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Utopie und Wirklichkeit
von Norbert Müller

LeerVor 100 Jahren, im April 1892, erschien, gewissermaßen als Ausgabe letzter Hand, die um ein Vorwort vermehrte englische Version einer Schrift, der es bestimmt war, durch die ihr zuwachsende nahezu kanonische Autorität und eine fast grenzenlose Verbreitung das Bewußtsein vieler Millionen Menschen zu beeinflussen und so am Schicksal unseres Jahrhunderts unverwechselbar mitzuwirken: die Abhandlung »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« (»Socialism utopian and scientific«) von Friedrich Engels. In ihr wurde der Anspruch des Marxschen »dialektischen Materialismus« begründet und allgemeinverständlich dargestellt, als Geschichtsphilosophie und ökonomische Doktrin nicht nur das ideologische Fundament für eine unaufhaltsam vorwärtsdrängende politische Bewegung zu bieten, sondern im Sinne des im 19. Jahrhundert sich durchsetzenden Wissenschaftsverständnisses bewährte, keiner Berufungsinstanz unterworfene, naturgesetzliche Wahrheit zu sein. Es muß vor allen weiteren Erörterungen klar sein, daß dieser Anspruch spätestens seit den politischen Umwälzungen in Osteuropa im Jahre 1989 nicht nur in Frage gestellt, sondern grundsätzlich und endgültig widerlegt ist. Die marxistische Theorie selbst ermächtigt, ja zwingt zu diesem kategorischen Urteil: »Das Wahrheitskriterium letzter Instanz, das allen übrigen Methoden der Wahrheitsprüfung ... direkt oder indirekt zugrundeliegt, ist die Praxis«, lautet ein Schlüsselsatz marxistisch-leninistischer Philosophie (Anm. 1), und er berechtigt mindestens zu der Schlußfolgerung, daß die Theorie eines wissenschaftlichen Sozialismus, die Engels in der erwähnten Schrift darstellt, in der dort formulierten Form durch die historischen Tatsachen überholt, also an der Praxis gescheitert ist. Sie ist also im Sinne ihres eigenen Kriteriums nicht wahr und kann nicht länger als wissenschaftlich vertretbar betrachtet werden. Der Überschritt von der Utopie zur Wissenschaft, den Engels in seiner Schrift proklamiert hat, ist mißlungen. Welchen Erkenntniswert hat eine gescheiterte Theorie? Hat es Sinn, gewissermaßen im Rückblick nach ihrer Beziehung zur Wirklichkeit zu fragen? Wir müssen uns auf diese Frage ernsthaft einlassen, bevor wir sie mit Gründen beantworten können.

1. »Socialism scientific«

LeerFriedrich Engels hat vor 100 Jahren im Schlußteil seiner Schrift ein weltgeschichtliches Tableau entworfen, das die gesellschaftliche Entwicklung vom Mittelalter bis in die von ihm vorausgesagte revolutionäre Zukunft aus der Sicht des historischen Materialismus in ihren charakteristischen Merkmalen eindrucksvoll vor Augen stellt. Es bietet zuerst - unter dem Aspekt der sich ständig wandelnden Funktion der Warenproduktion in der Gesellschaft - einen allerdings sehr gedrängten Rückblick auf den mittelalterlichen Hintergrund (»Kleine Einzelproduktion. Produktionsmittel für den Einzelgebrauch zugeschnitten, daher urwüchsig-unbehülflich, kleinlich, von zwerghafter Wirkung ...«), der mit seinen abwertenden Prädikaten zu erkennen gibt, daß die sozialistische Theorie des ausgehenden 19. Jahrhunderts auch nur den leisesten Anschein einer romantischen Verklärung der Vergangenheit zu vermeiden suchte. Zweitens folgt eine ausführliche Analyse der neuzeitlichen Entwicklung und der zeitgenössischen Situation unter dem zusammenfassenden Leitbegriff »Kapitalistische Revolution«. Die Ausbildung kapitalistischer Verhältnisse bedeutet einen Fortschritt durch die Konzentration und damit Intensivierung der Produktion, ist aber durch den »Grundwiderspruch« des Kapitalismus belastet, »aus dem«, wie Engels betont, »alle Widersprüche entspringen, in denen die heutige Gesellschaft sich bewegt«:

