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von Udo Schulze |
Vieles in der Erforschung des Verhältnisses der Gottesdienstordnungen im Judentum und im Christentum ist noch rein hypothetisch. Die Ouellenlage der entscheidenden Jahrhunderte, der beiden ersten christlichen Jahrhunderte ist dünn. Oft müssen Rückschlüsse aus der Zeit nach 200 gezogen werden. Dabei kann die Entwicklung in der Frühzeit der Kirche völlig anders gewesen sein, als man es in dicken Büchern liest. Wahrscheinlich ist es oft anders gewesen. Vielleicht sind die jüdischen Wurzeln, auf die wir stoßen, andere, als wir sie heute zu entdecken meinen, und vielleicht wird man nach einer weiteren Generation sie wieder anders entdecken und deuten müssen. Aber es gibt sie allemal. Es gibt jüdische Wurzeln nicht nur in der Anfangszeit. Der christliche Gottesdienst hat sich in seiner Geschichte häufig auf seine Ursprünge zurückbesonnen - und das gerade auch zu Zeiten, wo er eigentlich die Tendenz hatte, sich vom Stamm aus derselben Wurzel zu lösen. Man entdeckte neu, was man vorher übersehen hatte. Das macht Hoffnungen für das Jahr 1992 und die folgenden Jahre, daß auch da Neuentdeckungen gemacht werden können. Wir kennen die Begründung aus dem Neuen Testament: Am ersten Tag der Woche ist der Auferstehungstag Jesu, und Johannes 20 macht besonders deutlich, wie immer wieder am ersten Tag der Woche die Gemeinde sich versammelt; Jesus erscheint überhaupt nur am ersten Tag der Woche, nämlich am Auferstehungstag, und dann erst wieder über acht Tage, nicht zwischendrin. Diesen Tag feiert man. Dieser Tag bekommt eine weitere Bedeutung. Er ist ja der erste Schöpfungstag vom ersten Buch Mose her, der Tag, an dem das Licht geschaffen wurde, oder genauer, an dem die Finsternis von dem Licht getrennt wurde. Und mit dem ersten Tag der Woche, mit dem Tag der Auferstehung Jesu, fängt Gott gleichsam die Schöpfung noch einmal wieder an. Der erste Tag der Woche ist immer Hinweis auf die neue Schöpfung, der siebte Tag der Tag, an dem die alte Schöpfung immer wieder zur Ruhe kommt. In der späteren christlichen Tradition wird sich dann beides miteinander verbinden. Man überträgt die Gebote der Sabbatruhe auf den Sonntag. Wir sollten trotzdem nicht, wenn wir Sonnabend oder Sonntag meinen, vom Wochenende reden. Das ist reine Gedankenlosigkeit. In der Gestaltung der Woche finden wir bei der ältesten Christenheit dieses Verhältnis von Nähe und Distanz auch an anderen Stellen. Es ist alte jüdische, zumindest pharisäische Tradition, zweimal in der Woche zu fasten, am Montag und am Donnerstag. Die Christenheit übernimmt es; darin steht sie in der Tradition. Aber wieder wechselt sie die Tage. Sie nimmt den Mittwoch und den Freitag als Fastentage, und darin zeigt sich wieder, wie auch dieser Teil christlichen Lebens ganz an Jesus Christus gebunden wird; denn das sind die Tage, die mit seinem Leiden zusammenhängen. Feiert man am ersten Tag der Woche die Auferstehung, so begeht man am vierten und am sechsten Tag den Verrat und den Tod Jesu Christi und setzt so jüdische Tradition in eine neue Tradition um. Man verändert, ohne daß man aufgibt. Man lebt ebenfalls weiterhin im Gefüge des jüdischen Tages. Selbstverständlich fängt für die Christen, wie für das Judentum, der Tag nicht um Mitternacht, sondern mit Sonnenuntergang an. »Es ward Abend und es ward Morgen - ein erster Tag«, sei heißt es in Genesis 1. Mit dem Abend beginnt auch der christliche Tag. Wir wissen das bis heute, denn wir beginnen die Feier des 25. Dezember am Abend des 24. Dezember; der Abend des 24. Dezember ist der Abend, der zum 25. Dezember