Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1992
Autoren
Themen
Stichworte


Fundament und Gestalt der Kirche
John Henry Newman und das Oxford Movement heute
Jörg A. Kruttschnitt

LeerDie Kirche muß ihre Stellung und ihre Aufgaben in der Welt immer aufs neue finden. Das muß sie in scharfem Blick auf ihre Gegenwart tun, wenn sie nicht diese verfehlen will. Aber um die Analyse und Reflexion anzuregen, kann es nützlich sein, auch auf die Kirche vergangener Zeiten zu schauen.

LeerIm vorliegenden Aufsatz sollen einige Beobachtungen zu John Henry Newman - in seiner anglikanischen Periode - und dem Oxford Movement gemacht werden, die Anfragen und Hinweise für die gegenwärtige kirchliche Situation geben könnten. Dabei wird sich zeigen, daß die anglikanische Kirche in der Krisensituation, in der sie sich zu Anfang des letzten Jahrhunderts befand, eine doppelte Bewegung vollzogen hat: Sie besann sich auf ihre eigenen Wurzeln, auf ihr Fundament, und sie ließ das Ergebnis dieser Besinnung auch nach außen - in ihrer Gestalt - deutlich werden.

l. Die historische Situation

1. Staat und Kirche

LeerSeit Heinrich VIII. war die Kirche von England englische Staatskirche. Ihr Verhältnis zum Staat war im England des beginnenden 19. Jahrhunderts äußerst harmonisch: Man brauchte einander. Kirche und Staat standen in einer Einheitsfront »Schulter an Schulter«. Der gemeinsame Feind war das republikanische Frankreich: Die revolutionären, antimonarchistischen Tendenzen gingen dort mit antiklerikalen einher. Die gemeinsame Bedrohung wurde als so groß empfunden, daß die Kirche 1791 sogar die Legalisierung des römisch-katholischen Gottesdienstes unterstützte und die vor der Revolution nach England geflohenen französischen Emigranten willkommen hieß. Dafür - gewissermaßen im Gegenzug - wurde etwa in der Zeitschrift »Anti-Jacobin Review« antikirchliche Gesinnung mit Verrat gleichgesetzt. Die damalige »C-Partei«, die hochkirchlichen Tories, regierte ununterbrochen und schützte die anglikanische Kirche gegen die Machtansprüche von Dissenters, römischen Katholiken und antikirchlichen Radikalen (Anm. 1).

LeerGegen Ende der zwanziger Jahre trat aber eine Schwächung der politischen Stellung der Hochkirche ein. 1828 wurde den protestantischen Dissenters durch Gesetz erlaubt, Plätze im Parlament besetzen zu dürfen. Noch revolutionärer war die Emanzipationsakte von 1929, die römischen Katholiken dieselben Rechte zugestand. 1830 kam eine neue Regierung der (ohnehin niederkirchlichen) Whigs an die Macht, die es störte, daß die Bischöfe bei der Reform des Wahlrechts opponierten. Die Regierung legte 1833 einen Antrag vor, der die Abschaffung von zehn Bistümern in der Kirche von Irland forderte. (Anm. 2) Damit war der latente Konflikt offenbar geworden.

Linie

2. Der Liberalismus

LeerDie zweite, die Situation kennzeichnende Komponente ist mit der Geistesströmung des Liberalismus gekennzeichnet.

LeerNewman sah im Liberalismus die Religion des Tages, d.h. die zu seiner Zeit herrschende Mentalität. Er charakterisiert ihn wie folgt: »Uns gilt nur jener Glaube als menschenwürdig, der im Zweifel begann, nur jene Untersuchung als philosophisch, die keine Urprinzipien annimmt, nur jene Religion als vernünftig, die wir uns selbst geschaffen haben.« (Anm. 3)

LeerIm Liberalismus flossen gleichsam die Strömungen zusammen, die seit Beginn der Neuzeit maßgebend waren und im 19. Jahrhundert bestimmend wurden: Deismus und Aufklärung, englischer Empirismus und Skeptizismus, Rationalismus und Moralismus - aber auch der für die Religionsbestimmung als Sache des Gefühls wichtige romantische Ästhetizismus von Shaftesbury. (Anm. 4) Der religiöse und theologische Liberalismus drang auch in die anglikanische Staatskirche ein. Newman nennt sie eine Kirche von gentlemen für gentlemen. (Anm. 5)