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Leer»Die Produktion ist ein gesellschaftlicher«, d.h. nicht mehr individueller Entscheidung verfügbarer, »Akt geworden; der Austausch und mit ihm die Aneignung bleiben... Akte des einzelnen.« Der marxistische Lehrsatz., den Engels im Druck hervorhebt, lautet: »Das gesellschaftliche Produkt wird angeeignet von Einzelkapitalisten.« Die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bedeuten die »Scheidung des Produzenten« (d.h. des Arbeitenden) »von den Produktionsmitteln« und damit die »Verurteilung des Arbeiters zu lebenslänglicher Lohnarbeit«. Der Kapitalismus, Ergebnis eines Prozesses, dem die positiv wertbesetzte Bezeichnung einer »Revolution« zugebilligt wird, entwickelt sich also durch seinen »Grundwiderspruch« zu einem spannungsreichen Klassenkampf: »Gegensatz von Proletariat und Bourgeoisie.« Der Grundwiderspruch führt auch in anderer Hinsicht zu belastenden Spannungen; Engels skizziert in Stichworten: »Zügelloser Konkurrenzkampf. Widerspruch der gesellschaftlichen Organisation in der einzelnen Fabrik und der gesellschaftlichen Anarchie in der Gesamtproduktion.« Die krisenhafte Fortsetzung dieser Entwicklung vollzieht sich in dem Bild, das Engels entwirft, unter dem »Zwangsgesetz der Konkurrenz«:

LeerDie industriellen Produktionsanlagen werden technisch vollkommener; dadurch werden einerseits Arbeitskräfte überflüssig. Die nunmehr arbeitslosen Menschen bilden eine »industrielle Reservearmee«; andererseits kommt es zu »Überproduktion, Überfüllung der Märkte«. Die »kapitalistische Form der Produktion« verbietet »den Produktivkräften ... zu wirken, den Produkten zu zirkulieren«: »Der Widerspruch hat sich geweigert zum Widersinn«. Die Konsequenz aus dieser Entwicklung zieht Engels mit dem kategorischen Urteil: »Die Bourgeoisie ist überführt der Unfähigkeit, ihre eigenen gesellschaftlichen Produktivkräfte fernerhin zu leiten.« Die Situation der eigenen Gegenwart sieht Engels durch eine erzwungene, freilich nur »teilweise Anerkennung des gesellschaftlichen Charakters der Produktivkräfte« bestimmt: Aktiengesellschaften, Trusts, später der Staat eignen sich die »großen Produktions- und Verkehrsorganismen« an: »Die Bourgeoisie erweist sich als überflüssige Klasse.« Der dritte Aspekt des Gesamtbildes, auf den hin die ganze Darstellung orientiert ist, gilt der im Sinne von Engels unausweichlichen Zukunftsentwicklung, deren Stichwort lautet: »Proletarische Revolution«. Nach dem streng beobachteten Gesetz dialektischer Logik muß sich nun hier die »Auflösung der Widersprüche« vollziehen. Engels skizziert den Vorgang mit folgenden Worten:

Leer»Das Proletariat ergreift die öffentliche Gewalt und verwandelt kraft dieser Gewalt die den Händen der Bourgeoisie entgleitenden gesellschaftlichen Produktionsmittel in öffentliches Eigentum. Durch diesen Akt befreit es die Produktionsmittel von ihrer bisherigen Kapitaleigenschaft und gibt ihrem gesellschaftlichen Charakter volle Freiheit, sich durchzusetzen. Eine gesellschaftliche Produktion nach vorbestimmtem Plan wird nunmehr möglich. Die Entwicklung der Produktion macht die fernere Existenz verschiedener Gesellschaftsklassen zu einem Anachronismus. In dem Maß wie die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion schwindet, schläft auch die politische Autorität des Staats ein. Die Menschen, endlich Herren ihrer eignen Art der Vergesellschaftung, werden zugleich Herren der Natur, Herren ihrer selbst - frei.« (Anm. 2)

