|
von Caecilia Bonn OSB |
Ein salomonisches Weisheitswort lautet: »Ein Volk ohne Prophetie geht zugrunde.« Es ist wie eine Bankrotterklärung des alttestamentlichen Volkes, wenn es bei Ezechiel und in den Klageliedern heißt: »Sie verlangen vom Propheten Visionen, aber er gibt keinen Bescheid, keine Weisung ist da, auch keine Offenbarung schenkt der Herr ihren Propheten. Zeichen für uns sehen wir nicht, es ist kein Prophet mehr da. Niemand weiß, wie lange noch.« Das Volk fühlt sich von seinem Gott verlassen. Die Katastrophe besteht nicht nur darin, daß die politischen Führer in die Verbannung geschleppt werden. Das prophetische Wort würde auch in dieser Krise Perspektiven der Zukunft, des Heilswillens und der Heilswege Gottes eröffnen können. Nicht nur das Gesetz ist also für das Überleben eines Volkes und des einzelnen Menschen notwendig, sondern ebenso die Prophetie. Gilt das alles auch für die neutestamentliche Gemeinde Gottes? Ist nicht durch die Offenbarung Jesu Christi alles Licht in diese Welt gekommen? Zeigt sich die Kirche nicht auch auffällig zurückhaltend im Hinblick auf die Prophetengabe, die uns schon in neutestamentlichen Gemeinden beschrieben wird? Die Unterscheidung zwischen echten und falschen Propheten war immer schon ein schweres Problem. Aber auch die neutestamentliche Kirche verkündet die Botschaft Christi nicht nur kraft der Autorität ihres Amtes, sondern auch je neu in der Autorität der vom Geiste Gottes ergriffenen Propheten und Mystiker. Ihnen eröffnet Gott - rein aus Gnade - wie durch ein Fenster (fenestraliter) etwas von seinen Mysterien. Sie haben die Aufgabe, aus dem Licht der Offenbarung aktuelle Sinnzusammenhange aufzudecken und dem notwendigen Handeln Richtung und Wegweisung zu geben. Scivias, Wisse die Wege! Ich glaube, wir haben heute wieder neuen Zugang zum prophetischen Phänomen, da wir in den verwirrenden Abläufen geschichtlicher oder kosmischer Gegebenheiten nach Perspektiven suchen. Diese müssen uns werden, wir können sie nicht alleine finden. Kein Wunder also, daß seit einigen Jahrzehnten eine wahre Hildegard-Renaissance stattfindet, und dies nicht nur im theologischen, ökologischen oder naturheilkundlichen Bereich, sondern im Hinblick auf den Sinn menschlicher Existenz. überhaupt. I. Hildegard besaß seit ihrer Kindheit die Gabe der außergewöhnlichen Schau. In einem Brief an Abt Wibert von Gembloux, der ihr in den letzten Jahren als Sekretär zur Seite gestanden hat, schreibt sie: »Von meiner Kindheit an erfreue ich mich der Gabe dieser Schau in meiner Seele bis zur gegenwärtigen Stunde, wo ich doch schon mehr als 70 Jahre alt bin. Und meine Seele steigt - wie Gott will - in dieser Schau empor bis in die Höhe des Firmamentes.« Diese Gabe hat sich nach ihrem eigenen Zeugnis im Laufe ihres Lebens weiter entwickelt. Seit ihrem fünften Lebensjahr, so berichtet sie, war sie in der Lage gewesen, ihre Visionen zu deuten und zum Ausdruck zu bringen. Befragen wir Hildegard selbst, wie sie ihre Visionen erlebt hat. In dem eben genannten Brief berichtet sie: »Ich sehe diese Dinge nicht mit den äußeren Augen und höre sie nicht mit den äußeren Ohren, auch nehme ich sie nicht mit den Gedanken meines Herzens wahr, noch durch irgendwelche Vermittlung meiner fünf Sinne. Ich sehe sie vielmehr einzig in meiner Seele mit offenen leiblichen Augen, so daß ich dabei niemals die Bewußtlosigkeit einer Ekstase erleide, sondern wachend schaue ich dies bei Tag und Nacht.