gehört. So fängt Weihnachten an. Wochenschlußandachten, Vorabendmessen in unserer heutigen Zeit verdeutlichen diese uralte Tradition - manchmal mehr unbewußt - wieder neu. Es gibt eine eigentümliche Entwicklung in der alten Christenheit, die eine sehr große Nähe zum Synagogengottesdienst erkennen läßt, zumindest in einer altchristlichen Landschaft, im antiochenisch-syrischen Raum, das heißt in der Landschaft, in der ja auch Palästina liegt und in der die Urgemeinde und die Anfänge des Judenchristentums zu Hause waren: den Gottesdienst der syrisch-antiochenischen Kirche. Seit wenigen Jahren haben wir Gemeinden dieser Kirche in Deutschland, z.B. im oldenburgischen Delmenhorst. Der Gottesdienst dieser Kirche hat bis heute die Lesung von Thora und Propheten. Wie in der Synagoge werden diese beiden Texte der hebräischen Bibel Sonntag für Sonntag, außer in der Osterzeit, wo man nicht aus der hebräischen Bibel liest, gelesen. Aber man ergänzt, man bleibt nicht stehen bei Thora und Propheten. Man ergänzt und fügt die apostolischen Brieflesungen und die Worte und Geschichten des Herrn aus den Evangelien an, so daß der syrische Gottesdienst regelmäßig vier Schriftlesungen hat: Thora, Propheten, Epistel und Evangelium. Aber mit dieser Reihung beginnt zugleich eine neue Wertung. Im Synagogengottesdienst ist die Thora die eigentliche Hauptlesung. Die Thora wird festlich aufgehoben aus dem Thoraschrein, und die Prophetenlesung wird angehängt. Im christlichen Gottesdienst werden die Akzente - und hier haben wir jetzt wieder Nähe und Distanz - völlig anders gesetzt. Die Thora bleibt an der ersten Stelle, aber sie ist am weitesten vom Evangelium entfernt. »Das Gesetz ist nebeneingekommen« (Römer 5,20) - weit von Christus, so wird hier empfunden. Die Propheten sind einen Schritt näher. Sie sind das eigentliche Verheißungswort der hebräischen Bibel. Die Apostel, von denen wir die Briefe haben, sind die Jünger des Herrn. Dann begegnet er uns im Evangelium selbst. Und so, wie die Thorarolle im Synagogengottesdienst ausgezeichnet wird, wird in den christlichen Kirchen, die an Sonn- und Feiertagen festliche Hochämter feiern, bis heute das Evangelienbuch feierlich ausgezeichnet. Da wird geräuchert, da werden Kerzenprozessionen veranstaltet, und da ist es der besondere Lektor, mindestens ein Diakon, der aus diesem Buch lesen darf, während aus den anderen Büchern auch andere Lektoren lesen. Distanz und Nähe - es bleiben die alten Lesungen, aber die Wertung kehrt sich um: eine aufsteigende Linie von der Thora zum Evangelium. So ist es vielleicht fast natürlich, daß andere christliche Liturgie-Bereiche die Thoralesung nicht kennen, vielleicht nicht gekannt haben - wir wissen es nicht. Überliefert ist sie nur aus dem syrisch-antiochenischen Raum. Die Prophetenlesung ist sonst überall die erste einer dreigliedrigen Lesung. Auch sie fällt schon im Mittelalter in den abendländischen Liturgien weg, nur die Meßordnung von Mailand behält sie bei und hat bis heute drei Lesungen. Daß es in der neueren evangelischen und auch römisch-katholischen Liturgik Bestrebungen gibt, auf irgendeine Weise die drei Lesungen wiederzugewinnen, das steht auf einem anderen Blatt. Aber hinweisen möchte ich doch auf die Lima-Liturgie und die Vorschläge in der »Erneuerten Agende.