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LeerGerade diese letzten Sätze, mit denen Engels seinem Geschichts- und Zukunftstableau die entscheidenden Glanzlichter aufsetzt, machen die erschütternde und zugleich groteske Diskrepanz erkennbar, die sich zwischen marxistischer Theorie und der Wirklichkeit herausgebildet hat, nachdem jene in einem welthistorischen Großexperiment sieben Jahrzehnte hindurch die Möglichkeit gehabt hat, sich zu bewähren: Die Theorie ist falsifiziert; der Sozialismus als Wissenschaft im Sinne der marxistisch-leninistischen Schulterminologie ist tot, so tot, daß man versucht ist, auf ihn die drastischen Worte anzuwenden, mit denen Dickens sein »Weihnachtslied in Prosa« im Hinblick auf die dort auftretende Spukgestalt Marley beginnt: »Marley was dead: to begin with. There is no doubt about that. The register of his burial was signed ... Old Marley was dead as a door-nail.« Socialism scientific is dead as a door-nail.

LeerWas damit aber nicht entschieden ist, ist die Frage, ob nicht in der Theorie, die wir uns anhand ihrer kurzen Zusammenfassung durch Engels vor Augen geführt haben, einzelne Wahrheitsmomente enthalten sind, die wir gerade in unserer heutigen Situation und angesichts der sich in ihr aufdrängenden noch ganz unabsehbaren Verantwortungen nicht vernachlässigen sollten. Dabei muß zunächst klar sein, daß, gerade auch für eine wissenschaftliche Betrachtungsweise, keineswegs alle Behauptungen und Urteile, auf die sich die marxistische Theorie stützt, die ökonomische, soziale und politische Wirklichkeit verfehlen, auf die sie sich beziehen. Der große Erfolg, den diese Theorie in den weltweiten Machtverteilungskämpfen durch etwa ein Jahrhundert hin haben konnte, liegt ja darin begründet, daß auf sie das zutraf, was Marx (in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem berühmten Wort vom »Opium des Volks«) von der Religion gesagt hat: Sie war für viele »Protestation gegen das wirkliche Elend ...,, der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt ..., der Geist geistloser Zustände« (Anm. 3).

LeerZum Scheitern einer Theorie ist es ja nicht nötig, daß jede einzelne Hypothese, die zu ihr beigetragen hat, falsch ist; es genügt, daß eine von ihnen sich als unwahr oder auch nur unvollständig erweist. Die eigentliche Leistung der marxistischen Theorie liegt ja zweifellos in der Analyse der »kapitalistischen Revolution« und ihres Grundwiderspruchs; ihre Irrtümer in der mit so großem Selbstbewußtsein vorgetragenen Prognose liegen auf der Hand. Aber die Weltwirkung des Marxismus ging doch wohl nicht oder nicht in erster Linie von der Treffsicherheit seiner Analysen aus, sondern von den Zukunftsperspektiven, die er eröffnete. Faszination übte nicht die wissenschaftliche Stichhaltigkeit seiner Thesen aus: diese hatte in einer Periode exzessiver Wissenschaftsgläubigkeit nur eine zusätzlich bekräftigende Funktion. Es war das unerhörte Hoffnungspotential, das er freizusetzen vermochte, was ihm seine Anhänger gewann und seine Macht begründete. Von daher legt sich die Frage nahe, ob nicht, dem eigenen Selbstverständnis zuwider, das utopische Moment im marxistischen Sozialismus seinen wissenschaftlichen Elementen gegenüber seine eigene und eigentümliche Wirklichkeitsbeziehung besitzt, der nachzufragen gerade nach dem historischen Scheitern der dogmatisierten Theorie sinnvoll sein könnte.


