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von Norbert Müller Festvortrag zum Michaelsfest der Konvente Bayern und Sachsen Kloster Kirchberg 1991 |
In diesem Jahr liegt es zweimal dreißig Jahre zurück, daß die Michaelsbruderschaft gestiftet wurde. Im vergangenen Jahrzehnt, in den letzten zwanzig und dreißig Jahren, also in dem Zeitraum, in dem die meisten von uns zur Bruderschaft gefunden haben, und besonders noch in den letztvergangenen zwei Jahren, hat sich unbegreiflich viel ereignet, das uns als Brüder, als Christen, als Deutsche, als Menschen betroffen, erschüttert, gefordert, das uns begeistert, aber auch gedemütigt hat. Wir haben uns um Rechenschaft bemüht, sind bereit für Besinnung und Wegweisung; ja wir spüren mitten unter den uns bedrängenden Anforderungen des Tages ein tiefes Bedürfnis, einen Hunger danach. Kann die Bruderschaft helfen, ihn zu stillen, sie, die doch nun alt geworden ist, so alt, daß wirin den letzten zehn Jahren des hundertsten Geburtstages der meisten Brüder aus der Väter- und Stiftergeneration zu gedenken hatten, und daß wir selbst, die Söhne dieser Väter, längst auch schon Väter und Großväter geworden sind oder sein könnten? Sie kann helfen, so meine ich, solange wir nicht aufhören, ihr Dasein als Sendung und Auftrag und damit als Frage an unser Dasein und Selbstverständnis zu empfinden. Nun haben ja die Stifter der Bruderschaft ihr jedenfalls die eine Frage unausweichlich mitgegeben, die im Namen des Erzengels liegt, dem sie zugeordnet ist. Die hebräischen Worte Mi-cha-el bedeuten ja »Wer ist gleich Gott?« Und dieses Namengebilde ist durch das Fürwort »Wer« nicht nur eindeutig als Frage gekennzeichnet. Das Wort »Gott« gibt dieser Frage vielmehr eine besondere Richtung. Der Name des Erzengels ist eine theologische Frage; noch mehr: ist eine theologische Grundfrage, theologisches Urgestein. Wir wollen gerade diesen Impuls aufnehmen und uns dadurch ermutigen lassen, unserer Besinnung eine entschieden theologische Orientierung zu geben. Wir wollen Theologie treiben - freilich nicht im Sinne einer »Professorentheologie für Theologieprofessoren«, wie es einmal Helmut Gollwitzer kritisch und auch mit einem Funken Selbstironie ausgedrückt hat. »Theologie« heißt ja nach der alten, ursprünglichen Bedeutung des Wortes auch dichterische, hymnische Rede von Gott und den göttlichen Dingen. Dichter waren so die ersten Theologen; Theologen sind ebenso die Psalmisten, aber auch wir, wenn wir auf unserem Fest - obgleich vielleicht eher de profundis als in excelsis - uns im Psalmgesang üben. In der Frage des Engelsnamens ist freilich auch »Theologie« in einem zweiten, ganz speziellen Sinn dieses Wortes angelegt: »Lehre von Gott«, das Kernstück christlicher Glaubenserkenntnis, in dem gewagt wird, von »Gott selbst« zu reden - im Wissen um die Grenzen, die unserem Wort hier gesetzt sind, die Grenze zwischen Glauben und Schauen, in die wir in unserem leiblichen Dasein eingeschlossen sind. Es ist eine dieser radikaleren, unserer Anfechtungssituation entsprechenden Fragen, die uns bei unserer Besinnung leiten soll. Diese Frage » Wo ist Gott«? ist uns ja ebenso wie jene andere »Wer ist gleich Gott?« aus der Heiligen Schrift wohl vertraut. In der Form »Wo ist nun dein Gott?