II. Die Antwort des Oxford Movement

LeerDie Maßnahmen der Regierung hatten anglikanischen Kreisen den Ernst der Lage deutlich vor Augen geführt. Der Oxforder Poetikprofessor John Keble bezeichnet sie als »National Apostasy«. (Anm. 6) In einem Gespräch mehrerer Mitglieder der englischen Kirche, an dem auch Newman teilnahm, wurde über den neuen Aufbau der Kirche von England gesprochen. Newman schreibt über diese Versammlung: »Es zeigte sich ..., daß die Meinungen geteilt waren. Aber in zwei Punkten herrschte Übereinstimmung - zu kämpfen für die Lehre der apostolischen Sukzession und für die Integrität des Prayer Book.« (Anm. 7)

1. Die Apostolische Sukzession

LeerDie Waffe in diesem Kampf sollte das klassische Mittel der geistigen Auseinandersetzung, der Traktat sein (Tracts for the Times). Daher erhielt das Oxford Movement auch den Namen Traktaktbewegung (Tractarian Movement). Der erste Traktat, der aus der Feder Newmans stammt, hat die Frage der apostolischen Sukzession zum Thema: (Anm. 8)
»To my Brethren in the Sacred Ministry, the Presbyters and Deacons of the Church of Christ in England, ordained thereunto by the Holy Ghost and the imposition of hands. (Anm. 9) Should the Govemment and the Country so far forget their God as to cast off the Church, to deprive it of its temporal honours and substance, an what will you rest the Claim of respect and attention which you make upon your flocks? (Anm. 10) ...I fear we have neglected the real ground on which our authority is built - our apostolical descent.« (Anm. 11)
LeerDas also war die Antwort der Kirche auf die Verschlechterung des Verhältnisses zum Staat. Sie sollte nach Newmans Ansicht versuchen, sich auf ihre eigenen Wurzeln zurückzubesinnen. Die Stellung, die Legitimation der Bischöfe, von der auch die gesamte kirchliche Hierarchie abhing, sollte nicht - wie üblich - auf die staatliche Einsetzung gegründet sein. Vielmehr sollte sich der Bischof ausschließlich auf den ausdrücklichen Auftrag Christi an die Apostel und ihre Nachfolger stützen.

Linie

2. Die Integrität des Prayer Book

Leer Das von Cranmer 1552 in Englisch herausgegebene »Book of Common Prayers« gehörte auch für die Zeit Newmans schon seit Jahrhunderten zu den zentralen Elementen der anglikanischen Kirche. Es ist in Form und Inhalt - obwohl »protestantisch« - dem mittelalterlichen Missale und Brevier verpflichtet. (Anm. 12) Das Stichwort der Integrität des Prayer Book umfaßte den ganzen Bereich des gottesdienstlichen Lebens. Diesen Bereich versuchte Newman auf breiter Front wieder in seiner eigentlichen Bedeutung zu würdigen.

LeerWie die Urgemeinde beharrlich im Gebet war - die Kirche der ersten Jahrhunderte war für Newman die »wahre Kirche.«, der Maßstab der zeitgenössischen Kirchen - und wie auch das Prayer Book es vorsah, begann Newman, sich für den täglichen Gottesdienst einzusetzen. Der wahre Grund für seinen Verfall liege darin, »daß die heutige Welt wohl gern von Religion plaudert und reden hört, aber stilles Denken, geduldiges Harren, beharrliches Beten und ernste Übung ablehnt.«. (Anm. 13)

