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Wo ist Gott?
von Norbert Müller
Festvortrag zum Michaelsfest der Konvente Bayern und Sachsen Kloster Kirchberg 1991

LeerIn diesem Jahr liegt es zweimal dreißig Jahre zurück, daß die Michaelsbruderschaft gestiftet wurde. Im vergangenen Jahrzehnt, in den letzten zwanzig und dreißig Jahren, also in dem Zeitraum, in dem die meisten von uns zur Bruderschaft gefunden haben, und besonders noch in den letztvergangenen zwei Jahren, hat sich unbegreiflich viel ereignet, das uns als Brüder, als Christen, als Deutsche, als Menschen betroffen, erschüttert, gefordert, das uns begeistert, aber auch gedemütigt hat. Wir haben uns um Rechenschaft bemüht, sind bereit für Besinnung und Wegweisung; ja wir spüren mitten unter den uns bedrängenden Anforderungen des Tages ein tiefes Bedürfnis, einen Hunger danach. Kann die Bruderschaft helfen, ihn zu stillen, sie, die doch nun alt geworden ist, so alt, daß wirin den letzten zehn Jahren des hundertsten Geburtstages der meisten Brüder aus der Väter- und Stiftergeneration zu gedenken hatten, und daß wir selbst, die Söhne dieser Väter, längst auch schon Väter und Großväter geworden sind oder sein könnten? Sie kann helfen, so meine ich, solange wir nicht aufhören, ihr Dasein als Sendung und Auftrag und damit als Frage an unser Dasein und Selbstverständnis zu empfinden.

LeerNun haben ja die Stifter der Bruderschaft ihr jedenfalls die eine Frage unausweichlich mitgegeben, die im Namen des Erzengels liegt, dem sie zugeordnet ist. Die hebräischen Worte Mi-cha-el bedeuten ja »Wer ist gleich Gott?« Und dieses Namengebilde ist durch das Fürwort »Wer« nicht nur eindeutig als Frage gekennzeichnet. Das Wort »Gott« gibt dieser Frage vielmehr eine besondere Richtung. Der Name des Erzengels ist eine theologische Frage; noch mehr: ist eine theologische Grundfrage, theologisches Urgestein.

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LeerFreilich ist es gar nicht selbstverständlich, daß wir den Namen des Erzengels auch wirklich als Frage, und gar als Frage an uns verstehen; ich bin auch nicht sicher, ob die Väter der Stiftergeneration ihn immer und in erster Linie so verstanden haben. Das Moment des Fragens in der Bedeutung des Namens kann im Bewußtsein durch die Gewißheit gewissermaßen zugedeckt werden, daß wir die Antwort kennen: Niemand ist Gott gleich; und so wird die Frage »Wer ist gleich Gott?« sofort zum Bekenntnis der Unvergleichlichkeit Gottes und weiter zur Herausforderung und Kampfansage gegen jeden Anspruch auf Gottgleichheit. Und der Michaelskampf ist ja tatsächlich gegen alle widergöttlichen Mächte gerichtet, die sich Gott gleichstellen wollen. So war und ist es legitim, den Bekenntnischarakter des Michaelsnamens anzunehmen, und er soll nicht aus dem Selbstverständnis unserer Bruderschaft verdrängt werden. Aber wir wären falsch beraten, wenn wir darüber den Frageimpuls verfehlten, der in dem Namen liegt.

LeerWir wollen gerade diesen Impuls aufnehmen und uns dadurch ermutigen lassen, unserer Besinnung eine entschieden theologische Orientierung zu geben. Wir wollen Theologie treiben - freilich nicht im Sinne einer »Professorentheologie für Theologieprofessoren«, wie es einmal Helmut Gollwitzer kritisch und auch mit einem Funken Selbstironie ausgedrückt hat. »Theologie« heißt ja nach der alten, ursprünglichen Bedeutung des Wortes auch dichterische, hymnische Rede von Gott und den göttlichen Dingen. Dichter waren so die ersten Theologen; Theologen sind ebenso die Psalmisten, aber auch wir, wenn wir auf unserem Fest - obgleich vielleicht eher de profundis als in excelsis - uns im Psalmgesang üben. In der Frage des Engelsnamens ist freilich auch »Theologie« in einem zweiten, ganz speziellen Sinn dieses Wortes angelegt: »Lehre von Gott«, das Kernstück christlicher Glaubenserkenntnis, in dem gewagt wird, von »Gott selbst« zu reden - im Wissen um die Grenzen, die unserem Wort hier gesetzt sind, die Grenze zwischen Glauben und Schauen, in die wir in unserem leiblichen Dasein eingeschlossen sind.

