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Christliche Spiritualität und Arbeitswelt
Zwei Modellprojekte aus Großbritannien
von Christian Hohmann und Sigrid Rother

LeerInnerhalb unserer Kirchen erfahren wir das mangelnde Interesse und die fehlende Offenheit für die Lebenssituation von Industriearbeitern und Arbeitslosen. Soziologisch gesehen gelingt die Einbeziehung der sogenannten „Arbeiterschaft” in den Raum der Kirche nur sehr bedingt. In der Regel bleiben sich Kirche und Arbeitswelt einander fremd.

LeerDiese Problematik beschäftigte Ende der 30er Jahre in der schottischen Industriestadt Glasgow und Anfang der 70er Jahre Christen in der damals noch weltbekannten mittelenglischen Stahlstadt Sheffield. Unabhängig voneinander suchten diese Christen eine Synthese zu schaffen zwischen christlicher Spiritualität und Arbeitswelt: D. h. für beide Gruppen eine intensive Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen in der Arbeitswelt und das Bemühen um eine gemeinsam mit Arbeitern und Arbeitslosen gelebte christliche Existenz.

LeerDas Ergebnis dieses Bemühens sind die beiden Gemeinschaftsprojekte, die nun vorgestellt werden:

I. Die lona-Community

1. Die Insel lona

LeerWenn man mit dem Zug Glasgow in Richtung Nordwesten verläßt, eröffnet sich einem das weite, fast noch unberührte Hochland Schottlands mit seinen zahlreichen tiefblauen Seen. In der kleinen Hafenstadt Oban angekommen, betritt man nun das Fährschiff und erreicht schließlich nach einer längeren Fahrt durch die Inselwelt der westschottischen Küste die Insel lona, die ganz unscheinbar am Horizont auftaucht. Schon von weitem erkennt man die Umrisse der alten Benediktinerabtei. Sie ist umgeben von den hügeligen saftgrünen Schafweiden. In der Nachbarschaft liegt eine Häuserzeile am Fischerhafen.

2. Geschichte und Anliegen

LeerBereits im 6. Jahrhundert landete hier der iroschottische Mönch Kolumban mit zwölf Mitbrüdern aus Irland kommend. Er begründete damals das spirituelle Leben auf dieser Insel.

LeerEs erfuhr dann 1938 eine Art „Neuauflage”, als der reformierte Glasgower Pfarrer Dr. George MacLeod sich mit einer Gruppe von Pfarrern und Arbeitern auf die Insel begab, um dort eine Bruderschaft zu gründen. Was hatte ihn dazu bewegen, seinen Pfarrberuf aufzugeben und zunächst selbst als Arbeiter zu leben? Einmal waren es die vielfältigen und bedrückenden sozialen Probleme einer Industriestadt, die sich damals durch die weltweite Wirtschaftskrise noch zusätzlich verschlimmerten, wie er sie in Glasgow erleben mußte. Vor allem aber ließ es ihm keine Ruhe, daß die etablierten Kirchen ohne konkrete Hilfe und ohne eine angemessene Reaktion den Menschen dieser Stadt begegneten.

LeerEs war also keine Weltflucht, die ihn nach lona brachte; sondern zunächst der Wunsch, einen Ort zu finden, an dem es möglich sein sollte, daß Arbeiter und Pfarrer im unmittelbaren Zusammenleben mehr voneinander erfahren und lernen: Sowohl auf dem Baugerüst beim Wiederaufbau der Abtei, der nicht nur einen praktischen Zweck erfüllte, sondern auch eine symbolische Bedeutung bekam, als auch beim täglichen Morgen- und Abendgebet. Vor dem Hintergrund der gemeinsam geleisteten Arbeit diskutierten sie ihre Probleme: Die Handwerker forderten die Geistlichen heraus, über die altertümliche Sprache im Gottesdienst nachzudenken und sie zu erneuern; gleichzeitig zeigten sie ihnen, wie wenig sie als Seelsorger über die Probleme in der Industriearbeit Bescheid wußten. Die Pfarrer forderten ihrerseits die Arbeiter mit den Gebetszeiten heraus.

LeerGemeinsam suchten sie nach ihren konkreten Aufgaben, welche sie in den Industriebetrieben und allgemein in den schottischen Städten zu übernehmen hätten. So wurde lona zum Ausgangspunkt für ihre eigentliche Aufgabe in den Städten Schottlands, in die sie bald wieder zurückkehrten. Diese Funktion hat lona für die Community bis heute behalten.

3. Der ökumenische Kontext

LeerDie Community versteht sich als eine ökumenische Gemeinschaft. Ihre Mitglieder, Frauen und Männer, zumeist verheiratet, gehören verschiedenen Kirchen an und leben auch außerhalb Schottlands in den Staaten des Commonwealth und in den USA. Die meisten Mitglieder leben und arbeiten auf dem Festland. Auf der Insel selbst lebt eine kleine ständige Gemeinschaft, die Gäste aufnimmt und ganzjährig Kurse für christliche Gruppen anbietet.