2. Sozialismus als Utopie

LeerEinliniges Fortschrittsdenken kann den Weg »von der Utopie zur Wissenschaft« nur als Überwindung einer vorwissenschaftlichen Denkform verstehen; der »wissenschaftliche Sozialismus« bedeutet dann »das Ende der Utopie« (Anm. 4). Aber schon eine stilistische Betrachtung des vorhin zitierten Schlüsseltextes von Engels läßt hier gewisse Zweifel aufkommen. Ist in ihm die Utopie wirklich an ihr Ende gekommen, »aufgehoben« im dreifachen Sinn Hegelscher Dialektik in der kalten Präzision wissenschaftlicher Prognose? Engels bietet in seiner Kurzdarstellung wohl nüchterne gesellschaftskritische Analyse: Er stellt die für ihn relevanten Tatbestände in einem übersichtlichen Bild vor Augen. Aber unversehens mischen sich in seinen Sprachgestus auch schon dort, wo es um die sachliche Vermittlung ökonomisch-soziologischer Informationen geht, Elemente geschichtsphilosophischer Wertung, eines sich gegen Ende der Abhandlung deutlich verstärkenden politisch-moralischen Pathos ein:

LeerSchon die mittelalterliche Produktionsweise trägt den Keim der »Anarchie« in sich; der Übergang zum Kapitalismus wird zwar (positiv) als »Revolution« gewertet, führt aber zu einem »Grundwiderspruch«, der sich zum »Widersinn« steigert und in dem die Bourgeoisie ihrer »Unfähigkeit« überführt wird, sich schließlich als »überflüssige Klasse« erweist; das Proletariat dagegen macht in der letzten Phase der vorausgesagten Entwicklung nicht nur die Produktionsmittel und zugleich sich selber frei, sondern es beseitigt auch »die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion«, bringt »die politische Autorität des Staates« zum Verschwinden und macht die Menschen überhaupt zu »Herren der Natur, Herren ihrer selbst«. In der Schlußsequenz des Engelsschen Textes wird dann »diese weltbefreiende Tat« als »der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats« gefeiert; dem »wissenschaftlichen Sozialismus« die Aufgabe zuerkannt, »theoretischer Ausdruck der proletarischen Bewegung« zu sein. Die Theorie folgt also der politischen Bewegung, sie ergründet »ihre geschichtlichen Bedingungen«, begründet aber nicht deren vorbestimmte Richtung. Sie vermittelt Einsicht, aber eigentlich keine Innovation.

LeerBevor wir unsere Betrachtung fortsetzen, dürfte es angebracht sein, daß wir uns in gebotener Kürze darüber verständigen, was wir im Folgenden als »Utopie«, »utopisch« bezeichnen wollen. Eine brauchbare, nicht ideologisch eingeengte neuere Begriffsbestimmung, die uns hier hilfreich sein kann, besagt, »daß politische Utopien Fiktionen innerweltlicher Gesellschaften« seien, »die sich entweder zu einem Wunsch- oder einem Feindbild verdichten«, wobei »eine präzise Kritik bestehender Institutionen und sozio-politischer Verhältnisse« mit einer »durch dachte(n) und rational nachvollziehbare(n) Alternative« konfrontiert wird (Anm. 5). Gerade die klassischen Utopien der Neuzeit, also etwa die »Utopia« von Thomas Mores, die der Gattung den Namen gab (1518), Johann Valentin Andreaes »Christianopolis« (1619) und Francis Bacons »New Atlantis« (1627), ebenso aber auch das antike Vorbild, Platons »Politeia«, auf das diese Literaturgattung letztlich zurückzuführen ist, weisen die hier zusammengefaßten Grundzüge in charakteristischer Synthese auf: Kritik und Alternative, auf einen fiktiven Wirklichkeitshorizont projiziert. Utopien sind, freilich in einem weiteren und wesentlicheren Sinn, als es die von einem bedauerlichen Niveauverlust bedrohte literarische Gattung heute im allgemeinen zu leisten vermag, »science fiction«, eine Verbindung von Wissenschaft und phantasievoller Prognose, von Philosophie und Belletristik und auch, hier wäre die oben zitierte Definition zu ergänzen, von Rationalem und Emotionalem. Eine Utopie kann demnach auf Wahrheit beruhen, wenn die Grundannahmen, auf die sie sich in ihrer Kritik stützt, richtig sind; sie kann sich bewähren, wenn sie dem ethischen und politischen Bewußtsein neue, weiterführende Impulse vermittelt; sie kann bestätigt werden, wenn sich die Alternativen, die sie anbietet, als erfüllbare, als schließlich erfüllte Prognosen erweisen. Eine Utopie kann aber wegen ihrer komplexen Struktur nicht im strengen wissenschaftlichen Sinn als Ganzes wahr oder falsch sein.