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LeerDer Michaelsname ist zugleich Frage und Kampfruf. Aber können wir ihn in diesem doppelten Sinn zum theologischen Programm unserer heutigen Besinnung werden lassen? Können wir diese Frage zu unserer eigenen machen, ohne uns zu übernehmen, zu überheben, ohne uns ganz einfach über uns selbst und über unsere Gewißheit vom Gott zu täuschen? Ob es gut war, daß die Theologie in den letzten Jahrzehnten es zu einer ihrer vornehmsten Aufgaben gemacht hat, die Menschen in ihren überlieferten und vorgefaßten Meinungen über Gott zu enttäuschen, mag dahingestellt bleiben. Aber gewiß ist es nicht das Amt der Theologie, uns in unseren Selbsttäuschungen zu bestärken. Daher meine ich, daß die Frage nach Gott, die in innerer Aufrichtigkeit zu unserer Frage werden kann, einem noch elementareren Frageimpuls entsprechen müßte. Sie dürfte nicht ein zur fraglosen Gewißheit gewordenes Dasein und Sosein Gottes schon voraussetzen, sollte jene Unsicherheiten, Zweifel, Problematisierungen nicht verleugnen, die der Erzengel Michael überwunden hat, die aber uns bedrängen.

LeerEs ist eine dieser radikaleren, unserer Anfechtungssituation entsprechenden Fragen, die uns bei unserer Besinnung leiten soll. Diese Frage » Wo ist Gott«? ist uns ja ebenso wie jene andere »Wer ist gleich Gott?« aus der Heiligen Schrift wohl vertraut. In der Form »Wo ist nun dein Gott?« entspricht sie wie jene einer Kampfsituation, nur daß der Fragende hier nicht der Gotteskämpfer, sondern der scheinbar überlegene, spottende Gegner ist. Seine Position können wir nicht annehmen, aber wir können und sollten uns von seiner Frage berühren lassen. So wird sie aus einer höhnischen Herausforderung zu einer nachdenklichen Selbstprüfung unserer Glaubenserkenntnis: Ja, wo ist eigentlich unser Gott? In einer gewissen Naivität wollen wir uns, von dieser Frage geleitet, um etwas wie eine Lokalisierung Gottes bemühen. So naiv wir diese Frage stellen wollen, wird uns natürlich doch das Bewußtsein leiten müssen, daß wir uns dabei nicht einem beliebigen Gegenstand menschlichen Forschers zuwenden. Die Frage läßt sich nicht schnell mit einem definitiven »hier« oder »da« ein für allemal entscheiden. Aber sie läßt sich auch nicht, davon wollen wir ausgehen, durch ein abwehrendes »überall« oder »nirgends« beiseite schieben. Unsere Frage könnte vielmehr einen ähnlichen Sinn haben wie jener erschütternde Bittruf zu Jesus »Ich glaube, hilf meinem Unglauben«; sie könnte besagen: Wir bekennen uns zu dir, Gott; wo aber bist du?


I

LeerWir stehen mit unserer Frage in einer Gemeinschaft des Fragens nicht nur über heute bestehende Grenzen hinaus, sondern auch über die Zeitalter hin. Wir können uns nicht erlauben, uns so zu ihr zu stellen, als hätte vor uns noch nie jemand versucht, auf sie zu antworten. Wir können von solchen Antwortversuchen aus weiterfragen oder uns entschließen, über sie hinweg auf den Grund der Frage zurückzugehen, aber wir dürfen sie nicht ignorieren.

LeerDer erste Antwortversuch, mit dem wir uns zu beschäftigen haben, und der für die Ausbildung eines religiösen, auch des christlichen Weltbildes klassische Bedeutung gewonnen hat, lautet: Gott hat seinen Ort im Himmel. Zahllos sind die Aussagen der Bibel, in denen diese Vorstellung sprachliche Gestalt gefunden hat und auch uns nahekommt, ja sich uns unausweichlich zueignet: »Ich hebe meine Augen auf zu dir, der du im Himmel wohnest.« (Psalm 123,1) »Des Herrn Thron ist im Himmel. Seine Augen sehen herab, seine Blicke prüfen die Menschenkinder.« (Psalm 11,4) »Unser Gott ist im Himmel; er kann schaffen, was er will.« (Psalm 115,3) In der biblischen Sprache und Vorstellungswelt wird das Wort »Himmel« mit solcher Ausschließlichkeit als Bezeichnung für die Wohnung Gottes in Anspruch genommen, daß es - in heiliger Scheu vor dem Mißbrauch des Namens Gottes - geradezu an dessen Stelle treten kann: »Das Reich Gottes ist nahegekommen« heißt es nach dem Bericht des Markus-Evangeliums am Anfang der Verkündigung Jesu (1,15); bei Matthäus wird die gleiche Aussage mit den Worten »das Himmelreich ist nahegekommen« wiedergegeben (3,2). Aber damit wird die Wirklichkeit Gottes ja nicht in die einer unnennbar-umgreifenden kosmischen Größe aufgelöst. »Vater unser, der du bist im Himmel«: das gibt uns in unserem durch die Schwerkraft der Erde gebundenen Dasein eine Orientierung, es erschließt uns eine Dimension der Freiheit, gibt unserem Glauben Raum. In diesem Glaubensraum gilt die Wegweisung: »Suchet, was droben ist, wo Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes.« (Kolosser 3,1)

LeerDie Kritik an der biblischen Vorstellungs- und Glaubenswelt im Namen einer modernen wissenschaftlichen Weltanschauung hat nun allerdings bei dieser ihrer räumlichen Struktur an- und eingegriffen; und sie ist darin von der Theologie aufgenommen und bestätigt worden.