« entspricht sie wie jene einer Kampfsituation, nur daß der Fragende hier nicht der Gotteskämpfer, sondern der scheinbar überlegene, spottende Gegner ist. Seine Position können wir nicht annehmen, aber wir können und sollten uns von seiner Frage berühren lassen. So wird sie aus einer höhnischen Herausforderung zu einer nachdenklichen Selbstprüfung unserer Glaubenserkenntnis: Ja, wo ist eigentlich unser Gott? In einer gewissen Naivität wollen wir uns, von dieser Frage geleitet, um etwas wie eine Lokalisierung Gottes bemühen. So naiv wir diese Frage stellen wollen, wird uns natürlich doch das Bewußtsein leiten müssen, daß wir uns dabei nicht einem beliebigen Gegenstand menschlichen Forschers zuwenden. Die Frage läßt sich nicht schnell mit einem definitiven »hier« oder »da« ein für allemal entscheiden. Aber sie läßt sich auch nicht, davon wollen wir ausgehen, durch ein abwehrendes »überall« oder »nirgends« beiseite schieben. Unsere Frage könnte vielmehr einen ähnlichen Sinn haben wie jener erschütternde Bittruf zu Jesus »Ich glaube, hilf meinem Unglauben«; sie könnte besagen: Wir bekennen uns zu dir, Gott; wo aber bist du? Der erste Antwortversuch, mit dem wir uns zu beschäftigen haben, und der für die Ausbildung eines religiösen, auch des christlichen Weltbildes klassische Bedeutung gewonnen hat, lautet: Gott hat seinen Ort im Himmel. Zahllos sind die Aussagen der Bibel, in denen diese Vorstellung sprachliche Gestalt gefunden hat und auch uns nahekommt, ja sich uns unausweichlich zueignet: »Ich hebe meine Augen auf zu dir, der du im Himmel wohnest.« (Psalm 123,1) »Des Herrn Thron ist im Himmel. Seine Augen sehen herab, seine Blicke prüfen die Menschenkinder.« (Psalm 11,4) »Unser Gott ist im Himmel; er kann schaffen, was er will.« (Psalm 115,3) In der biblischen Sprache und Vorstellungswelt wird das Wort »Himmel« mit solcher Ausschließlichkeit als Bezeichnung für die Wohnung Gottes in Anspruch genommen, daß es - in heiliger Scheu vor dem Mißbrauch des Namens Gottes - geradezu an dessen Stelle treten kann: »Das Reich Gottes ist nahegekommen« heißt es nach dem Bericht des Markus-Evangeliums am Anfang der Verkündigung Jesu (1,15); bei Matthäus wird die gleiche Aussage mit den Worten »das Himmelreich ist nahegekommen« wiedergegeben (3,2). Aber damit wird die Wirklichkeit Gottes ja nicht in die einer unnennbar-umgreifenden kosmischen Größe aufgelöst. »Vater unser, der du bist im Himmel«: das gibt uns in unserem durch die Schwerkraft der Erde gebundenen Dasein eine Orientierung, es erschließt uns eine Dimension der Freiheit, gibt unserem Glauben Raum. In diesem Glaubensraum gilt die Wegweisung: »Suchet, was droben ist, wo Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes.« (Kolosser 3,1) Die Kritik an der biblischen Vorstellungs- und Glaubenswelt im Namen einer modernen wissenschaftlichen Weltanschauung hat nun allerdings bei dieser ihrer räumlichen Struktur an- und eingegriffen; und sie ist darin von der Theologie aufgenommen und bestätigt worden. In seinem berühmten Aufsatz »Neues Testament und Mythologie« hat Rudolf Bultmann geschrieben: » Das Weltbild des Neuen Testaments ist ein mythisches. Die Welt gilt als in drei Stockwerke gegliedert. In der Mitte befindet sich die Erde, über ihr der Himmel, unter ihr die Unterwelt. Der Himmel ist die Wohnung Gottes ..., die Unterwelt ist die Hölle, der Ort der Qual ...« »Das alles ist mythologische Rede,... Sofern es nun mythologische Rede ist, ist es für den Menschen von heute unglaubhaft, weil für ihn das mythische Weltbild vergangen ist.