« Ihre Visionen sind jedoch kein harmloses und unbeteiligtes Sehen und Erkennen, sondern ein gewaltiger Vorgang, der Hildegard bis ins Innerste betrifft, wie sie selbst im Vorwort zu ihrem Werk Scivias berichtet. »Im Jahre 1141, als ich 42 Jahre und sieben Monate alt war, kam ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom offenen Himmel hernieder. Es durchströmte mein Gehirn und durchglühte mir Herz und Brust gleich einer Flamme, die jedoch nicht brannte, sondern wärmte, wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den sie ihre Strahlen legt. Nun erschloß sich mir plötzlich der Sinn der Schriften ...« Es ist wichtig, die Beschreibung in Hildegards eigenen Texten zu lesen. Man darf die Gesichte nicht auf einen wie immer gearteten psychologischen Zustand reduzieren oder ausschließlich im Rahmen einer literarischen Gattung betrachten, in der sich Hildegard der reichen Symbolik der christlichen Tradition bedient hatte, um sie geschickt zu einem Novum göttlicher Offenbarung zu komponieren. Es gibt viele Interpretationsversuche. Hildegard sieht ihre eidetische Begabung nicht im Sehen von Gesichten und nicht im Hören von Stimmen, sondern darin, daß ihr von Gott eine innere erleuchtete Einsicht geschenkt wird. Es handelt sich bei ihr wohl um die von Augustinus so bezeichnete »visio intellectualis«, die höchste Form aller Schauungen, die sich nicht mehr in Vermittlung von körperhaften oder geistigen Visionen (visio corporalis, visio spiritualis) ereignet, sondern in der Unmittelbarkeit der göttlichen Präsenz, mit welcher der Mensch in seinem erleuchteten Geist (mens) von Angesicht zu Angesicht (os ad os) in einen inneren Dialog mit Gott tritt. Die mystische Erfahrung Hildegards hebt sich von anderen dadurch ab, daß sie sich nicht »draußen«, sondern im Innern des Menschen ereignet und trotzdem nicht dort erzeugt wird. Hier liegt das Charakteristikum der visio intellectualis. Sie ist keine Wahrnehmung als Gegenstand der Sinnesorgane, aber auch keine Erzeugung der menschlichen Seele, d.h. kein Denkakt, keine Phantasie oder gar ein Traum. Wenn Hildegard schreibt: »Ich hörte eine Stimme vom Himmel zu mir sprechen«, so beschreibt sie damit keine Audition, sondern durch den Zusatz »vom Himmel« ist auf das ganz andere ihrer Wahrnehmung hingewiesen. Um den exogenen Ursprung ihrer Schau zu unterstreichen, betont sie ihren wachen Zustand wahrend der Schau und den vollen Besitz ihres Bewußtseins. Die Schau tritt demnach als ein Hören und Sehen auf, das keine sinnliche Wahrnehmung des Realen ist, aber auch keine Abschaffung der Sinne bewirkt noch eine erdichtete Vorstellung des Verstandes, sondern das Hervortreten einer Präsenz, der Präsenz Gottes. Die Visio ist demnach ein unmittelbares, vom menschlichen Geist nicht erzeugtes, sondern ihm geschenktes und trotzdem nicht sinnliches Erkennen, das sich als Evidenz offenbart. Wenn Hildegard von sich schreibt, sie sei ein armseliges Frauchen (eine paupercula femina) - eine Unwissende (nesciens) -, so ist das kein Topos oder eine schlechte Demutserklärung, sondern sie deutet damit auf den tiefen Sinn ihrer Schau hin. Was in ihr redet, ist nicht das menschliche Ich, sondern die wortgewordene Wahrheit, das Licht, das sich im Schatten