LeerIn seinem berühmten Aufsatz »Neues Testament und Mythologie« hat Rudolf Bultmann geschrieben: » Das Weltbild des Neuen Testaments ist ein mythisches. Die Welt gilt als in drei Stockwerke gegliedert. In der Mitte befindet sich die Erde, über ihr der Himmel, unter ihr die Unterwelt. Der Himmel ist die Wohnung Gottes ..., die Unterwelt ist die Hölle, der Ort der Qual ...«

Leer»Das alles ist mythologische Rede,... Sofern es nun mythologische Rede ist, ist es für den Menschen von heute unglaubhaft, weil für ihn das mythische Weltbild vergangen ist.« (Kerygma und Mythos. I. 1954, S. 15 f.). Wir wollen uns der hier formulierten Problematik nicht verschließen. Unser Verhältnis zur biblischen Raumvorstellung von Menschen- und Gotteswirklichkeit kann nicht mehr ungebrochen sein. Aber wir können diese Vorstellung auch nicht einfach hinter uns lassen, als hätte sie gar nichts mehr für uns zu bedeuten - das wollte auch Bultmann nicht. Der Kirchenvater Augustin spricht in einer Predigt über den 122. Psalm von den zwei Schwingen der Gottes- und der Nächstenliebe, an denen sich die Seele des Psalmsängers emporschwingt über die trüben Leidenschaften der Erdenwelt, und fährt dann fort: »Wohin ... will er hinaufsteigen, wenn nicht in den Himmel? Was heißt das, in den Himmel? Will er etwa aufsteigen, um bei Sonne, Mond und Sternen zu sein? Das sei ferne. Sondern 'Himmel' ist das ewige Jerusalem, wo unsere Engel Bürger sind ...« (In: Jörg Erb: Stimmen der Väter. S. 192).

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LeerDie Unterscheidung zwischen einer kosmologischen und einer theologischen Bedeutung des Wortes »Himmel« war also schon im kirchlichen Altertum geläufig; es bedurfte dafür nicht der Entdeckungen des Zeitalters der Raumfahrt.

LeerDennoch konnte diese Unterscheidung in früheren Epochen immerhin noch innerräumlich gedacht werden. Das große christliche Weltbild, das vor allem das Mittelalter beherrschte und das uns in seinem unvergänglichen Glanz, seiner herrlichen und furchtbaren Geschlossenheit vor allem Dantes Divina Commedia vor Augen stellt, lebt von dieser Vorstellung eines Weltenraumes und eines ihn überwölbenden und umfassenden Überraumes, in dem Gott jenseits der Stemensphären in seinem unzugänglichen Licht wohnt, um von dorther durch die einzige universale Wirkkraft, die Liebe, das Ganze des Seins zu bewegen - »der Liebe, die bewegt die Sonn und Sterne«: mit diesen Worten klingt der letzte Gesang des Weltgedichts aus. Noch in Schillers »Brüder - überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen« klingt die hymnische Begeisterung nach, zu der ein solcher Aufblick erwecken kann.

LeerVon der Großartigkeit des Danteschen Weltbildes können auch wir uns berühren lassen, auch wenn für uns die Einheit von religiöser und wissenschaftlicher Weltanschauung jenes Zeitalters keinen Bestand mehr hat. Aber schon längst bevor dieses Weltbild seine kosmologische Verbindlichkeit verlor, zeigte sich gegenüber der Vorstellung vom Himmel als dem Ort Gottes ein nicht so sehr rationales als gerade religiöses Ungenügen. Entspricht es dem Bewußtsein von der Größe Gottes, wenn man ihn im Himmel lokalisiert? Entspricht es dem Gefühl, daß Gott nicht nur ferne, sondern auch ganz nahe erfahren werden kann, wenn die Frage nach ihm mit dem Verweis auf einen Ort jenseits aller Weltenweiten verwiesen wird? In solchen Anfragen sind schon Hinweise auf eine weitere, eine zweite Wegweisung für die Suche nach Gott angelegt.

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LeerGoethe hat in einem seiner späten Gedichte diese Anfrage und auch die ihr entsprechende Antwortmöglichkeit sehr präzis formuliert:
Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,
So daß, was in Ihm lebt und webt und ist,
Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt.