« (Kerygma und Mythos. I. 1954, S. 15 f.). Wir wollen uns der hier formulierten Problematik nicht verschließen. Unser Verhältnis zur biblischen Raumvorstellung von Menschen- und Gotteswirklichkeit kann nicht mehr ungebrochen sein. Aber wir können diese Vorstellung auch nicht einfach hinter uns lassen, als hätte sie gar nichts mehr für uns zu bedeuten - das wollte auch Bultmann nicht. Der Kirchenvater Augustin spricht in einer Predigt über den 122. Psalm von den zwei Schwingen der Gottes- und der Nächstenliebe, an denen sich die Seele des Psalmsängers emporschwingt über die trüben Leidenschaften der Erdenwelt, und fährt dann fort: »Wohin ... will er hinaufsteigen, wenn nicht in den Himmel? Was heißt das, in den Himmel? Will er etwa aufsteigen, um bei Sonne, Mond und Sternen zu sein? Das sei ferne. Sondern 'Himmel' ist das ewige Jerusalem, wo unsere Engel Bürger sind ...« (In: Jörg Erb: Stimmen der Väter. S. 192). Dennoch konnte diese Unterscheidung in früheren Epochen immerhin noch innerräumlich gedacht werden. Das große christliche Weltbild, das vor allem das Mittelalter beherrschte und das uns in seinem unvergänglichen Glanz, seiner herrlichen und furchtbaren Geschlossenheit vor allem Dantes Divina Commedia vor Augen stellt, lebt von dieser Vorstellung eines Weltenraumes und eines ihn überwölbenden und umfassenden Überraumes, in dem Gott jenseits der Stemensphären in seinem unzugänglichen Licht wohnt, um von dorther durch die einzige universale Wirkkraft, die Liebe, das Ganze des Seins zu bewegen - »der Liebe, die bewegt die Sonn und Sterne«: mit diesen Worten klingt der letzte Gesang des Weltgedichts aus. Noch in Schillers »Brüder - überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen« klingt die hymnische Begeisterung nach, zu der ein solcher Aufblick erwecken kann. Von der Großartigkeit des Danteschen Weltbildes können auch wir uns berühren lassen, auch wenn für uns die Einheit von religiöser und wissenschaftlicher Weltanschauung jenes Zeitalters keinen Bestand mehr hat. Aber schon längst bevor dieses Weltbild seine kosmologische Verbindlichkeit verlor, zeigte sich gegenüber der Vorstellung vom Himmel als dem Ort Gottes ein nicht so sehr rationales als gerade religiöses Ungenügen. Entspricht es dem Bewußtsein von der Größe Gottes, wenn man ihn im Himmel lokalisiert? Entspricht es dem Gefühl, daß Gott nicht nur ferne, sondern auch ganz nahe erfahren werden kann, wenn die Frage nach ihm mit dem Verweis auf einen Ort jenseits aller Weltenweiten verwiesen wird? In solchen Anfragen sind schon Hinweise auf eine weitere, eine zweite Wegweisung für die Suche nach Gott angelegt. Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße,Die Antwort auf die Gottesfrage, die Goethe hier vor Augen hat, konnten er und viele seiner Zeitgenossen besonders den Werken des großen jüdischen Philosophen Spinoza entnehmen, der im ersten Teil seiner»Ethica« in kristallklarer Präzision die Grundsätze seiner pantheistischen Gotteslehre entwickelt: »Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein und begriffen werden.« Und: »Gott ist die immanente, nicht aber die vorübergehende Ursache aller Dinge« (Werke. II. 1967, S. 106f., 120f.) Die Antwort auf unsere Frage »Wo ist Gott?