« Später hat das benediktinische Mönchtum dies etwas gemildert. Benedikt schreibt vor, wöchentlich einmal alle 150 Psalmen zu beten, und das nachkonziliare moderne Benediktinertum verteilt sie auf vierzehn Tage. Das Pensum wird geringer, aber das Mönchtum lebt aus den Psalmen. Es ist wohl immer so gewesen, daß da, wo die Christenheit neue Impulse empfangen hat, das Leben aus den Psalmen eine große Rolle gespielt hat. Die Reformation Luthers ist ohne die Psalmen nicht denkbar. Denn es war ja nicht nur die Arbeit am Römerbrief, sondern die große Psalmenvorlesung von 1513-1516, die ihn zur Reformation, zum reformatorischen Denken geführt hat. Nicht nur die christliche, sondern auch die hebräische Bibel steht Pate bei der Reformation. Und wenn im Kirchenkampf des Dritten Reiches Dietrich Bonhoeffer die Psalmen ganz neu wieder entdeckt, so ist das sicherlich auch eine Entdeckung, aus der Kraft geholt wurde für diese Zeit christlicher Kirche. Aber im Gottesdienst des Sonntags kamen sie anfangs nicht vor, wahrscheinlich nicht, wer will es so genau sagen. Sie dringen ein, und sie dringen geradezu reformatorisch ein, wie man heute feststellt. Denn es war wohl so, daß es viele Hymnen und Oden gab in den ersten zwei-, dreihundert Jahren der Christenheit, Hymnen und Oden, mit denen viel Häresie in den Gottesdienst eindrang, vielleicht Hymnen und Oden aus dem Kreis eines Markion oder aus anderen gnostisch bestimmten christlichen Gruppen. Diese Hymnen und Oden beseitigt man, abgesehen von wenigen Überresten, und an ihre Stelle stellt man das biblische Lied und das biblische Gebet des Psalms - auch im ausgehenden dritten und dann im vierten und fünften Jahrhundert schon eine Gottesdienstreform von der Heiligen Schrift, vom Psalter her. Es gibt wahrscheinlich einen älteren Ort der Psalmen im Gottesdienst, wo wir ihn im evangelischen Gottesdienst fast ganz verloren haben; gemeint ist der Psalmgesang zwischen den einzelnen Lesungen. Er ist wahrscheinlich im dritten Jahrhundert, vielleicht schon hier und da im zweiten Jahrhundert - manche Osternachtsliturgien könnten darauf hinweisen - in den christlichen Gottesdienst aufgenommen worden. Der Ort des Psalms an dieser Stelle bedeutet auch eine größere Nähe zum Synagogengottesdienst, wo er ähnlich eingesetzt wird. Die Art und Weise, ihn zu singen, ist zwischen den Lesungen ähnlich wie in der Synagoge. Auch das ist ein Hinweis auf das höhere Alter an dieser Stelle. Der Introituspsalm wurde und wird gesungen auf antiphonale Weise, d.h., zwei Halbchöre singen ihn im Wechsel. Der Psalm zwischen den Lesungen wird auf responsorische Weise gesungen: Ein Vorsänger singt die Verse, und die Gemeinde oder der Chor respondiert. Bei der Hinführung zum Evangelium sind solche Responsorien dann die Halleluja-Gesänge, die auch aus dem Synagogengottesdienst stammen. Das Evangelium wurde mit dem Jubel des Halleluja begrüßt. Heute schließt bei uns das Halleluja meistens die Lesung der Epistel ab. Die Eucharistische Feier von Karl Bernhard Ritter hat es allerdings als Jubelruf vor dem Evangelium. So Jesaja 6, als Jesaja seine Berufung erlebte und er dann den Lobgesang der Seraphim vernahm: »Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll«; so die Hirten in der Weihnachtsgeschichte, als sich der Himmel auftat und sie den Lobgesang hörten: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens«; und am eindrücklichsten im letzten Buch der Bibel, wo der Seher Johannes am Tag des Herrn die vielen himmlischen Lobgesänge hört, die sich durch dieses Buch hindurchziehen. Ihnen wird gleichsam ein Blick hinter den Vorhang gewährt. Das ist jüdisch-christliche Tradition, gemeinsame Wurzel, wo bei der visionären Berufung der Visionär diese Audition und diese Vision empfängt. Und wir, wir stammeln ein wenig mit am Sabbatmorgen und am Sonntagmorgen, singen die Worte, die uns vorgegeben sind. Natürlich waren das Gesänge, welche die Tempelgemeinde und die