ereignet. Das menschliche Vernehmen ist dabei aufs äußerste beansprucht, nimmt in der Visio das göttliche Wort auf, das befähigt, die Sprache Gottes zu verstehen, die unmittelbar zur Prophetie drängt. Denn nun liegt die gesamte Wirklichkeit vor Hildegard, und sie versteht den Sinn des Ganzen, sie begreift die Ordnung des Kosmos und den Plan der Heilsgeschichte. Sie »muß« ihn verkündigen und die Menschen in die »operatio«, in das schöpferische Mitwirken mit Gott rufen. Vision und Prophetie gehören zusammen. (1) II. Eigenartig, daß es mehr als 800 Jahre brauchte, bis diese prophetische Stimme uns wieder ins Herz trifft und wir sie wieder verstehen, weil sie uns heute angeht. Warum wurde sie so lange vergessen, wenngleich auch die Verehrung der wundertäigen heiligen Frau im Volk immer lebendig blieb? Hier wäre, schon bald nach dem Tod Hildegards, die Zeit einer subjektiven Minne mit Gott zu nennen, dann das fast ausschließliche Verlangen, bei den Heiligen handfeste asketische Kost oder erbauliche Anweisungen für ein verinnerlichtes Leben zu suchen und zu finden. Hinzu kommt das fast gänzliche Fehlen einer Theologie der Schöpfung und der Ganzheitlichkeit, d.h. auch der Leiblichkeit des Menschen, und vieles andere mehr. In den Texten der heiligen Hildegard dagegen steht nicht die menschliche Seele allein in der Liebesbeziehung zu Gott. Es ist immer der ganze Mensch aus Leib und Seele, der mit seinem Schöpfer ins Gespräch kommt, und der sich dabei stets mit der Schöpfung im Verbund weiß (homo cum creatura). Er ist der Gesprächspartner Gottes und zugleich der Gesprächspartner für die ganze Welt, für die ganze Schöpfung. Heute können wir uns in einem solchen Spiegel wiedererkennen. Heute begreifen wir wieder die Ungeheuerlichkeit der visionären Aussagen der Prophetissa Teutonica und verstehen es, daraus Impulse abzuleiten für das Jetzt und für eine Welt von morgen, in der wir einfach lernen müssen, daß jedes Geschöpf mit dem anderen in einer absoluten Solidarität verbunden ist, jedes Wesen durch ein anderes gehalten wird. Der Mensch, der nicht mehr fähig ist, eine geistige Botschaft aus der Schöpfung zu vernehmen, hat sich quer zur Natur gelegt und hat sie damit in einen Wirbel der Verwirrung gestürzt. Tangiert durch das Verhalten des Menschen, überschreitet die Natur ihre eigengesetzliche Bahn und gerät in einen widernatürlichen Kreislauf mit allen Folgen solcher Perversion. Die Flüsse verschmutzen - so wird bei Hildegard geklagt -, die Sonne verfinstert sich, die Luft wird vergiftet, und keiner fühlt sich verantwortlich. Der Mensch beteiligt sich dabei nicht nur an diesem »Weltgestank«, dieser pestilentia, er ist verantwortlich für den Verlust der natürlichen Gleichgewichte, was dann wiederum an klimatischen Katastrophen oder Mißernten im einzelnen aufgezeigt wird: »Und ich sah, daß das obere Feuer des Firmaments ganze Regenschauer voll Schmutz und Unrat auf die Erde schüttete, die beim Menschen, aber auch bei Pflanzen und Tieren schleichende Schwären und Geschwülste hervorrief. Weiter sah ich, wie aus dem schwarzen Feuer eine Art Nebel auf die Erde fiel, welcher das Grün der Erde ausdörrte und der Acker Feuchte austrocknete. Ich sah auch, daß aus der starken, weißleuchtenden Luftzone ein anderer Nebel über die Erde fiel, der Menschen wie Tiere mit Seuchen heimsuchte.