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LeerBlicken wir von dieser Einsicht aus zu dem Text von Engels zurück, so fällt es nicht schwer, die Vermutung bestätigt zu sehen, daß hier keineswegs die Mischform der utopischen Darstellungsweise durch lupenreine Wissenschaftlichkeit verdrängt ist. Wohl stützt sich die dort durch Engels geübte Kritik auf einige richtige Grundannahmen; die Alternative, die er darbietet, muß aber Fiktion bleiben. Zudem sahen wir, daß Engels schon im Sprachstil die für die Gattung Utopie charakteristische Verbindung von rationaler Argumentation und emotionaler Agitation zeigt. Als Utopie hat sich dieser Gesellschaftsentwurf vielleicht in dem oben angedeuteten und eingegrenzten Sinn - wenn man ihre tiefgreifende Wirkung auf das Denken aller von den Problemen Betroffenen würdigt - bewährt; bestätigt aber wurde sie durch die Geschichte nicht.

LeerDer Sozialismus, so dürfen wir jetzt sagen, hat sich selbst mißverstanden, wenn er das Moment des Utopischen, das er in sich trug, verleugnete. Wir andererseits begeben uns auf einen nicht unbedenklichen Weg, wenn wir ihm den Charakter einer Utopie zubilligen. Der Sozialismus ist wissenschaftlich nicht »wahr«, weil er wegen seiner fiktiven Elemente wissenschaftlich nicht »falsch« sein kann. Aber gewinnt er nicht gerade dadurch Heimatrecht in einer anderen, einer geistigen Welt, in der alle großen Utopien ihren legitimen Ort haben, allen voran Platons Entwurf vom Idealstaat, das Musterbild aller nicht bestätigten Utopien? In dieser Frage liegt eine Paradoxie, die uns wohl bewußt ist, aber unvermeidlich scheint: Das Wort »U-topia« lautet in seiner Grundbedeutung »Nicht -Ort«; wo soll der Ort zu suchen sein, den wir ihr im Widerspruch zu ihrem Namen zuerkennen? Diese Frage steht in innerer Beziehung zu einer weiteren, auf die es uns in unserem Zusammenhang ganz wesentlich ankommt: Könnte es sein, daß eine Utopie, obwohl sie nicht »wahr« im wissenschaftlichen Sinn sein kann, und obwohl sie durch die Geschichte nicht bestätigt wurde, Wahrheit in einem anderen, aber unverlierbaren Sinn vermittelt?

LeerWir dürfen vor dieser Frage nicht zurückschrecken, als würde hier der Lehre von einer »doppelten Wahrheit« das Wort geredet. Die Wahrheit kann letztlich nur eine sein, daran wollen wir festhalten. Zweifeln dürfen wir allerdings daran, ob diese eine Wahrheit uns allein in mit den Mitteln der Empirie zugänglich, ob ihr Bereich durch die Möglichkeiten wissenschaftlicher Veri- und Falsifikation zureichend abgesteckt wird. Auch für das, was uns unser Glaube an Erkenntnis erschließt, erheben wir einen Wahrheitsanspruch, der sich nicht durch Beweise decken läßt. Wir wollen freilich nicht der Versuchung verfallen, eine mögliche Wahrheit nicht-bewährter Utopien zu schnell und zu bequem in die Nähe von Glaubenswahrheiten zu rücken (ohne die soeben hergestellte Beziehung andererseits sofort wieder ableugnen zu wollen): Utopien sind, so hatten wir uns sagen lassen, »Fiktionen innerweltlicher Gesellschaften«. Unter welchen Bedingungen, so wäre also zu fragen, könnten utopische Vorstellungen als wahr betrachtet werden - ohne wissenschaftlich verifizierbar zu sein -, die wir auf einen innerweltlichen Erwartungshorizont projizieren?