christliche Gemeinde gesungen haben und die Jesaja, Lukas und Johannes in ihre Schriften aufgenommen haben; aber sie wurden gesungen als Mitfeier an dem himmlischen Gottesdienst, der ein ewiger Gottesdienst vor Gottes Thron und mit Gott ist. Schon die Synagoge verbindet das Trishagion mit weiteren Lobsprüchen. Dem entspricht in der christlichen Kirche die Verbindung mit dem einen festen Lobspruch aus Psalm 118, dem Benedictus und Hosianna, wieder ein Lobspruch aus der hebräischen Bibel: »Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!« Wir kennen ihn aus der christlichen Bibel. Es ist der Gesang, den nach den Evangelien das Volk gesungen hat, als der Messias Jesus in seine Stadt einzog, ganz bewußt aus diesem Psalm genommen. Aber hier wird die christologische Deutung wesentlich. Denn im christlichen Gottesdienst grüßen wir den, der nicht nur als Messias in seine Stadt einzieht, sondern der jetzt auf verborgene Weise kommt. Er, der der Messias des jüdischen Volkes ist und der über das jüdische Volk der Welt Heiland geworden ist, er zieht ein in seine Gemeinde unter Brot und Wein und läßt sich da neu empfangen. Mit dem Lied des alten Israel empfangen wir ihn, den Messias Israels und den Heiland der Welt. Und er kommt in seine Gemeinde und zu jedem einzelnen. Aber das konnte ja nur geschehen, weil die Tradition der hebräischen Bibel, der Tempel- und der Synagogengemeinde da war, weil so viel mitschwingt, wenn vom Lamm Gottes geredet wird, weil man sich erinnern konnte und mußte an alle Texte der hebräischen Bibel, die vom Lamm oder vom Widder reden. Wir erinnern uns an Genesis 22. Wie war es doch da, als der Gott Abrahams, der ja auch der Gott Isaaks sein sollte, von Abraham erwartete, seinen Sohn zu opfern? Da hing dann am Schluß der Widder oder das Lamm im Geäst, und die Stimme erklang: Du hast deines einzigen Sohnes nicht verschont (Genesis 22,16). Paulus wird später schreiben: Gott hat seines eingeborenen Sohnes nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben (Römer 8,32). Paulus zieht also die Verbindungslinie von Jesus Christus zu dem Widder, den der Gott Abrahams und der Gott Isaaks - in diesem Augenblick erwies er sich als der Gott Isaaks - ins Gebüsch geschickt hatte. Man erinnert sich weiter, wenn man hört: »Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt.« Passa leuchtet auf, das Blut der Lämmer an den Türpfosten (Exodus 12), dieses Blut der Lämmer, das bewahrenden Charakter hat. Da, wo das Lämmerblut ist, hat der Tod keinen Zugang; dort wird das Volk Israel vor dem Tod bewahrt. Wir wagen es, als Christen das mitzusingen und mit Luther so zu deuten: Dessen Blut, nämlich Jesu Christi Blut, »zeichnet unsre Tür« - so heißt es ja in Luthers großem Osterlied -,»das hält der Glaub dem Tod für«, »ein Spott aus dem Tod ist worden« (EKG 76,4-5). Wer Anteil hat an diesem Lamm Gottes, der ist ewig vor dem Tod bewahrt. Wir erinnern uns an das Lamm Gottes, an das schon Philippus den Eunuchen aus Äthiopien erinnert hat, in Jesaja 53: das »Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird« (Jesaja, 53,7). Heutige Auslegung der Gottesknechtlieder deutet diese Lieder und damit ja auch Jesaja 53 auf das Volk Israel. Nicht ganz eindeutig, aber mit einer hohen Wahrscheinlichkeit kann man sie so lesen: Der leidende Gottesknecht ist das Volk. Wenn Christus der Knecht ist, der wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt wird, ist er der, der zunächst einmal für sein Volk, für sein leidendes Volk ans Kreuz gegangen ist und dann die anderen, die Goiim, die Heidenvölker mit einbezogen hat in dieses sein Heilshandeln