt, als eine Kultur der Liebe entsteht!

LeerEin weiteres großes Bild wäre das „Volk Gottes”. Damit wird sowohl der Zusammenhang zum alten, auserwählten Israel ausgedrückt, wie auf die Wanderschaft des pilgernden Volkes Gottes hingewiesen. Das Miteinander steht auch dabei wieder unübersehbar im Vordergrund: die communio (die Gemeinschaft).

LeerAbschließend (P. M. Zulehner, Helft den Menschen leben. Für ein neues Klima in der Pastoral. Freiburg 1978; S. 44-45, S. 74-78) wäre noch zu sagen, man könnte auch eine Begründung von Beziehungen und ihrer Kultur aus den Seligpreisungen und aus der Bergpredigt überhaupt entwickeln. Dann stünden sie im Kontext des Reiches Gottes und in einer endzeitlichen Perspektive; denn das Prinzip der Seligpreisungen ist ja der Vorgriff in die Vollendung. Also: Weil ich bin, was ich hoffe, kann (oder könnte?) sich in meiner Art des Umgangs und der Begegnung mit anderen eine neue, andere Welt spiegeln: das Reich Gottes.

Quatember 1989. S. 125-133

Vortrag auf dem Kommunitätentreffen in Gnadenthal 1989

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-23
Haftungsausschluss
TOP