LeerEs darf daran erinnert werden, daß auch von der Wahrheit eines Kunstwerks gesprochen werden kann und daß wir das als legitim empfinden, ohne nach einer wissenschaftlichen Verifikationsmöglichkeit zu fragen; in ähnlicher Weise können auch Märchen und Mythen auf ihre Wahrheit hin betrachtet werden. Tatsächlich gibt es ja literarische Utopien, denen künstlerischer Rang nicht abzusprechen ist - Platons großer Dialog vom Staat ist auch hier an erster Stelle zu nennen -, und schon die Grundidee dieser Literaturgattung, die sich ja auch in dem Namen »Utopia« ausdrückt, die Versetzung in ein Land »Nirgendwo«, ist eigentlich ein Märchenmotiv.

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LeerEine Gleichsetzung von utopischer mit künstlerischer oder mythischer Wahrheit ginge dennoch nicht ohne Rest auf; es wäre dabei das rationale Moment vernachlässigt, das die von uns übernommene Begriffsbestimmung der Utopie zuspricht und das im marxistischen Selbstverständnis den Anlaß bildete, die sozialistische Utopie zur »Wissenschaft« umzudeuten. Es gibt also etwas wie eine »utopische Vernunft«, deren eigentümliche Wirklichkeitsbeziehung sich nicht von selbst versteht, sondern kritisch untersucht werden muß.

Kritik der utopischen Vernunft Anm. 6

LeerIhre Rationalität macht zugleich die Ehre und die Gefahr jeder Utopie aus: ihre Ehre, weil dieser Wesenszug die utopische Fiktion nachvollziehbar, durchsichtig und damit auch korrigibel macht und ihr einen Wesenszug von Offenheit und Freiheit verleiht; ihre Gefahr, Gefährdung und Gefährlichkeit zugleich, weil die rationale Schlüssigkeit einer Anschauung die von ihr Ergriffenen leicht dazu verleiten kann, sie für unwiderlegbar, unüberholbar, für schlechthin unfehlbar zu halten. In diesem Fall verliert aber die Utopie die Ehre ihrer Rationalität; sie dient nicht mehr der Idee, der sie ihre Existenz verdankt, sondern versucht, sie sich dienstbar zu machen: Sie wird zur Ideologie. Klassischer Beleg für diesen fatalen Unfall ist der vieltausendmal als Losung zitierte, keines Kommentars bedürftige Satz von Lenin: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.« (Anm. 7).

LeerEine Kritik der utopischen Vernunft müßte versuchen, deren Ehre zu wahren oder wiederherzustellen, indem sie jene Gefährdungen und Gefährlichkeiten aufdeckt, das heißt den aus der Rationalität der Fiktion abgeleiteten totalitären Geltungsanspruch als Selbsttäuschung entlarvt und damit die Utopie in den Bereich zurückverweist, in dem sie auf ihre Weise der Wahrheit dienen kann, so daß ihr schließlich selbst Wahrheit zugesprochen werden kann.

LeerEs ist also den großen Warnungen vor den totalitären Gefahren, die von utopischem Denken ausgehen können, recht zu geben. Vor allem ist auf Karl Popper hinzuweisen, der in seinem Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« (1944, deutsch 1957) nicht nur mit der marxistischen, sondern schon mit der platonischen Utopie hart ins Gericht geht. Popper kritisiert nicht nur den Zwangscharakter einer Gesellschaftsverfassung, die nach den Forderungen der Utopisten konstruiert würde und wurde, sondern vor allem auch den Zwangscharakter einer Denkhaltung - von Popper »Historizismus« genannt -, die meint, aus dem überschaubaren Geschichtsverlauf Gesetze für die Zukunftsentwicklung ableiten zu können und sich das Recht nimmt, diese der Wirklichkeit auch gegen den Willen der betroffenen Menschen aufzunötigen. Wenn geschichtsphilosophisches Denken seine Ergebnisse absolut setzt, kann es zu mythischen Überhöhungen kommen, wie sie unserem Jahrhundert voller Schuld und Leid ihre unauslöschlichen Spuren aufgeprägt haben: Ernst Cassirer, ein anderer großer Philosoph dieses Jahrhunderts, hat sein letztes Buch »Der Mythus des Staates« (1949) diesen Zusammenhängen gewidmet.