« müßte in seinem Sinn etwa lauten: »Gott ist in allem Seienden wirksam gegenwärtig; er ist allüberall, ist das Sein allen Seins.« Erscheint diese Antwort auch der zuerst betrachteten gegenüber nicht nur schlechthin verschieden, sondern diametral entgegengesetzt, so können wir von ihr doch nicht sagen, daß sie uns nur befremdet. Es kommt ihr etwas in uns entgegen, und das nicht von ungefähr. »In ihm leben, weben und sind wir«, hat Paulus nach dem Bericht der Apostelgeschichte den Athener Bürgern zugerufen (17,28). Und im Psalmgebet bekennen wir nicht nur: »Herr, du erforschest mich und kennest mich«, sondern auch »Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir« (139,1.5). Und Thomas von Aquin bezeichnet in seiner Summa Theologica Gott nicht nur prägnant als »das Sein selbst« (1,13,11 c.), sondern sagt auch ausdrücklich »Gott ist in allen Dingen« (1,8,1 c.). Was wir bei Spinoza und Goethe und gleichgerichteten Denkern hören, enthält also offenbar eine Wahrheit, gegen die wir uns bei unserer Suche nach dem Ort Gottes nicht verschließen dürfen. Freilich wird diese Wahrheit verkürzt, wenn wir in ihr nichts als eine jede Jenseitsvorstellung ausschließende Alternative zu der vorher betrachteten Auffassung sehen wollten, also eine Doktrin, die Gottes Wirklichkeit in der Welt aufgehen läßt. Dann wäre nämlich der personale Sinn des Wortes »Gott«, das »Du« des Beters aufgehoben. Gott wäre dann »das Absolutum«, das in allem weltlich und vergänglich Seienden unpersönlich anwesend ist. Karel Capek hat diesen Begriff zum Titel eines satirisch-utopischen Romans gewählt, in dem es findigen Menschen gelingt, das in jeder Substanz vorhandene Göttliche herauszudestillieren. Mit Hilfe dieses Destillats wenden einzelne zu Heiligen und Propheten; es wird möglich, unerhörte Wundertaten zu vollbringen. Aber die damit gegebenen Chancen, ein neues goldenes Zeitalter der Menschheitsgeschichte zu eröffnen, verkommen durch kurzsichtigen Gewinn- und Machttrieb. Sicher ist hier eine bedeutende philosophische Position in ironischer Naivität allzu massiv wörtlich genommen, und also nur scheinbar ad absurdum geführt. Dennoch bleibt die Quintessenz des Romans bedenkenswert: »Ein jeder meint es unendlich gut mit der Menschheit, nicht aber mit jedem einzelnen Menschen.« (Das Absolutum. Berlin. 1990, S. 172) Ein Pantheismus, für sich allein als Doktrin genommen, kann Wesentliches zur Klärung der Beziehung Gottes zur Wirklichkeit im Großen und Ganzen beitragen; der Mensch als Person kommt in ihm nicht zu seinem vollen Recht. Hier drängt sich nun eine dritte Antwortmöglichkeit auf unsere Frage dem suchenden Blick auf, die gerade der Gottsuche des einzelnen Ich entgegenkommt: der Gedanke, Gott sei in der eigenen Seele zu finden; Gottsuche wäre dann ein Weg nach Innen. Klassischer Zeuge für diese Orientierung in der neueren christlichen Theologie ist Adolf von Harnack: »Das Reich Gottes kommt, indem es zu den einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele hält ..., nicht um Throne und Fürstentümer handelt es sich, sondern um Gott und die Seele, um die Seele und ihren Gott.« (Das Wesen des Christentums. 3. Vorlesung. Berlin, 1950, S. 34) Er konnte dabei an eine ehrwürdige Tradition anknüpfen. Schon Augustin hatte in einem seiner frühen Werke, den »Selbstgesprächen«, die lange nachwirkende Formel geprägt: »Gott und die Seele trachte ich zu erkennen. Nichts weiter? Überhaupt nichts.