(Hamb. Ausg. 1., S. 357)
LeerDie Antwort auf die Gottesfrage, die Goethe hier vor Augen hat, konnten er und viele seiner Zeitgenossen besonders den Werken des großen jüdischen Philosophen Spinoza entnehmen, der im ersten Teil seiner»Ethica« in kristallklarer Präzision die Grundsätze seiner pantheistischen Gotteslehre entwickelt: »Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein und begriffen werden.« Und: »Gott ist die immanente, nicht aber die vorübergehende Ursache aller Dinge« (Werke. II. 1967, S. 106f., 120f.) Die Antwort auf unsere Frage »Wo ist Gott?« müßte in seinem Sinn etwa lauten: »Gott ist in allem Seienden wirksam gegenwärtig; er ist allüberall, ist das Sein allen Seins.« Erscheint diese Antwort auch der zuerst betrachteten gegenüber nicht nur schlechthin verschieden, sondern diametral entgegengesetzt, so können wir von ihr doch nicht sagen, daß sie uns nur befremdet. Es kommt ihr etwas in uns entgegen, und das nicht von ungefähr. »In ihm leben, weben und sind wir«, hat Paulus nach dem Bericht der Apostelgeschichte den Athener Bürgern zugerufen (17,28). Und im Psalmgebet bekennen wir nicht nur: »Herr, du erforschest mich und kennest mich«, sondern auch »Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir« (139,1.5). Und Thomas von Aquin bezeichnet in seiner Summa Theologica Gott nicht nur prägnant als »das Sein selbst« (1,13,11 c.), sondern sagt auch ausdrücklich »Gott ist in allen Dingen« (1,8,1 c.). Was wir bei Spinoza und Goethe und gleichgerichteten Denkern hören, enthält also offenbar eine Wahrheit, gegen die wir uns bei unserer Suche nach dem Ort Gottes nicht verschließen dürfen. Freilich wird diese Wahrheit verkürzt, wenn wir in ihr nichts als eine jede Jenseitsvorstellung ausschließende Alternative zu der vorher betrachteten Auffassung sehen wollten, also eine Doktrin, die Gottes Wirklichkeit in der Welt aufgehen läßt. Dann wäre nämlich der personale Sinn des Wortes »Gott«, das »Du« des Beters aufgehoben. Gott wäre dann »das Absolutum«, das in allem weltlich und vergänglich Seienden unpersönlich anwesend ist. Karel Capek hat diesen Begriff zum Titel eines satirisch-utopischen Romans gewählt, in dem es findigen Menschen gelingt, das in jeder Substanz vorhandene Göttliche herauszudestillieren. Mit Hilfe dieses Destillats wenden einzelne zu Heiligen und Propheten; es wird möglich, unerhörte Wundertaten zu vollbringen. Aber die damit gegebenen Chancen, ein neues goldenes Zeitalter der Menschheitsgeschichte zu eröffnen, verkommen durch kurzsichtigen Gewinn- und Machttrieb. Sicher ist hier eine bedeutende philosophische Position in ironischer Naivität allzu massiv wörtlich genommen, und also nur scheinbar ad absurdum geführt. Dennoch bleibt die Quintessenz des Romans bedenkenswert: »Ein jeder meint es unendlich gut mit der Menschheit, nicht aber mit jedem einzelnen Menschen.« (Das Absolutum. Berlin. 1990, S. 172) Ein Pantheismus, für sich allein als Doktrin genommen, kann Wesentliches zur Klärung der Beziehung Gottes zur Wirklichkeit im Großen und Ganzen beitragen; der Mensch als Person kommt in ihm nicht zu seinem vollen Recht.

LeerHier drängt sich nun eine dritte Antwortmöglichkeit auf unsere Frage dem suchenden Blick auf, die gerade der Gottsuche des einzelnen Ich entgegenkommt: der Gedanke, Gott sei in der eigenen Seele zu finden; Gottsuche wäre dann ein Weg nach Innen. Klassischer Zeuge für diese Orientierung in der neueren christlichen Theologie ist Adolf von Harnack: »Das Reich Gottes kommt, indem es zu den einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele hält ..., nicht um Throne und Fürstentümer handelt es sich, sondern um Gott und die Seele, um die Seele und ihren Gott.« (Das Wesen des Christentums. 3. Vorlesung. Berlin, 1950, S. 34)

LeerEr konnte dabei an eine ehrwürdige Tradition anknüpfen. Schon Augustin hatte in einem seiner frühen Werke, den »Selbstgesprächen«, die lange nachwirkende Formel geprägt: »Gott und die Seele trachte ich zu erkennen. Nichts weiter? Überhaupt nichts.« (Soliloquia I,2.) Als Weg auch zur Gottesgewißheit dient ihm im Verlauf der anschließenden Erörterungen der Versuch, die Kräfte der Seele auszuloten. Besonders eindringlich haben die Mystiker immer wieder auf diesen Weg gewiesen, so Meister Eckehard, wenn er in einer Predigt zum Weihnachtsevangelium sagt: »Gott ist in allen Dingen wesenhaft, wirkend, gewaltig. Gebärend aber ist er nur in der Seele; denn alle Kreaturen sind ein Fußstapfe Gottes, die Seele aber ist naturhaft nach Gott gebildet.« (Predigt. 58. Deutsche Predigt und Traktate, herausgegeben von J. Quint, 1963, S. 425) Verse von Angelus Silesius, manche davon uns tief vertraut, nehmen dieses Motiv über die Jahrhunderte hinweg auf.
»Die Seel ist ein Kristall, die Gottheit ist ihr Schein,
Der Leib, in dem du lebst, ist ihrer beider Schrein,
Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren
Und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.«
(Cherubinischer Wandersmann. 1. Buch., S. 60 u. 61.)