am Kreuz. Das klingt auf in diesem Lied. Das, was wir bei der Bedeutung der biblischen Lesungen gehört haben, bestätigt sich in großer Verdichtung hier noch einmal. Nicht eine Einzelstelle, sondern eine Zusammenschau verschiedener biblischer Worte wird auf Jesus Christus bezogen. Unverständlich ist das alles ohne die alttestamentlich-jüdische Wurzel, aber die Deutung geht dann einen neuen Weg. Da, wo die jüdische Hausgemeinde - dieses Mal nicht die Synagogengemeinde, sondern die Hausgemeinde - Passa feiert, ist erinnernd die große Heilstat Gottes am Anfang der Geschichte des Volkes Israel gegenwärtig, und jedes Mal erlebt der Jude sie wieder neu. Das ist nicht nur eine gedankliche Leistung, sondern sie wird erinnernd wirklich gegenwärtig, diese entscheidende Gottestat am Anfang der Geschichte des Volkes: die Befreiung aus der Knechtschaft der Ägypter. Und wo wir das Sakrament des Altars feiern - und das tun wir betend, dann auch essend und trinkend, aber zunächst einmal betend, so, wie das auch der jüdische Hausvater zunächst einmal betend tut -, dort wird das entscheidende Heilsereignis am Kreuz und in der Auferstehung Jesu gegenwärtig. Und der jüdische Hausvater wird jedes Mal sagen: »Das nächste Jahr feiern wir es in Jerusalem.« Eigenartigerweise tut er es auch jetzt noch, wo er schon in Jerusalem feiert. Das heißt doch wohl -vielleicht überinterpretiere ich jetzt jüdischen Brauch, aber ich kann es eigentlich nur so verstehen -, dieses irdische Jerusalem ist für die Passafeier noch nicht das endgültige Jerusalem, sondern Jerusalem ist die Stadt Gottes, der das Volk Israel heute noch entgegenpilgert, so, wie die christliche Gemeinde, die das Mahl ihres Herrn feiert, Gott entgegenpilgert. Jerusalem ist dann Symbol für ein Gottesreich, das noch aussteht, aber in jedem Passamahl neu anbricht. Die Nähe kirchlicher Eucharistiegebete zu jüdischen Segensgebeten ist im übrigen in den letzten Jahren wieder neu ins Bewußtsein gekommen. Für uns ist ebenfalls der aramäische Abschluß wichtig: Maranatha- das Beten um das Kommen des Herrn, des noch nicht gekommenen Messias, des wiederkommenden Christus. Distanz und Nähe auch wieder hier, die Nähe in dem Ruf zu diesem Kyrios, die Distanz in dem Verständnis von diesem Kyrios, in dem Verhältnis des Jesus aus Nazareth zu diesem Kyrios. Gesegnet wurde immer in christlichen Gottesdiensten. Aber übersehen oder bewußt nicht beachtet hat man den Priestersegen aus dem Buch Numeri, den Segen, der zwar nicht unbedingt am Schluß, aber doch im Synagogengottesdienst seinen Platz hat. Erst die Reformation gewinnt ihn für den christlichen Gottesdienst, d.h. eine Zeit der Kirchengeschichte, die sich wahrscheinlich teilweise ihrer Wurzeln im Judentum nicht mehr so recht bewußt war, sondern die sich auf einem Ast aus dieser Wurzel ansiedelte, der sich schon ein Stück weg entwickelt hatte von der Wurzel, aber natürlich noch von der Wurzel getragen war. Aber dieser Ast konnte sich noch einmal hinbeugen zurück zur Wurzel, wie der Ast einer Weide, und den aaronitischen Priestersegen entdecken. So verbindet seit dem 16. Jahrhundert jüdische und evangelische Gemeinde ein weiteres Stück des Gottesdienstes: der uralte Segen Aarons, der mit Segensgebärde gesprochen wird, der uralte Segen Aarons, mit dem wir in den Schalom hinein entlassen wenden, in den Schalom Gottes, der nicht nur dem ersterwählten Israel, sondern allen Völkern zugesprochen wird, die gesegnet sind durch den Sohn aus diesem Volk, den wir als Heiland der Welt verehren.
Quatember 1992, S. 87-97 © Dr. Udo Schulze |
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