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Frömmigkeit war für viele Theologen ein Fremdwort
von Doreen Bangerter

LeerHans-Joachim Thilo: Frömmigkeit. Aus dem Reichtum der Tradition schöpfen. Kösel, München, 1991, 231 Seiten, 24,80 DM

LeerDas weitreichende Wissen und die menschliche Weisheit eines langen Lebens im Dienste von Kirche und Gesellschaft widerspiegeln sich in diesem kürzlich erschienenen Buch von Hans-Joachim Thilo, nun emeritierter Professor der Pastoralpsychologie und ehemaliger Pastor an der ehrwürdigen Marienkirche in Lübeck. Der schlichte Titel »Frömmigkeit« scheint auf den ersten Blick eher farblos und nichtssagend erst der Untertitel »Aus dem Reichtum der Tradition schöpfen« liefert den Schlüssel zu der unglaublichen Mannigfaltigkeit des Gedanken- und Glaubensgutes, welches in diesem unscheinbaren Band enthalten ist.

LeerThilo stellt gleich zu Anfang fest: »Spiritualität ist gefragt, aber kaum einer weiß, was er sich darunter vorzustellen hat. In uns ist Sehnsucht nach Frömmigkeit, aber das Wort allein läßt viele zurückschrecken.« Mit diesem Buch machen wir uns gemeinsam auf den Weg, das zu suchen, was früher Frömmigkeit genannt wurde, heute als Sehnsucht in uns lebt und sich als Spiritualitiät neu zu äußern beginnt.

LeerDer erste Abschnitt weist auf die Ur-Symbole der Spiritualität - den Weg, den Kreis und das Kreuz.

LeerDer Weg: Die Griechen der Antike wußten noch um die Einheit von Körper, Geist und Seele; die Pilgerwege nach Delphi, Eleusis und Didyma und die Rituale am Heiligtum selbst erfaßten den ganzen Menschen, wie in späteren Jahrhunderten die nach Santiago de Campostella und in unserer Zeit nach Lourdes und Rom. Ist es nicht ein Urbedürfnis des Menschen, »sich auf den Weg zu machen« nach dem ewigen Zuhause, welches hier anschaulich zum Ausdruck gebracht wird?

LeerDer Kreis, der keinen Anfang und kein Ende kennt, ist uns vertraut. Aber wir erkennen ihn weniger rasch als Ausdruck der Frömmigkeit - als Gegenstand der Meditation, als Rosenkranz, als Herzensgebet der Orthodoxie, als Gebetskreis und tiefen Sinn des Kirchenjahres, wo die Kraft und Ausstrahlung der Wiederholung voll zur Geltung kommen.

LeerDas Kreuz in seiner vielfältigen Gestalt (Christuskreuz, Sonnenkreuz, Hakenkreuz bis zum Gabelkreuz) gehört ebenfalls zu den Ursymbolen der Menschheit. Im geistlichen Leben, in der Anbetung (engl. worship) wird es aber zum Gegenstand der Kontemplation, zum Segens- und Schutzzeichen in der Liturgie, Gegenstand der Anbetung auf dem Andachtsweg.

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LeerDie Elemente - Erde, Wasser, Feuer und Luft - als Quellen der Volksfrömmigkeit werden mit zahlreichen Hinweisen aus verschiedenen Kulturen dargestellt und mit Beispielen aus dem Brauchtum belegt; am schönsten im Abschnitt »Feuer« die Darstellung der brennenden Kerze als Licht der Welt, als Symbol des immerwährenden Fürbitte-Gebets, als gerade in unseren Tagen ökumenisch verbindendes Symbol des christlichen Glaubens - bis hin zum kostbaren Sonnengesang des heiligen Franziskus von Assisi.

LeerDer Mißbrauch der kirchlich-liturgischen Formen durch die totalitären Machthaber der Nazizeit wird erwähnt und auf die Gefahr hingewiesen, wohin es führt, wenn sich Christen einer Pseudo-Frömmigkeit öffnen, bloße Formen für sich in Anspruch nehmen und den wahren Hintergrund leugnen.

LeerHoch interessant und unterhaltend ist das Kapitel über ritualistische Frömmigkeitsformen im Hochleistungssport der Gegenwart, der sich aus dem Spiel der Antike entwickelt hat. Dieser kannte das göttliche Prinzip der sich messenden Kräfte des Sieges über das Böse, welches ja der religiöse Hintergrund alles Spielens und Sportes ist.