II

LeerDrei Möglichkeiten einer Antwort auf die Frage » Wo ist Gott?« haben wir uns vor Augen geführt; und sie können uns tatsächlich in unserer inneren Anschauung lebendig sein und nahekommen. Dennoch spüren wir, daß wir die Aufgabe unserer Besinnung noch nicht gelöst haben. Denn einerseits geben diese Antworten, drei statt einer, ein seltsam diffuses Bild; obwohl sie nicht unbedingt und unausweichlich gegeneinander stehen, lassen sie sich doch auch nicht ohne weiteres zu einer Gesamtanschauung zusammenfügen. Dem andringenden Zugriff der Frage »Wo ist nun dein Gott?« sind wir mit ihnen noch nicht gewachsen. Andererseits und vor allem ist aber jede einzelne dieser Antwortmöglichkeiten Rückfragen von seiten des zeitgenössischen Bewußtseins ausgesetzt, die die Fortschreibung ihrer Gültigkeit überhaupt im Frage stellen. Diesen Rückfragen müssen wir jetzt in einer kurzen Zwischenbetrachtung unsere Aufmerksamkeit widmen.

LeerVon den drei Vorstellungsweisen, die uns unsere Suche nach dem Ort Gottes nahegebracht hat, ist die, die wir als Aufblick zum Himmel kennzeichnen können, am auffälligsten in Mißkredit geraten. Daß dabei auch Mißverständnisse eine Rolle spielen, sollte sicher nicht übersehen werden. Daß sich atheistische Agitatoren nachdem Erfolg des ersten Raumfahrtuntemehmens von dem Thema »Der Sputnik und der liebe Gott« Erfolge versprachen, ist eher ein Kuriosum; schließlich hatte ja schon Augustin auf der Unterscheidung des Sternenraumes von der Wohnung Gottes bestanden. Dennoch bleibt es wahr: Für das »Empyreum« (die Lichtsphäre) und die »Himmelsrose«, die Dantes Bild der kosmischen Wirklichkeit zugleich krönen und abschließen, läßt die Struktur der astronomischen und astrophysikalischen Weltentwürfe, in denen die Wissenschaft heute ihre Ergebnisse zusammenfaßt, keinen Vorstellungsraum offen. Zwar gibt es immer noch und immer wieder seltsame Konvergenzen zwischen moderner und überlieferter Anschauung, so wenn der Astrophysiker Rudolf Kippenhahn schon im Titel eines seiner Bücher vom »Licht vom Rande der Welt« spricht und die sichtbare Welt als eine Kugel mit dem unvorstellbaren, aber immerhin bezifferbaren Radius von 20 Milliarden Lichtjahren erscheinen läßt. Aber jenseits dieser Wahmehmungsgrenze ist nicht göttliche Klarheit, sondern undurchdringliche Finsternis; es schwinden uns buchstäblich die Sinne.- Wir können das Wort »Himmel« in seiner biblischen Bedeutung aus dem Sprachschatz unseres Glaubens nicht entlassen als Verständigungshilfe aber und als Ausdruck für ein schlichtes Geborgenheitsbewußtsein in einer vertrauten, behüteten Welt hat es seine Eindeutigkeit verloren.

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LeerMehr Sympathie, mehr rationale Akzeptanz könnten wir uns dann vielleicht von der zweiten Vorstellungsweise versprechen, die Gott im Sein alles Seienden zu finden hofft. Und so geht denn auch der Meinungsstreit immer wieder hin und her, ob die uns erkennbare Wirklichkeit durch »Zufall« oder »Notwendigkeit« (vgl. das Buch von Jaques Monod: Zufall und Notwendigkeit, 1970) ihre Gestalt gefunden hat. Die Physik der Gestirne und der Elementarteilchen, die Paläontologie und die Molekularbiologie stellen sich der Frage, ob sich in den unüberschaubar vielfältigen und komplexen Strukturen der Wirklichkeit rationale Grundmuster, Symmetrien oder Entwicklungstendenzen finden lassen, die als Spuren einer alles durchwaltenden Vernunft oder gar Zielgerichtetheit deutbar wären. Es ist kein Zweifel: Gerade für Wissenschaftler, die sich sehr intensiv mit der Frage nach dem Wesen unserer Wirklichkeit im ganzen beschäftigen, kommt immer wieder auch die Frage nach Gott ins Blickfeld. (Neuere Beispiele: Paul Davies: Gott und die moderne Physik, 1986; Stephen W. Hawking: Eine kurze Geschichte der Zeit, 1988.) Ob die Ausschau nach der Urkraft, die »die Welt im Innersten zusammenhält«, freilich wirklich zu Gott führt, ist allerdings doch sehr ungewiß. Goethes Faust ist durch sie zunächst ja gerade zum Teufel geführt worden - im Sinne eines freilich notwendigen Umwegs. Aber es ist nicht unseres Amtes, hier warnend den Zeigefinger zu heben. Es ist nur sehr nüchtern zu bedenken, daß sich das Sein der Welt dem Fragenden in der Regel nicht auf Gott hin öffnet. Das Göttliche in der Welt finden, könnte auch heißen, die Prädikate Gottes der Weltwirklichkeit zuzuerkennen - wie es ja letztlich schon Feuerbach vor 150 Jahren gefordert hatte. Die Frage nach dem Schöpfer, in die naturwissenschaftlich erschlossene Seinsstruktur der Wirklichkeit hineingetragen, wird sich immer der legitimen Konkurrenz der These von der »Selbstorganisation des Universums« (Erich Jantsch,1979) ausgesetzt sehen. Auf der anderen Seite kann gerade der Glaubende (wie Reinhold Schneiders letztes Tagebuch »Winter in Wien« in einer unerhört schmerzlichen Eindringlichkeit nahegebracht hat), sich oft dem Grauen vor den Undurchdringlich- und Unbegreiflichkeiten des welthaften Seins - im Kleinsten wie im Größten - nicht entziehen, so daß der Blick auf die Welt die Frage nach Gott gerade nicht befriedigend beantwortet, sondern mit neuer Dringlichkeit überhaupt erst noch einmal stellt.