« Und an anderer Stelle: »Unbarmherzig beginnt das Feuer zu Iärmen, Winde und Lüfte heulen auf und wirbeln umher: Unter Donner und Blitz schleudern sie spitzes Gestein um sich und spritzen es in den Weltenraum.« Wieso hat der Mensch durch sein Verhalten einen solchen Einfluß auf Schöpfung und Geschichte? Ist er nicht winzig klein im Verhältnis zum Universum, ohnmächtig? Hildegard sieht in vielen Bildern, wie der Mensch als Zusammenfassung aller geschaffenen Welt mit seinem Leib in der Mitte des Universums steht. Die gesamte Schöpfung ist ihm eingeästet wie die Zweige in den Baum. Er ist Grund und Spitze des Weltalls und dessen Sinn. »O Mensch, schaue dir diesen Menschen nur recht an. Himmel und Erde birgt er in sich selber.« Gott übergab dem Menschen - gleichsam als Mit-Schöpfer - die gesamte Welt, damit er mit ihr und an ihr wirke. Wie sieht dieses Wirken aus? Es ergibt sich aus der intensiven Verbundenheit und dem existentiellen Dialog aller mit allen, denn »in der Schöpfung antwortet alles einander«. Hildegard sieht, wie vom Herzen des Menschen ein Weg (transfer) zu den Elementen des Weltenbaues und den Schaltstellen der Geschichte geht. »Wenn der Mensch das Auge seines Herzens licht macht, wird alles grünen, was dürre ist. Korn und Wein wachsen durch diese geheime Grünkraft, die in die Keimkräfte des Kosmos und in die Heilkräfte der Geschichte träufeln.« Mit anderen Worten: Der Mensch bewirkt außerhalb seiner selbst, was er in sich selbst entscheidet. III. Die Zeitgenossen Hildegards haben der Prophetin auf solche Botschaft hin Rückfragen gestellt. Sie sind uns in einer umfangreichen Korrespondenz überliefert. Eine dieser Anfragen lautete: »Wann wird das alles eintreffen, was ihr da seht?« Hildegard gibt die Anfrage an das »Lebendige Licht« (Gott) weiter und erhält Antwort. Es wird eine Zeit sein, die von drei Phänomenen gekennzeichnet ist. Erstens von einer völligen sittlichen Freizügigkeit. Der Mensch anerkennt keinen Wert und keine Norm mehr über sich, nach denen er sich ausrichten könnte und wollte. Er argumentiert, daß die Tugend gegen das Naturgesetz sei, und daß der Mensch einfach nicht himmlisch handeln könne, da er doch ein irdisches Wesen sei. »Legt doch Fleisch an Fleisch und erfüllt eure sinnlichen Bedürfnisse«, so rufen die Menschen sich gegenseitig zu, »denn so hat euch Gott ja nun einmal erschaffen. Schüttelt das unerträgliche Joch eures Meisters (Christus) von euren Schultern ab.« Aus dieser Sittenlosigkeit ergibt sich nach Hildegard zweitens das Phänomen des Terrors. Die Gewalt wird in allen Formen um sich greifen, der Mensch scheut sich nicht mehr, einen anderen umzubringen, noch hat er Angst, von einem anderen getötet zu werden, denn sein Leben ist ihm nichts mehr wert. Negative Einstellung zum Leben! Und drittens ergibt sich aus alledem eine seuchenartig um sich greifende Depression, eine Suizidstimmung verbreitet sich im Abendland, denn den Menschen ekelt sein Leben an. Eine erschütternde Analyse, die man auch - mutatis mutandis - auf unsere Zeit anwenden könnte: sittliche Freizügigkeit, Terror in all ihren Formen und Lebensekel (Depression). Das Leben verdorrt, weil der Mensch sich von der Quelle der Grünkraft, der Lebensfülle (Viriditas) Gottes abgenabelt hat. Er verliert damit die Kraft zum göttlich mitschöpferischen Wirken an der Welt und kann trotz