LeerNewman setzte die gewonnenen Erkenntnisse auch in die Praxis um. Obwohl in Oxford niemand an einen täglichen Kirchenbesuch gewöhnt war, ging er als Vikar von St. Mary's dazu über, jeden Morgen und jeden Abend nach dem Ritus und den Vorschriften des Book of Common Prayers die liturgische Andacht des Morgen- und Abendgebetes zu halten, ob nun eine Gemeinde anwesend war oder nicht. (Anm. 14) Neben der täglichen Andacht umfaßt der gottesdienstliche Bereich aber noch anderes: » ... unser Geist wird in der Kirche mehr aufgerüttelt und angeregt, wenn wir die großen Wahrheiten, von denen die Schrift spricht, gezeigt und dargestellt sehen. Dort sehen wir Jesus Christus, sichtbar dargestellt, gekreuzigt unter uns. Der Ritus, den wir sehen, zieht die unsichtbare Wahrheit in den Bereich unserer Sinne herein.« (Anm. 15) Sogar das Gotteshaus für sich alleine erlebt Newman als die Darstellung einer höheren Wirklichkeit: »Die. ganze Anlage des Baues, das gedämpfte Licht, der Chor, der Altar mit seinem frommen Schmuck - das alles ist eine Darstellung unsichtbarer Dinge und regt unseren schwachen Glauben an. Wir meinen, die himmlischen Hallen zu sehen ...« (Anm. 16)

LeerDiese Auffassungen Newmans und der anderen Mitglieder des Oxford Movements waren vor allem eine Reaktion auf den Liberalismus, der eher eine Kirche von gentlemen für gentlemen sein wollte als eine Stätte ernsthafter religiöser Einkehr. Newmans Religionspraxis war demgegenüber weniger »vernünftig« als vielmehr lebendig. Für religiöses Geplauder hatte er keinen Sinn. Insoweit stellte seine Konzeption eine deutliche Abkehr vom liberalen Zeitgeist dar. Daneben ging es Newman aber auch um die pädagogische Seite der Angelegenheit. Er meinte, geeignete Mittel gegen eine drohende Kirchenentfremdung der Massen gefunden zu haben. Die auf die große Masse gerichtete Verkündigung brauchte nach seiner Meinung feste Kanäle, feste Bahnen und eine gewisse Anschaulichkeit. Wo diese fehlten, müsse das Christentum zu einer Religion für nur einzelne, für Auserlesene werden. (Anm. 17)

III. Zwei Prinzipien des Oxford Movement

LeerApostolische Sukzession und Prayer Book waren zwei konkrete Antworten in einer konkreten historischen Situation. Welche leitenden Grundsätze stehen hinter diesen Antworten?

Linie

1. Die apostolische Sukzession und das Fundament der Kirche

LeerHatte die anglikanische Kirche - vor allem zu Zeiten der Tory-Herrschaft - ein Fundament in der politischen Machtsituation gehabt (oder zumindest zu haben geglaubt), so stellte sie der Entzug dieser Position vor die Aufgabe einer Selbstbesinnung. Angesichts der Attacken der Whig-Regierung mußte deutlich werden, daß sich die Kirche nur behaupten konnte, wenn sie ein neues kräftiges Fundament für sich fand. Bemerkenswert ist, daß sich die Suche danach nicht primär als Suche nach politischen Koalitionen, sondern als theologische Arbeit darstellte. Die Unabhängigkeit von der gerade aktuellen Mode, die Distanz zur Welt, die bislang der Staat ermöglicht zu haben schien, sollte durch den Bezug auf die Apostolizität hergestellt werden. »I fear we have neglected the real ground on which our authority is built - our apostolical descent.« (Anm. 18)

LeerEs geht also im letzten darum, daß die Kirche nicht von der Welt ist, es geht um ihr eigenes, eigenständiges Fundament.

2. Das Prayer Book und die Gestalt der Kirche

LeerDas zwischenzeitlich in seiner Bedeutung abgesunkene Prayer Book war für Anglikaner die klassische, traditionelle Möglichkeit, die Lebendigkeit und damit die Relevanz des Glaubens auszudrücken. Hier ging es um eine der apostolischen Bedeutung der Kirche angemessene Form des Gottesdienstes, um Ausdruck der kirchlichen Würdigkeit, der aber gleichzeitig über die menschlichen Sinne einen besseren Zugang zu der christlichen Botschaft bringen sollte. Vor allem ging es aber um eine lebendige, selbstverständliche Ausübung des Glaubens. In der Praxis des Prayer Book lebte für Newman die Kirche. Daß man sich dabei deutlich gegen den Zeitgeist stellte und damit aufzeigte, eben nicht von dieser Welt zu sein, macht noch einmal den Zusammenhang der beiden Bereiche des Kampfes deutlich, in den sich das Oxford Movement gestellt sah.