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LeerDie Vorstellungsweise schließlich, die Gott seinen Ort in der Seele anweisen möchte, zeigt sicher einen unaufgebbaren Aspekt von unvergleichlicher frömmigkeitsgeschichtlicher Bedeutung auf. Für das moderne Bewußtsein aber, dem sich im Lauf von etwa hundert Jahren eine ganze Welt neuer Erkenntnisse über das Wesen dessen erschlossen hat, das sich in uns als »Seele« regt, muß es zweifelhafter als je erscheinen, ob Göttliches gerade hier zu finden ist. Daß die Erforschung der seelischen Vorgänge Entscheidendes zur Selbsterkenntnis des Menschen beizutragen vermag, steht außer Frage. So können zum Beispiel die Ergebnisse der modernen Neurobiologie davon überzeugen, daß der Vorgang des menschlichen Erkennens ganz anders verläuft als die Prozesse in einem Computer, nämlich konstruktiv, nicht im Sinne bloßer Widerspiegelung. (vgl. etwa Francisco J. Varela:Kognitionswissenschaft-Kognitionstechnik,1990,S.57) Und Freud hat mit seiner psychoanalytischen Methode ans Licht gebracht, welche unerhörten, oft auch zerstörerischen Energien in den Tiefen des Unbewußten verborgen sind. Aber was der Mensch so oder so findet, ist doch immer wieder nur ein Rückverwiesensein auf sich selbst. Der antike Dualismus konnte mit dem griechischen Wortspiel »soma - sema« die Vorstellung erwecken, der Leib sei das Grabmal, der die Seele verhindere, die ihr zukommende göttliche Freiheit auszuleben, solange sie in ihm gefangen sei. Die heutige Seelenforschung läßt eher die Seele so unauflöslich in sich selbst befangen sein, daß ein religiöser Erlösungsgedanke nur noch als »Illusion« erscheinen kann (vgl. S. Freuds berühmte Schrift: Die Zukunft einer Illusion, 1927). Die religiöse, auch theologische Dimension in der Bedeutung des Wortes »Seele« ist damit nicht endgültig unzugänglich geworden; aber von einer Allgemeinverständlichkeit und -verbindlichkeit diesbezüglicher Aussagen können wir heute nicht mehr ausgehen.

III

LeerEs muß zuletzt der Eindruck entstanden sein, als wären wir durch den Versuch einer Umschau bei den überlieferten Vorstellungsweisen einer heute vertretbaren Antwort auf die Frage »Wo ist Gott?« nicht nähergekommen, sondern eher fernergerückt. Das wäre in dem Sinn nicht zutreffend, als hätten die bisher betrachteten Antwortmöglichkeiten zu nichts weiter gedient, als uns in die Irre zu führen. Sie enthalten unentbehrliche Aspekte einer schließlich auch für uns hilfreichen Antwort. Aber ein Ungenügen gegenüber jeder einzelnen wie auch ihrer Gesamtheit bleibt unüberwindbar. Was fehlt, ist eine gemeinsame, die Einzelaspekte verbindende und uns in unserer Lebenssituation als Zeitgenossen dieses Jahrhunderts einbeziehende Perspektive. Sie könnte zu gewinnen sein, wenn wir unsere Frage nochmals aufnehmen und in zugespitzter Weise neu fassen: »Wo ist Gott?« - das könnte für uns bedeuten: »Wo ist Gott wirklich (und das bedeutet: wirkend, wirksam) da?«