intellektueller und technischer Anstrengung die Geschicke dieser Welt und das Gefüge des Kosmos nicht mehr in die Ordnung bringen. So belastet er mit seiner eigenen Verfremdung nicht nur sich selbst, sondern bringt draußen alles in Verwirrung. Das Leben wird gespenstisch und unmenschlich. Vor Jahren las ich einige Sätze aus dem Schlußkommuniqué eines ökologischen internationalen Kongresses in der Schweiz die aus der Feder Hildegards stammen könnten. Dort heißt es: »Eines ist uns klar geworden, wir werden in Zukunft unser ganzes Augenmerk auf das Innere des Menschen richten müssen, denn dort entscheidet sich das Schicksal seiner Umwelt.« Eine bemerkenswerte Erkenntnis! Gott gibt durch seine »Posaune« Antwort: »O Mensch, du bleibst mir verantwortlich für Schöpfung und Geschichte!« Warum bleibt Gott anscheinend unerbittlich bei seinem Plan der Zusammenarbeit mit einem krankgewordenen Menschen? Aus zwei Gründen. In ihnen tritt der prophetische Anruf Hildegards nun konkret und persönlich an jeden Menschen heran. Zum einen: Gott stellt ihm eine Gegenfrage: »Warum bittest du mich nicht? Ich würde dir alles geben, worum du mich bittest. Großes erwarte ich von dir, Mensch (nämlich die volle Verantwortung für die Welt), aber noch Größeres bin ich bereit dir zu geben. Wie kann ich aber einem, der stumm an mir vorbeiläuft, Geschenke geben? Er kennt mich ja nicht, und ich kenne ihn nicht.« Was ist hier ausgesagt? Der Mensch kann seine Verantwortung der Welt gegenüber nicht wahrnehmen, wenn er sich nicht der Transzendenz, dem persönlichen Gott, mit seiner Freiheit öffnet. Das geschieht ganz einfach und eindrucksvoll durch die Bitte, die Anrufung Gottes, die invocatio ad Deum. Gott ist jederzeit bereit, das Äußerste seiner schöpferischen Kräfte den Menschen mitzuteilen, aber er will und möchte ihn nicht in seiner Freiheit vergewaltigen. Der Mensch muß sich ihm öffnen. Er tut dies, indem er Gott anredet und sich bittend an ihn wendet. Gott wartet auf diesen Anruf. Wir können nicht einfach an Gott vorbei in unser eigenmächtiges Wirken laufen. Die Kraft zu seinem Wirken muß der Mensch sich erbitten. Solches Beten ist nach Hildegard das Äußerste, das wir vermögen. Gott selbst befähigt sein Geschöpf dazu. Er läßt sich in Anspruch nehmen. Der Gebetsruf wird so tief gehört, daß er durch die Fügung Gottes dorthin dringt, wo das Letzte unserer menschlichen Existenz auf dem Spiel steht. Unser Ruf zu Gott ist das Ereignis schlechthin. Ohne dies geht nichts weiter im menschlichen Leben. Aus uns selbst können wir die Probleme nicht von Grund auf klären noch lösen. So vieles kann darum heute in unserer Welt nicht geschehen, weil es nicht erbeten wird. Kardinal Ratzinger hat einmal in einer programmatischen Rede diesen Sachverhalt ungefähr in folgende Worte gefaßt: »Im Drama der gegenwärtigen Zeit sollten wir nicht zögern, uns der Allmacht des diesseitig Effektiven und Quantitativen entgegenzustellen und uns auf die Seite der Liebe zu schlagen, d.h. uns dem Unverfügbaren zu öffnen und uns von ihm beschenken zu lassen, anstatt schnellen Erfüllungen nachzujagen, in denen man auf niemand angewiesen ist, aber auch nie aus sich heraustreten muß.