IV. Schlußfolgerungen

LeerVom Oxford Movement trennt uns heute der historische Graben, der immerhin über ein Jahrhundert breit ist, und darüber hinaus der Ärmelkanal, worin in diesem Fall die eigentliche Garstigkeit liegen mag. Dennoch stellen die zwei hier dargestellten Ansatzpunkte des Oxford Movements auch für die Kirche auf dem heutigen Kontinent Anfragen und Herausforderungen dar, die nicht ohne Schaden ignoriert werden können. Die Frage nach dem eigenständigen Fundament der Kirche stellt sich uns heute in aller Schärfe. Daß Kirche in der Welt ist, muß deutlich sein. Daß sie aber gerade nicht von der Welt ist, das muß ebenso deutlich werden.

LeerDieses eigenständige Fundament maß auch in der Gestalt der Kirche offenkundig werden. Auch heute sind Liturgie und Gottesdienst besonders sachgemäße Formen, den Bezug der Kirche zu ihrem Fundament zu leben und sichtbar zu machen. Im Gottesdienst ist die Kirche in spezifischer Weise bei der Sache, bei ihrer Sache. Hier sind die Glieder der Gemeinde unter ihresgleichen und tun einfach das, was die naheliegende Konsequenz der Betrachtung von Gottes Heilstat ist: Sie loben ihn. Da die Kirche hier auf ureigenste alte Traditionen zurückgreifen kann, macht sie zugleich ihr eigenständiges Fundament sichtbar.

LeerDie Kirche muß sich auf ihr Fundament besinnen, das auch in ihrer Gestalt deutlich werden muß.

Linie

Anmerkungen:

  1: Vgl. dazu Sheridan Gilley: Art. Hochkirchliche Bewegung I. in: Theologische Realenzyklopädie. Band 15. Berlin/New York, 1986, S. 416.
  2: Ebd. S. 416.
  3: Zit. nach Heinrich Fries: John Henry Newman. In: Klassiker der Theologie. Bd. 2. München, 1983, S. 151.
  4: Ebd.
  5: Ebd.
  6: W. H. van de Pol: Die Kirche im Leben und Denken Newmans. Salzburg/Leipzig, 1937, S. 123.
  7: Ebd. Die Loyalität gegenüber Bischofsamt und Prayerbook wurde jedenfalls seit Karl II. (1660-1685) als die genauere Definition des Anglikanismus angesehen (Gilley, a.a.O., S. 416).
  8: »An meine Brüder im geheiligten Dienst, die Presbyter und Diakonen der Kirche Christi in England, ordiniert hierzu durch den Heiligen Geist und die Handauflegung ... Sollte die Regierung und das Land so weit ihren Gott vergessen haben, daß sie sich der Kirche entledigen, daß sie ihr ihre zeitliche Ehre und Substanz entziehen, worauf wollt ihr den Anspruch auf Respekt und Aufmerksamkeit stützen, den ihr bei euren Herden geltend macht?... Ich fürchte, wir haben die wirkliche Grundlage, auf der unsere Autorität sich gründet, vernachlässigt: unsere apostolische Herkunft.« (Übersetzung des Verfassers).
  9: R. W. Church: The Oxford Movement. Chicago, 1970, S. 81.
10: Ebd.
11: Ebd. S. 82.
12: Gilley, a.a.O., S. 416.
13: Van de Pol, a.a.O., S. 132.
14: Ebd. S. 133.
15: Ebd. S. 131.
16: Ebd. S. 131 f.
17: Ebd. S. 140.
18: Tract 1, zit. nach Church, a.a.O., S. 82.

Quatember 1992, S. 145-150
© Dr. Jörg A. Krutschnitt

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-15
Haftungsausschluss
TOP