LeerAuch angesichts dieser dringlicheren Fragestellung kann der Aufblick, der in dem Wort »Himmel« zugemutet wird, eine Orientierungshilfe bedeuten: Gott ist etwas über uns und weiter über alles sonst noch Wirkliche hinaus. Wenn Gott für uns wirklich sein soll, dann muß eine Grenze überschritten werden, die den Wesensbestimmungen des Göttlichen und des Menschlichen nach beide gerade unerbittlich trennt. Es muß also nach der Möglichkeit eines Überschreitens gefragt werden; nach dem, was in der Fachsprache der Philosophie als Transzendenz bezeichnet wird. Ist für uns Transzendenz zu Gott hin erreichbar? Es ist nicht sinnvoll, besonders angesichts der Vielfalt religiöser Erfahrungswelten, der wir uns heute gegenübergestellt sehen, eine solche Frage von vornherein mit dogmatischen Argumenten zu verneinen oder gar für unzulässig zu erklären. Schließlich bekennt der Apostel Paulus von sich selbst, eine Entrückung »bis in den dritten Himmel« erfahren zu haben (2. Korinther 12, 2). Aber Paulus macht auch gerade in diesem Zusammenhang deutlich, daß nicht dieser Weg, nicht der Weg der Ekstase, die im Evangelium angebotene Weise des Überschreitens darstellt: Nicht den Ekstatikem, nicht den religiös Starken gilt die Zusage der Gottesnähe, von der hier gesprochen wird, sondern den Schwachen: »Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.« (2. Korinther 12, 9) Damit ist aber unsere Frage nach der Möglichkeit, theologisch von »Transzendenz« zu sprechen, nicht beantwortet, sondern erst an die Stelle gebracht, wo eine Antwort beginnen kann. Der Ausdruck »Transzendenz« ist schon im Verlauf seiner philosophischen Bedeutungsgeschichte auf recht verschiedene Weise gebraucht worden. Er ist umso mehr einer Klarstellung bedürftig, wenn wir ihn theologisch verwenden wollen. »Transzendenz« bezeichnet nicht, wie man annehmen könnte, das Überschreitende, das Jenseitige. Das lateinische Wort, das ihm zugrundeliegt, muß vielmehr mit »Hinüberschreiten« übersetzt werden, beschreibt also einen Vorgang, einen Weg, nicht das Ziel.

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LeerDamit Gott wirklich für uns da sein kann, muß Transzendenz geschehen, muß es zu einem Überschreiten kommen. Und weil dieses überschreiten uns Menschen in der Regel verwehrt ist, muß es durch Gott selbst vollzogen werden. Genau das wird uns ja nun durch das Evangelium von Jesus Christus als Wirklichkeit vor Augen gestellt: »Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber«, sagt Paulus im 2. Korintherbrief (5, 19) nach Luthers Übersetzung: Gott war im Heilandswerk Christi bei uns wirksam gegenwärtig. Freilich ist damit unsere Frage immer noch nicht zulänglich beantwortet. Wir wollen ja wissen, wo Gott ist, und nicht, wo er war. Wenn wir hier stehenbleiben wollten, würden wir die kosmische Jenseitigkeit nur mit einer historischen vertauschen. Trotzdem kündigt sich in der Formulierung des Paulus bereits die auch für uns entscheidende Wendung in der Blickrichtung an. Die Frage nach dem Ort Gottes in unserer Wirklichkeit läßt sich nicht mit Hilfe eines Aufstiegs in eine überweltliche Seinsstufe beantworten, sondern Gott kommt zu uns. Transzendenz in diesem theologischen Sinn ist ein göttlicher Akt, eine Herabkunft, ist Gottes Kondeszendenz. Diese Kondeszendenz ist in die menschliche Geschichte eingebunden. Sie kann und muß auch mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft erfaßt und gedeutet werden. Daß sie aber für uns nicht in eine historische Jenseitigkeit entrückt bleibt, ist in den Worten, in denen Paulus diesen alle Denkgewohnheiten umstürzenden Vorgang beschreibt, schon angedeutet und an anderen Stellen des Neuen Testaments bestätigt. Daß Gott in Christus »war« und die Welt mit sich selber »versöhnte«, damit ist eine grundstürzende Veränderung im Verhältnis zwischen Gott und Mensch (das Wort »Welt« ist hier zuerst auf die Menschheit bezogen) angezeigt. Das Wort, das Paulus hier verwendet, ist zwar mit »versöhnen« richtig übersetzt, aber es hat einen weiteren Bedeutungsumfang als das deutsche Wort. Es ist von dem Wortstamm »anders«, »ein anderer« abgeleitet und bedeutet eigentlich: in einem radikalen Sinn verändern, vertauschen, austauschen. Wenn wir, wie in einer mathematischen Gleichung, diese Einsicht in unsere Frage nach dem Ort Gottes einsetzen, dann ergibt sich die Aussage: Gott hat in Christus seinen Ort gegen den unseren vertauscht, er hat uns so verändert, daß wir ihn in unserem irdischen Daseinsraum finden können. Zusagen wie »Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende« (Matthäus 28, 20) und »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen« (18, 20) weisen genau in die gleiche Richtung. Die Frage »Wo ist Gott?« ist damit - nicht in doktrinärer Grundsätzlichkeit, aber im Geltungsbereich unseres daseinsorientierten Fragens - vom Himmel auf die Erde herabgeholt. Aber damit bleibt gleichwohl ein entscheidendes Moment dieser Fragestellung noch zu berücksichtigen.