LeerDie Community gehört zur Church of Scotland und ist von deren presbyterial-synodaler Tradition geprägt. Deshalb wird das Laienamt in der Community bewußt praktiziert. Die Laien sind es vor allem, die die Gottesdienste, welche den Tagesrhythmus bestimmen, im Wechsel mit der Arbeit gestalten und leiten.

4. Die Menschwerdung Gottes als theologische Basis

LeerDer christliche Glaube beginnt mit der Inkarnation, daß das Wort Gottes Fleisch wurde. Weil Gott in der Person Jesu Christi Mensch wurde, um sich um die Ganzheit menschlichen Lebens zu kümmern, ist es im Selbstverständnis der Community nicht möglich, zwischen der spirituellen und materiellen Welt zu trennen. Für sie bedeutet die Nachfolge Jesu, daß wir unser Leben nur in seiner Ganzheit, ohne dabei einen Teil abzutrennen, den wir „Religion” nennen, einbringen können, um Christus zu gehorchen.

5. Die Verpflichtung

LeerDieses Anliegen manifestiert sich in einer Verpflichtung, die von allen Mitgliedern der Community angenommen wird. Sie richtet sich gegen einen oft verbreiteten christlichen Subjektivismus, indem sie die Mitglieder zu folgenden Aufgaben verpflichtet: Das missionarische Bekenntnis zur Gegenwart Gottes in unserer Welt, die Wiederherstellung zerrütteter Verhältnisse (beispielsweise in Nordirland, in Glasgow oder in Südafrika), insbesondere das „Heilen” von Kranken im umfassenden Sinn des Wortes, die Übernahme politischer Aufgaben und die regelmäßige tägliche Gottesdienstfeier. Ihr Hauptanliegen in den Industriestädten Schottlands ist das Bemühen, Arbeit wieder zu einem sinnvollen Teil menschenwürdigen Lebens werden zu lassen.

LeerDabei ist es ihr Wunsch, die Entfremdung des alltäglichen Lebens vom Gottesdienst aufzuheben und seine sakramentale Dimension wiederzugewinnen.

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II. Die Sheffielder URBAN THEOLOGY UNIT (U.T.U.)

1 Die Stadt als ungewohntes Arbeitsfeld der theologischen Reflexion

LeerDie Sheffielder U.T.U. (dt. „Städtische theologische Einheit”) ist ein Modellversuch, christliche Spiritualität in bezug zur Arbeitswelt und in Auseinandersetzung mit den Problemen einer Industriestadt zu bringen. Bis vor zwanzig Jahren boten die Schwerindustrie und der Bergbau den meisten Bewohnern Sheffields Arbeitsmöglichkeiten. Neue Siedlungen und Hochhausghettos wurden gebaut. Viele der hier Beschäftigten kamen aus den Staaten des Commonwealth. Heute stehen die Stahlwerke still, viele der riesigen Werkshallen verfallen. Infolgedessen beträgt die durchschnittliche Arbeitslosigkeit bereits 20-30%, in einigen Stadtteilen sogar bis zu 70%. In diesem Kontext gründete 1972 Dr. John Vincent, methodistischer Pfarrer in Pitsmoor, einem typischen Arbeiterviertel der Stadt, die U.T.U. als ein Studienhaus, um dort in ökumenischen Kursen über „Nachfolge und Theologie in der Stadt” arbeiten zu können. Es ist ein normales zweistöckiges Wohnhaus mit Garten, das an einer ruhigen Straße mit, „multinationaler” Nachbarschaft liegt. Im ausgebauten Keller, ebenso im Erdgeschoß befindet sich die Bibliothek. Das Wohnzimmer dient als Seminar- und Begegnungsraum. Im ersten Stock wohnen Studenten.

2 Das Grundanliegen der U.T.U.

LeerHier ist jeder eingeladen - unabhängig von Alter, Konfessionszugehörigkeit, Nationalität und Bildungsstand - theoretisch und praktisch daran zu arbeiten, was Nachfolge Jesu im Kontext einer postindustriellen Gesellschaft bedeutet. Das Motto heißt: „Mission alongside the poor” (dt. „Mission”, d. h. meine Sendung an der Seite der sozial Benachteiligten zu entdecken; d. h. auch, wie kann ich zusammen mit ihnen leben und von ihnen lernen?). Dieses Anliegen wird in der Hauptsache während des Studienkurses entfaltet. Dieser Kurs beschäftigt sich mit folgenden Themenbereichen:

Leer1. Biblische Nachfolge

LeerDen biblischen Hintergrund des genannten Mottos bilden die Nachfolgeworte Jesu im Markusevangelium und die neutestamentlichen Gleichniserzählungen. Die Exegese dieser Texte zielt darauf, diese mit der jeweils eigenen Situation in einen wechselseitigen Zusammenhang zu bringen.

Leer2. Theologie im Kontext der Industriestadt

LeerDas Hauptanliegen ist: Möglichkeiten gemeinsamen christlichen Lebens unter den sozial Benachteiligten zu entdecken, um zusammen mit ihnen für eine gerechtere Gesellschaft im Zeichen der Nachfolge Jesu einzutreten.