« (Soliloquia I,2.) Als Weg auch zur Gottesgewißheit dient ihm im Verlauf der anschließenden Erörterungen der Versuch, die Kräfte der Seele auszuloten. Besonders eindringlich haben die Mystiker immer wieder auf diesen Weg gewiesen, so Meister Eckehard, wenn er in einer Predigt zum Weihnachtsevangelium sagt: »Gott ist in allen Dingen wesenhaft, wirkend, gewaltig. Gebärend aber ist er nur in der Seele; denn alle Kreaturen sind ein Fußstapfe Gottes, die Seele aber ist naturhaft nach Gott gebildet.« (Predigt. 58. Deutsche Predigt und Traktate, herausgegeben von J. Quint, 1963, S. 425) Verse von Angelus Silesius, manche davon uns tief vertraut, nehmen dieses Motiv über die Jahrhunderte hinweg auf. »Die Seel ist ein Kristall, die Gottheit ist ihr Schein, Von den drei Vorstellungsweisen, die uns unsere Suche nach dem Ort Gottes nahegebracht hat, ist die, die wir als Aufblick zum Himmel kennzeichnen können, am auffälligsten in Mißkredit geraten. Daß dabei auch Mißverständnisse eine Rolle spielen, sollte sicher nicht übersehen werden. Daß sich atheistische Agitatoren nachdem Erfolg des ersten Raumfahrtuntemehmens von dem Thema »Der Sputnik und der liebe Gott« Erfolge versprachen, ist eher ein Kuriosum; schließlich hatte ja schon Augustin auf der Unterscheidung des Sternenraumes von der Wohnung Gottes bestanden. Dennoch bleibt es wahr: Für das »Empyreum« (die Lichtsphäre) und die »Himmelsrose«, die Dantes Bild der kosmischen Wirklichkeit zugleich krönen und abschließen, läßt die Struktur der astronomischen und astrophysikalischen Weltentwürfe, in denen die Wissenschaft heute ihre Ergebnisse zusammenfaßt, keinen Vorstellungsraum offen. Zwar gibt es immer noch und immer wieder seltsame Konvergenzen zwischen moderner und überlieferter Anschauung, so wenn der Astrophysiker Rudolf Kippenhahn schon im Titel eines seiner Bücher vom »Licht vom Rande der Welt« spricht und die sichtbare Welt als eine Kugel mit dem unvorstellbaren, aber immerhin bezifferbaren Radius von 20 Milliarden Lichtjahren erscheinen läßt. Aber jenseits dieser Wahmehmungsgrenze ist nicht göttliche Klarheit, sondern undurchdringliche Finsternis; es schwinden uns buchstäblich die Sinne.- Wir können das Wort »Himmel« in seiner biblischen Bedeutung aus dem Sprachschatz unseres Glaubens nicht entlassen als Verständigungshilfe aber und als Ausdruck für ein schlichtes Geborgenheitsbewußtsein in einer vertrauten, behüteten Welt hat es seine Eindeutigkeit verloren. Auch angesichts dieser dringlicheren Fragestellung kann der Aufblick, der in dem Wort »Himmel« zugemutet wird, eine Orientierungshilfe bedeuten: Gott ist etwas über uns und weiter über alles sonst noch Wirkliche hinaus. Wenn Gott für uns wirklich sein soll, dann muß eine Grenze überschritten werden, die den Wesensbestimmungen des Göttlichen und des Menschlichen nach beide gerade unerbittlich trennt. Es muß also nach der Möglichkeit eines Überschreitens gefragt werden; nach dem, was in der Fachsprache der Philosophie als Transzendenz bezeichnet wird. Ist für uns Transzendenz zu Gott hin erreichbar? Es ist nicht sinnvoll, besonders angesichts der Vielfalt religiöser Erfahrungswelten, der wir uns heute gegenübergestellt sehen, eine solche Frage von vornherein mit dogmatischen Argumenten zu verneinen oder gar für unzulässig zu erklären. Schließlich bekennt der Apostel Paulus von sich selbst, eine Entrückung »bis in den dritten Himmel« erfahren zu haben (2. Korinther 12, 2). Aber Paulus macht auch gerade in diesem Zusammenhang deutlich, daß nicht dieser Weg, nicht der Weg der Ekstase, die im Evangelium angebotene Weise des Überschreitens darstellt: Nicht den Ekstatikem, nicht den religiös Starken gilt die Zusage der Gottesnähe, von der hier gesprochen wird, sondern den Schwachen: »Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.