LeerWesensmerkmale der spiritualen Frömmigkeit. Die Frömmigkeit der Griechen war wesentlich eine Frömmigkeit des Gefühls, wie sie in den Mysterienbräuchen deutlich zum Ausdruck kam. Das Auseinanderklaffen der Theologie unserer Zeit, wo geistliche Erfahrung und Vernunft sich feindlich gegenüber stehen, hätten die Griechen nicht verstanden. Sie suchten vor allem Harmonie und Schönheit, kannten aber die Problematik von Schuld, Sünde und Sühne nicht. Zu der christlichen Frömmigkeit übergehend, stellt Thilo in einer großartigen Weise die Unterschiede zwischen den Traditionen dar: die römisch-katholische Kirche mit der Betonung des sakramentalen Lebens der Gläubigen, der Symbolik in der Liturgie, der transzendentalen Mystik und Verinnerlichung gegenüber der nüchtem-intellektuellen Wortverkündung der Kirchen der Reformation im deutschen und englichen Sprachraum. Von Luther, Zinzendorf, Schleiermacher und Blumhardt reicht die Schau bis zu den Theologen unserer Zeit - Ragaz, Naumann, Bonhoeffer, Albertz und Dorothee Sölle -, die auch politisch-missionarisch tätig waren und sind.

LeerEingehend wird auf die geistlich-liturgische Erneuerung hingewiesen, die von Taizé und der Michaelsbruderschaft mit Kloster Kirchberg ausgeht, und auf die Ausstrahlung der Kommunitäten. Gerade auf den evangelischen Kirchentagen wird neben dem politischen Engagement das Bedürfnis nach Stille, Meditation, Gebet und Sakramentsempfang spürbar.

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LeerIm Schlußkapitel »Gesunde und neurotische Religiösität« kommt der Psychotherapeut so richtig zum Wort; der Fachmann, der die Wunden zu heilen versucht, die in unserer Zeit durch die Massenmedien mit ihrem Idealbild von Supermenschen geschlagen werden, der immer »fit, jung, attraktiv ist, der funktioniert, allen Anforderungen der Berufswelt gewachsen, ständig cool, durch nichts zu erschüttern«. Gerade das alles ist der Christ nicht. Er weiß nur zu gut um seine Schwachheit, Verwundbarkeit, sein Bedürfnis nach Gnade und Vergebung.

LeerDas große Wort von Sigmund Freud wird zitiert: »Der Mensch soll seine Komplexe nicht ausrotten wollen, sondern sich ins Einvernehmen mit ihnen setzen.« Das hat sehr wohl etwas zu tun mit dem »Frieden, den die Welt nicht geben kann«. Thilo geht auf die religiöse Hingabe und allfälliges neurotisches Verhalten ein; was falsch ist an der Gleichsetzung von Glaube und Moral und an der »Überwindung des Leibes«. Weltflucht ist im Grunde das Gegenteil von Frömmigkeit. Weltbewältigung ist gesunder Glaube.

LeerGefahren im »Kinderglauben« und in der »Selbstverwirklichung« werden aufgedeckt. Sich selbst und den Platz in der Gesellschaft zu finden ist unsere Aufgabe. Die Frömmigkeit muß auch der Untersuchung durch die Psychologie standhalten, ob sie reif, frei, liebesfähig macht und von ansteckender Fröhlichkeit ist. Tillich, Barth, Rahner und Küng sind die modemen Theologen, deren Arbeiten mit einbezogen sind.

LeerBei aller Fülle an Informationen, Erläuterungen und Anregungen, die in diesem Buch in reichem Maße angeboten werden, liegt die große Aussage im 5. Kapitel, nämlich mit dem Ruf nach Spiritualität auf der Basis der Regel des heiligen Benedikt von Nursia - ein Weg, der auch für die Laien in der säkularisierten Welt des 20./21. Jahrhunderts gangbar ist wie auch für die Gesellschaft, in der sie leben.

LeerDie von so vielen Menschen ersehnte Einheit der Kirche als Leib Christi wird nie aus einem rein theologisch-akademischen Dialog am Verhandlungstisch erreicht werden, sondem durch erlebte Gemeinschaft mit Christen anderer Traditionen in der Gegenwart unseres Herrn in Wort, Gebet und Sakrament, eine echte ökumenische Spiritualität (engl. spiritual ecumenism) mit Blick auf den Reichtum der Vergangenheit und auf die Fülle der Zukunft.

Quatember 1991, S. 248-250

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-16
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