LeerDie gegenseitigen Erfahrungen des Bibelgesprächs werden nun ausgeweitet auf den Kontext der postindustriellen Situation Sheffields, in der viele Menschen ein Randgruppendasein führen. Ihre Lebenssituation wird nun eingehend analysiert als Basis für ein helfendes Engagement, bei dem zusammen mit den Betroffenen nach Möglichkeiten gesucht wird, ihre derzeitige Existenz menschenwürdiger zu gestalten.

LeerHier spürt man das Selbstverständnis einer methodistischen Tradition, die unverkennbar U.T.U. geprägt hat: Das Ziel nämlich, durch überzeugendes, dem göttlichen Willen gemäßes Handeln in jedem Bereich menschlichen Lebens das Reich Gottes auf Erden erkennbar zu machen. Dahinter steht die Überzeugung, daß in Jesus Christus allein Abhilfe für die Nöte der industriellen Gesellschaft, der wirtschaftlichen Verhältnisse und des menschlichen Zusammenlebens zu finden ist.

3. „Sendung” (Mission)

LeerDieses Ziel verwirklichen die Mitglieder der U.T.U., indem sie in kleinen Gemeindeprojekten vor Ort das Leben der benachteiligten Menschen teilen und diesen Möglichkeiten gemeinsamen Lebens eröffnen, beispielsweise im Wohnghetto einer Hochhaussiedlung oder in zumeist von Ausländern bewohnten Siedlungen. Sie verstehen sich dabei als „Jünger Jesu” und laden die Teilnehmer des Studienjahres ein, in ihren Projekten mitzuleben und Arbeiten zu übernehmen. Die Mitglieder der U.T.U. verpflichten sich für ihre Aufgabe weder auf eine gemeinsame Regel noch auf ein Leben in Armut und Ehelosigkeit. Entscheidend ist ihr gemeinsames Ziel, das sie mit Menschen aus der ganzen Ökumene und aus den verschiedenen Kirchen teilen.

4. Gottesdienst im Zeichen gelebter Nachfolge

LeerDen geistlichen Rückhalt für das soziale und theologische Engagement bilden die einfachen, ökumenisch offenen Gottesdienste der U.T.U. mit der Feier des Abendmahls. Der Gottesdienst als Bezeugung des Evangeliums will zugleich Anleitung zur Tat sein. Das zeigen auch die situationsbezogenen Texte und Lieder. Das heißt aber auch, daß nicht nur ausgebildete Theologen, sondern gerade Frauen und Männer als Laien die Gestaltung der Gottesdienste übernehmen.

LeerIn der Heilserfahrung, durch Christus dankbar angenommen zu sein, wissen sich die Mitglieder der U.T.U. von Gott in Anspruch genommen, in der fortschreitenden Schöpfung und Erlösung mitzuwirken als Partner Gottes.

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III. Ein Angebot und eine Einladung

LeerChristliche Spiritualität und theologische Praxis können recht unterschiedliche Formen annehmen. Darin entsprechen sie auch den so vielfältigen Herausforderungen der Welt und den Nöten der Menschen in ihr. Die lona Community und U.T.U. in Sheffield sind zwei lebendige Beispiele dafür. Erstere bietet eine gelungene Synthese von einem auf den Gemeindealltag bezogenen gemeinsamen Leben und einer konkreten Verantwortung für die Anliegen der Welt, die im fürbittenden Gebet aufgenommen werden und im Alltag einer Stadt nachgegangen wird.

LeerU.T.U. versucht eine aus den Nöten einer Stadt entwickelte Theologie zu finden, die nicht dazu gedacht ist, hinter Buchdeckeln zu verschwinden, sondern die ein soziales Engagement verlangt aus dem Bewußtsein, daß die Nachfolge Jesu nie theoretisch gemeint war.

LeerBeide Gemeinschaften haben nicht nur ähnliche Formen in der Spiritualität und Ziele, sondern stehen auch in Kontakt zueinander: Mitglieder der U.T.U. verleben eine gewisse Zeit in lona, und umgekehrt lassen sich die Mitglieder der Community von den Gemeindeerfahrungen der U.T.U. inspirieren.

LeerWer wie wir die Freude hatte, in beiden Gemeinschaften .eine Zeitlang zu leben, sucht bei uns im Kontext der Kirchen in der Bundesrepublik nach Möglichkeiten, diese Erfahrungen in unseren Industriezentren und überhaupt in den Städten fruchtbar werden zu lassen. Dafür wäre es gut, wenn sich auch andere Christen für das Anliegen „Christliche Spiritualität und Arbeitswelt - Als Möglichkeit gemeinsamen Lebens” begeistern lassen würden.

LeerDeshalb seien für interessierte Leser die Adressen beider Gemeinschaften genannt:

1) The lona Community, the Abbey, Isle of lona by Oban, Argyll DA76 6SN, Great Britain

2) Urban Theology Unit, 210 Abbeyfield Road, Sheffield S4 7AZ, Great Britain.

Quatember 1989, S. 164-168

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-23
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