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Zum 65. Geburtstag von Ulrich Wickert von Jürgen Boeckh |
Auf zahlreichen Bildern der orthodoxen Kirche springt uns ein schwarzes Loch in die Augen. Besonders deutlich ist es auf der Ikone von der »Höllenfahrt Christi« zu sehen, die im Osten Anastasis, Auferstehung genannt wird. Der Übermensch steigt, wie der Renaissance-Christus, unmittelbar aus dem Grabe in die Höhe. So wurde der Sieg über Sünde, Tod und Teufel im Westen uminterpretiert: Auferstehung Christi als Auferstehung in die Geschichte. Auch die Rede vom Überleben der Menschheit gehört dazu; als ob damit das Problem des Todes aus der Welt geschafft würde. Die Geburt in der Höhle wurde im Westen in einen bäuerlichen Stall verwandelt. »Die offizielle Theologie hat sich seit jeher emsig bemüht, das unangenehme fragende dunkle Loch der Welt zuzudecken ... Für den von Hegel kommenden Marxismus existiert es nicht.« (Anm. 1). Am zweiten Pfingstfeiertag sehen wir unterhalb der Apostel den »König Kosmos« auf schwarzem Hintergrund, und auch die »Siebenschläfer« ruhen in einer dunklen Höhle. Vor einigen Jahren war ich auf dem »Heiligen Berg«. So nennen die Griechen - und nicht nur sie - den Athos. In dem Kloster Vatopedion fiel mir besonders ein Fresko im Exonarthex, also der Vorhalle, auf, dessen Motiv mir bis dahin nicht geläufig war. Die Gottesmutter, die auf einem Podest steht, trägt eine nahezu lebensgroße Kerze mit dem Emanuel, der im Feuerschein erscheint. In der anderen Hälfte des Bildes sehen wir die zwölf Apostel in einer dunklen Höhle. Einer der Jünger weint, die meisten blicken erwartungsvoll auf das, was nun kommen mag, und zwei von ihnen weisen auf Jesus Christus. Die Umgebung der Höhle ist kahl, aber neben Maria sprießen Kräuter aus dem Boden, und aus den Baumstümpfen erwachen neue Triebe (ähnlich wie bei Fra Filippos »Anbetung des Kindes«). Oben ist ein Schriftbild mit folgendem Text: Wie eine lichtreiche Fackel, Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes, und unsere Schritte zu lenken auf dem Weg des Friedens. Das Fresko taucht seit dem 14. Jahrhundert auf und breitet sich von Griechenland über den Balkan nach Rußland aus. Aber der dazugehörige Gesang Akathistos ist viel älter. Der Name bedeutet »Ein nicht im Sitzen zu betender Gesang«. Heute wird er im allgemeinen, sagt Kurt Onasch, auf den großen Meloden Romanos (um 560) zurückgeführt. »Der Verfasser überblickte die altkkchliche Dogmengeschichte und benutzte neben den Hymnen vor allem zur Verkündigung der Gottesmutter und der Darstellung Jesu im Tempel auch Apokryphen des Neuen Testamentes. Auf die westliche Mariendichtung hat der Akathistos wahrscheinlich über das Kloster St. Gallen eingewirkt.« (Anm. 2) Diese Zusammenhänge sind - auch bei Theologen - kaum bekannt. In einem zweibändigen Werk über unseren Hymnos (Anm. 3) heißt es: »Im Gegensatz zu den anderen Hymnen, die von den Griechen sitzend ausgeführt und deshalb Kathismata (Anm. 4) genannt werden, wird jenes Loblied zur Jungfrau hymnos akathistos (Anm. 5) genannt weil Cantor, Chor und Volk es stehend darbringen, offenbar aus Ehrfurcht vor dem Geheimnis der Menschwerdung Gottes, das hier besungen wird. Die Botschaft des Engels an Maria war es, welche die Menschwerdung gezeitigt hatte, und deshalb nannte man den Hymnus ursprünglich euangelismos tes hyperagias theotokou (Anm. 6). Das Lied ist ein alphabetisches Akrostichon. (Anm. 7) Die ersten zwölf Stanzen erzählen das Evangelium der Kindheit Jesu; die zwölf letzten besingen das Geheimnis der Inkarnation.« Der Hymnos Akathistos ist eine Weiterführung des »Ave Maria«: »Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir.« Wir können Wilhelm Stählin zustimmen, wenn er sagt: »Das Grußwort des Engels aber heißt zugleich: Freue dich! Denn der Schlag des Lebens entrückt den Menschen aus allem Leid und aller Furcht in den Raum der vollkommenen Freude. Freude ist der Glanz des ganz geheilten und ganz erfüllten Lebens. Freude ist das erste und das letzte Wort der himmlischen Begegnung. Gegrüßet seist du ...