« (2. Korinther 12, 9) Damit ist aber unsere Frage nach der Möglichkeit, theologisch von »Transzendenz« zu sprechen, nicht beantwortet, sondern erst an die Stelle gebracht, wo eine Antwort beginnen kann. Der Ausdruck »Transzendenz« ist schon im Verlauf seiner philosophischen Bedeutungsgeschichte auf recht verschiedene Weise gebraucht worden. Er ist umso mehr einer Klarstellung bedürftig, wenn wir ihn theologisch verwenden wollen. »Transzendenz« bezeichnet nicht, wie man annehmen könnte, das Überschreitende, das Jenseitige. Das lateinische Wort, das ihm zugrundeliegt, muß vielmehr mit »Hinüberschreiten« übersetzt werden, beschreibt also einen Vorgang, einen Weg, nicht das Ziel. »... dies wahnwitzige dauernde Zurückgeworfenwerden auf den unsichtbaren Gott selbst - das kann doch kein Mensch mehr aushalten.« (18. Oktober 1931 an Helmut Rößler, GS. 1, S. 61). Aber zugleich hatte sich ihm schon die Notwendigkeit und Möglichkeit jener Wendung aufgedrängt, die er zuletzt, während seiner Haftzeit, so beschreibt: »Unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im 'Dasein für andere', in der Teilnahme am Sein Jesu ... Der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist das Transzendente.« (Widerstand und Ergebung, 1970, S. 414) Freilich macht nun die Spannung zwischen diesen beiden Aussagen auch etwas von der inneren Zerrissenheit, von der kaum erträglichen Belastung deutlich, unter der sich christliches Dasein vollzieht: zwischen neuerschlossener Transzendenz und einem entmutigenden Auf-sich-selbst-Zurückgeworfensein. Aber dieser versöhnende Tausch zwischen Gott und Mensch, der uns erst zu wahrhaft »Nächsten« machen kann, ist eben nicht nur ein moralischer Appell. In ihm stellt sich Gott nicht nur neben uns, sondern er kehrt zugleich bei uns ein. Nur dann können wir am Sein Jesu teilnehmen, wenn Gott in uns Transzendenz bewirkt, so daß wir über die Mauer springen können, in der unsere Selbstliebe uns einschließt. Diese Geistgegenwart Gottes ist freilich kein ruhender Zustand, keine Wesenseigenschaft der menschlichen Seele. Wir können immer nur neu um sie bitten: »Komm, Heiliger Geist, erfüll die Herzen Deiner Gläubigen und entzünd' in ihnen das Feuer Deiner göttlichen Liebe!« Nachdem wir diesen Weg des Fragens, Hörens und Weiterfragens durchmessen haben, möchten wir es wagen, auf die Frage »Wo ist Gott?« zu antworten: Gott ist gegenwärtig; er ist hier, wenn wir an uns seine Transzendenz geschehen lassen. Unsere Bruderschaft könnte den Sinn haben, daß in ihr und durch sie diese Transzendenz Gottes beispielhaft verwirklicht wird, daß sie ein Ort der Gegenwart Gottes ist. Diese Gegenwart Gottes ist keine nur moralische - auf unser Sollen, Wollen und Tun bezogene -, sie ist zuerst eine sakramentale , das ganze Sein durchdringende Wirklichkeit. Quatember 1992, S. 21-33 © Prof. Dr. Norbert Müller, Leipzig |
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