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LeerWir könnten schon jetzt als Antwort auf unsere Frage »Wo ist Gott wirklich da?« formulieren: Er ist hier bei uns. Aber wann und wie gilt diese Antwort tatsächlich für uns; wo wird dieses bei uns lebendige Wirklichkeit? Wir müssen begreifen lernen, daß die Wendung des Blickes, von der wir sprachen, eine noch viel grundlegendere Neuorientierung von uns fordert, als es zunächst scheinen könnte, nämlich nicht nur hinsichtlich der Suche nach dem Ort Gottes. Es geht überhaupt nicht nur um eine Blickwendung (»Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht zum Himmel?«, Apostelgeschichte 1, 11), sondern um eine vollständige Umkehr unserer Lebensrichtung. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter macht nicht nur in seinem Bildgehalt, sondern vor allem auch in seiner logischen Struktur Wesen und Richtung solcher Umkehr erkennbar. Es ist ja die Antwort Jesu auf die Frage: »Wer ist denn mein Nächster?« Es gibt aber keine kasuistische Umschreibung des Kreises von Personen, denen das Prädikat »Nächster« zukommt, sondern es erzählt einen Einzelfall und stellt nun seinerseits die Frage, wer hier »Nächster« gewesen sei, und mündet in die Aufforderung »Tue desgleichen! « (Lukas 10, 25-37). Das Ergebnis wäre unzulänglich erfaßt, wenn wir hier nur den Übergang von der theoretisierenden Frage zur praktischen Tat gefordert sähen. Es geht nicht nur um eine Hebung der Moral; die war bei Jesu Gesprächspartnern keineswegs besonders schlecht. Es geht vielmehr um eine neue Position, um eine Vertauschung des Standpunkts, entsprechend der, die sich im Akt der Versöhnung zwischen Gott und Mensch vollzieht. Jesus kehrt ja am Ende seiner Erzählung die Fragestellung um: Zu fragen, so wird uns angedeutet, ist nicht, wie ich einen Nächsten finde, an dem ich das Liebesgebot erfüllen kann, sondern was ich zu tun habe, um selbst ein »Nächster« zu sein. Der Imperativ des Gleichnisses lautet dann also: Sei ein Nächster! Die Bewegung Gottes, der in Christus war und so seinen Ort mit unserem vertauschte, setzt sich in unserer Bewegung fort, wenn wir angesichts der »geringsten Brüder« zu Nächsten in diesem aktiven Sinn des Wortes werden (Matthäus 25,40) - und dann begegnen wir in ihnen Christus und damit Gott selbst.

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LeerIn einem Brief, in dem Dietrich Bonhoeffer über seine ersten Erfahrungen als Studentenpfarrer berichtet, faßt er seine tiefen Zweifel am Erfolg seiner Arbeit in dem Ruf zusammen: »Die Unsichtbarkeit macht uns kaputt.« Und er erläutert:

Leer»... dies wahnwitzige dauernde Zurückgeworfenwerden auf den unsichtbaren Gott selbst - das kann doch kein Mensch mehr aushalten.« (18. Oktober 1931 an Helmut Rößler, GS. 1, S. 61). Aber zugleich hatte sich ihm schon die Notwendigkeit und Möglichkeit jener Wendung aufgedrängt, die er zuletzt, während seiner Haftzeit, so beschreibt: »Unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im 'Dasein für andere', in der Teilnahme am Sein Jesu ... Der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist das Transzendente.« (Widerstand und Ergebung, 1970, S. 414) Freilich macht nun die Spannung zwischen diesen beiden Aussagen auch etwas von der inneren Zerrissenheit, von der kaum erträglichen Belastung deutlich, unter der sich christliches Dasein vollzieht: zwischen neuerschlossener Transzendenz und einem entmutigenden Auf-sich-selbst-Zurückgeworfensein. Aber dieser versöhnende Tausch zwischen Gott und Mensch, der uns erst zu wahrhaft »Nächsten« machen kann, ist eben nicht nur ein moralischer Appell. In ihm stellt sich Gott nicht nur neben uns, sondern er kehrt zugleich bei uns ein. Nur dann können wir am Sein Jesu teilnehmen, wenn Gott in uns Transzendenz bewirkt, so daß wir über die Mauer springen können, in der unsere Selbstliebe uns einschließt. Diese Geistgegenwart Gottes ist freilich kein ruhender Zustand, keine Wesenseigenschaft der menschlichen Seele. Wir können immer nur neu um sie bitten: »Komm, Heiliger Geist, erfüll die Herzen Deiner Gläubigen und entzünd' in ihnen das Feuer Deiner göttlichen Liebe!«

LeerNachdem wir diesen Weg des Fragens, Hörens und Weiterfragens durchmessen haben, möchten wir es wagen, auf die Frage »Wo ist Gott?« zu antworten: Gott ist gegenwärtig; er ist hier, wenn wir an uns seine Transzendenz geschehen lassen.

LeerUnsere Bruderschaft könnte den Sinn haben, daß in ihr und durch sie diese Transzendenz Gottes beispielhaft verwirklicht wird, daß sie ein Ort der Gegenwart Gottes ist. Diese Gegenwart Gottes ist keine nur moralische - auf unser Sollen, Wollen und Tun bezogene -, sie ist zuerst eine sakramentale , das ganze Sein durchdringende Wirklichkeit.

Quatember 1992, S. 21-33
© Prof. Dr. Norbert Müller, Leipzig

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-15
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