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LeerWir wollen uns aber dennoch nicht davon abschrecken lassen, auch über eine mögliche Ehrenrettung der Utopien nachzudenken. Sie wäre, wie wir meinen, durch eine Besinnung darüber zu erreichen, ob es, wenn schon keine Verifikation, so doch bestimmte Wahrheits- oder vielleicht noch richtiger Bewertungskriterien für utopische Vorstellungen geben könne. Ästhetische und theologische Gesichtspunkte wollen wir hier ausschließen, obwohl sie bei der Gesamtwürdigung eines utopischen Entwurfs eine Rolle spielen könnten; wir hatten uns ja bereits darauf verständigt, daß eine mögliche Wahrheit der Utopie nicht mit künstlerischer oder religiöser Wahrheit schlechthin gleichgesetzt werden dürfe. Die Rationalität der Utopie ist nach unserem Verständnis in ihrem Begriff mitgegeben, kann also für eine Wertung nicht in Anschlag gebracht werden. Wir möchten einen schon beiläufig ins Spiel gebrachten Gedanken hier aufnehmen und weiterführen: Jede Utopie verdankt einer Idee ihr Dasein und ist darauf angelegt, ihr zu dienen. Freilich bedürfte es nun einer eingehenden Untersuchung, was unter dem Wort »Idee« genau zu verstehen sei. Für unseren Zusammenhang dürfen wir uns aber vielleicht mit einer andeutenden Begriffsbestimmung begnügen: Mit »Idee« bezeichnen wir einen grundlegenden Leitgedanken, eine Leitvorstellung, ein Leitbild.

LeerWir wollen nun versuchen, wie sich eine bestimmte Utopie einer Idee zuordnen läßt. Wenn wir uns mit dieser Absicht Platons Staatsutopie, seiner »Politeia« zuwenden, dürfen wir uns nicht dadurch verwirren lassen, daß Platon in diesem Werk seine ganz spezielle Lehre von den Ideen entwickelt. Obwohl das gerade im Sinne unserer Thematik kein Zufall ist, muß festgehalten wenden, daß unser Wortverständnis von »Idee« nicht den strengen Anforderungen einer philosophischen Terminologie entspricht, sondern bewußt in einer gewissen umgangssprachlichen Allgemeinheit verbleibt. Wenn wir nun in diesem Sinn nach der Platons »Politeia« zugrundeliegenden Idee fragen, müssen wir besonders auf die Bedeutung achten, die der »paideia«, der Menschenbildung, im Entwurf eines Idealstaates zugemessen wird. Diese Bildung, die Leibes- und Geistesübung zugleich umfaßt, dient der Erhaltung des Staates, weil sie allein die Voraussetzung dafür schafft, daß diejenigen die Herrschaft ausüben können, die das Wesen der Gerechtigkeit erkannt haben, und das sind die »Liebhaber der Weisheit«, die Philosophen.

LeerDie Idee, der die Utopie Platons dient, ist also die Verbindung und Versöhnung von Geist und Macht. Platon hat dieser Idee auch in der politischen Wirklichkeit seiner Zeit zu dienen versucht; er ist dabei wohl daran gescheitert, daß die Bildungsfähigkeit und Lernwilligkeit der Mächtigen nicht den Anforderungen entsprach, die Platon an sie stellte. Platon selbst aber hat sich als lernwillig erwiesen und sein utopisches Denken für Korrekturen offengehalten; im Atlantismythos seines fragmentarisch überlieferten Dialogs »Kritias« und in dem großen Spätwerk über die »Gesetze« hat er weitere und veränderte utopische Entwürfe hinterlassen und so jeden totalitären Geltungsanspruch für ein einzelnes seiner fiktiven Gesellschaftsmodelle selbst widerlegt. Gerade dadurch aber bleibt sein Beitrag zur Wahrheit der Utopien, die Forderung einer harmonischen Zuordnung vorn Geist und Macht, ja der Unterordnung der Macht unter den Geist in unaufhebbarer Gültigkeit.