« Wenn der Mensch, so meint Hildegard, auch nur die kleinste Anstrengung macht (»den kleinen Finger hebt«), um in seinem Herzen zu sprechen: »Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater zurückkehren«, dann rührt er gleichsam an die Sterne. Es wird ihm eine Dynamik, eine Lebensenergie geschenkt, durch die er alles in Bewegung zu setzen vermag. Die Kraft dieser Rückkehr zum Schöpfer und Vater, in dessen Herz Hildegard (in einem anderen Bild) den Menschen als ein kleines verschmutztes, herzförmiges Lehmgebilde sieht, diese Kraft der Reue Iäßt die Natur aufblühen und fruchtbar werden. In ihr gesundet die Welt. Für Hildegard ist sie die Therapie, die Medizin schlechthin. Nicht nur das Medikament, nicht nur der medizinische Eingriff, sondern vor allem und als erstes - das erkennen auch heute schon Arzte - die innere Erschütterung, die Einsicht, die Einkehr und Umkehr bringen uns in der Tiefe auch leiblich wieder in Ordnung. Diese Herzensbewegung hat nach Hildegard eine unglaubliche Resonanz. Mit ihr greifen wir tiefer als die Mächtigen dieser Welt in das Rad der Geschichte. Ja, wir werden durch unsere Heimkehr selbst Heimweg für alle Kreatur. IV. In ihrem Buch der Lebensverdienste beschreibt Hildegard das Erlebnis ihrer grandiosen Schau vom Universum. Sie sieht es wie einen großen Werkraum des höchsten Schöpfers (fabrica summi fabricatoris). Staunend fragt sie sich, wer dieses gewaltige Gebäude mit all seinen kosmischen Abläufen und geschichtlichen Prozessen hält Und es wird ihr gesagt, daß es von jenen getragen wird, die in der Kraft der Tugend die Gebote Gottes erfüllen, und von jenen, die reuig zu ihm zurückkehren. Deshalb ruft Hildegard den Menschen im Auftrag Gottes zum Einsatz der Reue auf, damit er sich als Mitarbeiter Gottes für die ganze Welt erweist. Es geht also bei ihrem prophetischen Ruf nicht um einen ethischen oder rein aszetischen Imperativ, sondern um das Ganze der Schöpfung, derErlösung des Menschen und des Fortgangs der Welt bis zur Wiederkunft des Herrn. Es ist eigenartig, daß der Mensch, der heute (nach einem Wort des Philosophen Horkheimer) von einer pathologisch wirkenden Sorge um seine physische Integrität erfaßt ist, von »einer radikal gewordenen mythischen Angst«, daß dieser Mensch so unempfindlich geworden ist für seine moralische Integrität Sie scheint ihm keines Preises mehr wert, wird als Heuchelei oder Unsinn verspottet. Das ist die Negation des Menschen und seiner Würde. So werden wir nicht überleben! (Ratzinger) Hildegard wird Zeuge eines ergreifenden innergöttlichen Dialogs. »Sieh her, Vater, ich zeige dir meine Wunden. Schau meine Wunden, durch die ich nach deinem Willen die Menschheit erlöst habe. Und nun denke daran, Vater, daß die Fülle der Schöpfung, die du im Anfang grün, d. h. heil erschaffen hast, nicht dahinwelken darf. Vater, ich zeige dir meine Wunden.« Alles Wirken und alles Versagen und Heimkehren des Menschen ist also umfaßt und eingeborgen in den Raum, in die Wirklichkeit der alles vermögenden »Anrufung Gottes durch Gott«, Invocatio Dei ad Deum. In dieser trinitarischen Vision gipfelt die Prophetie der heiligen Hildegard und wird uns eine nicht zu zerstörende Hoffnung auf Heil geschenkt. 1: Der eingefügte Exkurs basiert auf Fabio Chavez Alvarez: Die brennende Vernunft. Studien zur Semantik der Rationalitas bei Hildegard von Bingen. Stuttgart-Bad Canstatt, 1991. Caecilia Bonn OSB Quatember 1992, S. 220-229 |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-08-17 Haftungsausschluss |