« (Anm. 8) ... Aus dem Himmel her trat ein Erzengel in die Welt des Sichtbaren, der Gottesmutter den Freudengruß zu sagen.Diese Paradoxien entsprechen dem, was Martin Luther in seinem Lied »Gelobet seist du, Jesus Christ« gesungen hat: Den aller Welt Kreis nie beschloß,Wenn ich sage, daß Martin Luther dieses Lied gesungen hat, so ist das wörtlich zu verstehen: Bei ihm waren Text und Melodie eine Einheit! Darüber hinaus können wir im Blick auf den Hymnos Akathistos eine Dreiheit feststellen: Gesang, Wort und Bild gehören zusammen. Das gilt auch für die Mariologie, die in dem Hymnos enthalten ist. Man täte der orthodoxen Kirche unrecht, wenn wir dem Hymnus einen - nur - ästhetischen Reiz abgewinnen würden. Darum sollen hier zwei der in ihrer paradoxen Prägnanz typische Doppelverse nebeneinander stehen: die einen im hymnischen Stil, der der orthodoxen Art entspricht, und die anderen in der durch die lateinische Diktion geprägten Rationalität: Sei gegrüßt, Unversöhnliches hast du versöhnt;Noch einen Schritt weiter geht Ulrich Wickert, wenn er sagt: Gegrüßet seist du, die du dem Entgegengesetzten zur Identität verhalfst. (Anm. 11) Die Verfremdung könnte für uns eine Verstehens-Anleitung sein - bis dahin, daß sie zum Widerspruch oder zum freudigen »Ja« - im Sinne der Gottesmutter - herausfordert. »Nur diese wenigen Worte auf Griechisch hören oder lesen«, sagte Ulrich Wickert, »das läßt auf der Stelle erkennen: Hier geraten nicht Herz und Verstand in Kollision miteinander, sondern beide sind, echt griechisch, im Medium des Geistes überhöht und voneinander durchdrungen. Freilich jenen Geistes, von dem man nicht genau sagen kann, wo in ihm die Grenze zwischen Pneuma und Nus, zwischen erleuchtendem Gottesgeist und vernehmendem Menschengeist verläuft ... Der Hymnos hat sich diesen Begriff des mittlerweile christlichen Platonismus zu eigen gemacht: Der alte Simeon im Tempel, den wahren Gott in Gestalt eines Säuglings auf dem Arme tragend (Lukas 2, 25 ff.), erschrickt angesichts dieser Einheit in den Gegensätzen vor der unaussprechlichen Weisheit, der árrhetos sophia Gottes.« (Anm. 12) Protestanten, die sich - im Gegensatz zu Martin Luther - scheuen, das Wort »Mutter Gottes« in den Mund zu nehmen, sollten die orthodoxen Grunderkenntnisse zur Kenntnis nehmen, die vor Rom und Wittenberg da waren. Noch einmal Ulrich Wickert: »Natürlich hat es in der Mariologie Entwicklungen gegeben, wie es auch in der Trinitätslehre und in der Christologie Entwicklungen gegeben hat. Die in der Alten Kirche von Anfang an erschlossene marianische Grunderkenntnis gleicht einem Senfkorn, das durch Jahrhunderte hindurch zum Baume wächst.« (Anm. 13) Viele Christen, die sonst durchaus für neue Entwicklung offen sind, klammern sich an das »Senfkorn« - wie eine Mutter, die ihren Sohn nicht freiläßt. Es gibt eine romantische Vorstellung von der »Urkirche«, die sich in einer »Abfallstheorie« gefällt. Das gilt auch für die Mariologie. Wilhelm Stählin hat in seiner Schrift »ALLEIN - Recht und Gefahr einer polemischen Formel« (Anm. 14) gesagt: »Ist wirklich das 'Entweder - Oder' das letzte Wort?« Das gilt auch im Blick auf Maria, die Mutter Gottes. »Immer ist zu fragen, was mit dem vieldeutigen 'Und' gemeint sei; immer ist darauf zu achten, daß das 'Und' nicht einander gleichordne, was einander nicht gleichgeordnet werden darf, aber zu gleich darauf, daß ein jedes an seinem Ort und in seinem Rang beachtet und erfüllt werde. Mit solchen Fragen also prüfen wir jene polemische Formel, prüfen das reformatorische 'Allein', das jedes 'Und' verbietet, und prüfen das katholische 'Und', das jedem 'Allein' widerspricht.« Wilhelm Stählin hat diese heute noch zu beherzigende Schrift im Jahre 1950 geschrieben. Damals wurden die meisten noch von dem Gegensatz »evangelisch« und »katholisch« bestimmt. Die Orthodoxie stand außerhalb des Gesichtskreises. Ist das heute wirklich anders? Am Schluß des Hymnos Akathistos heißt es: Sei gegrüßt, du Tempel Gottes und des Wortes;
Quatember 1992, S. 1-7 |
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