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LeerWagen wir es, in gleicher Weise nach der Wahrheit der sozialistischen Utopie zu fragen? Sie dürfte am unmittelbarsten dort zu finden sein, wo sich ihre Theorie am wenigsten wissenschaftlich, am offensten utopisch darbietet. Das ist in dem von uns betrachteten Text von Engels an der Stelle der Fall, an der die Menschen als »Herren ihrer selbst-frei« vor dem inneren Auge erscheinen. Auch hier könnte, wie mir scheint, eine Idee erkennbar werden: die Leitvorstellung einer harmonischen Zuordnung von Arbeit und Freiheit, einer Unterordnung der Arbeit unter die Freiheit. Diese Idee hat tiefe Wurzeln in unserer eigenen christlichen, biblischen Vorstellungswelt. Im Schöpfungspsalm 104 wird in einem unvergeßlichen Bild der Mensch gezeichnet, wie er am Morgen hervortritt: Hinter ihm liegt die Nacht, in der die wilden Tiere auf Beute ausgehen und mit ihrem Gebrüll ihr Lebensrecht bekunden; wenn aber die Sonne aufstrahlt, »geht der Mensch hinaus an sein Tagwerk, an seine Arbeit bis zum Abend« (Vers 23). Im Wort erscheint hier der Mensch lediglich als das Wesen, das durch »Arbeit« gekennzeichnet ist - vom gleichen Sprachstamm wie »Arbeit« ist im Hebräischen auch »Knecht«, »Sklave« abgeleitet. Im Bild aber steht der Mensch hier vor uns im Morgenlicht der Schöpfung, aufrecht, den Blick frei erhoben von der Erde, den Mund befreit zum Organ der Sprache, die Hände entfesselt zu freiem Wirken. Wo die Utopie des sozialistischen Denkens diesem Leitbild dient, bleibt sie der ihr anvertrauten Wahrheit treu; wo sie es verleugnet, verliert sie ihren Sinn.

LeerWie steht es also mit der Beziehung zwischen Utopie und Wirklichkeit? Wir wollen unsere Betrachtung nicht mit einer abschließenden Behauptung, sondern mit einer Erwägung beenden, die die Fragemöglichkeiten offenhält. Könnte es sein, daß dem Eifer, Utopien verwirklichen zu wollen, ein Kurzschluß zugrunde liegt? Könnte es sein, daß die Utopie gar nicht in Realität umgesetzt werden, sondern der Stachel bleiben will, der jede real existierende Wirklichkeit mit der Wahrheit der Ideen konfrontiert, denen sie dient? Und noch weiter und unvorsichtiger gefragt: Könnte es sein, daß nicht nur Platons »Staat«, sondern der Staat selbst eigentlich eine Utopie ist, die dem Leitbild wohlgebildeter Menschlichkeit in Geist und Freiheit dienen möchte, ohne je ohne Einschränkung verwirklicht werden zu können und zu wollen? Jede Ordnung hätte sich an ihr zu messen, keine aber dürfte sich autoritär mit ihr identifizieren. Ihr möglichst nahezukommen, könnte das Ziel eines edlen politischen Wettstreits werden. Die Ehre der Utopie liegt darin, in dieser Weise der Wirklichkeit zu dienen, sich der Wirklichkeit mitzuteilen, nicht aber, die Wirklichkeit sich zu unterwerfen.

Anmerkungen:


1: Alfred Kosing Art. »Wahrheit«. ln: (marxistisch-leninistisches) Philosophisches Wörterbuch. Bd.2, Leipzig, 1974, S. 1274
2: Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. (= MEAW). Bd. V Dietz Verlag, Berlin, 1972, S. 474-476.
3: Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung (1844). MEAW.1, S.10.
4: Winfried Schröder: Art. »Utopie«. In: Philosophisches Wörterbuch (s. Anm 1). Bd. 2, S.1254.
5: Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt,1991, S. 2 f.
6: Vgl. dazu Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Utopieforschung. Bd. 1. Frankfurt, 1985, S. 7.
7: Wladimir Iljitsch Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (1913). Hier zitiert nach: Lenin: Über Hegelsche Dialektik. Leipzig, 1970, S.11.

Quatember 1992, S. 77-87
© Prof. Dr. Norbert Müller, Leipzig

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-15
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