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Einheit Deutschlands - wo stehen wir?
von Alfred Radeloff

Festvortrag beim Michaelsfest der Konvente Württemberg und Berlin-Brandenburg in Kloster Kirchberg am 31. Oktober 1992

Leer»In einer Stunde, da die Kirche sich selbst an den Anspruch der Welt zu verlieren droht, kann die Kirche das Wort der Entscheidung, das sie der Welt schuldet, nur sprechen, wenn sie den priesterlichen Dienst des Gebets erfüllt.« Der Satz der Gründungsurkunde der Evangelischen Michaelsbruderschaft von Michaelis 1931 enthält wesentliche Aussagen:

Leer1. Die Kirche und alle, die zu ihr gehören, stehen in der Gefahr, sich die Regel ihrer Existenz von der Welt, von ihrer Umgebung, von Zeitströmungen, von den Medien diktieren zu lassen.

Leer2. Die Kirche schuldet der Welt, ihren Zeitgenossen das Wort der Entscheidung, Wegweisung, Klarstellung, Analyse und Therapie.

Leer3. Das Wort der Entscheidung, die Wahrheit für die Mitmenschen ist vor allem Frucht des Betens der Kirche. Aus dem Gebet heraus kommt die Wahrheit der Kirche für sie selbst und für andere. Die unausgesprochenen Voraussetzungen dieses Satzes der Urkunde sind: Die Zeitprobleme gehören zu einem Michaelsbruder genau so wie das Beten. Die Vertikale und die Horizontale machen das Kreuz aus. Das Kreuz der Michaelsbruderschaft hat eine gleich lange Horizontale und Vertikale. Das ist nicht bruderschaftlich gedacht: Beten und nichts tun. Die von Gott erbetene Veränderung meiner selbst, der Kirche und der Welt ist nach Urkunde und Regel Kennzeichen unserer Bruderschaft. Das Gebet am Abendmahlstisch unter dem Zeichen des Kreuzes drückt das aus: So wandle uns, Herr, schaffe diese Welt neu nach deiner Verheißung!

LeerHeute ist der 31. Oktober. Luthers Antwort an seine Zeit, die Reformation, ist ohne Gottes Wort und Gebet nicht zu begreifen. Der Prozeß der Veränderung begann überall mit den Gebeten um Erneuerung. Die Erneuerung, die Gott will und die wir in den Gebetsgottesdiensten der friedlichen Revolution wollten, ist mehr als eine Wiederherstellung der verlorenen deutschen Einheit. Das Gebet um Erneuerung schloß die Bitte an Gott mit ein, den Einzelmenschen zu verändern und alle Bereiche menschlichen Lebens in der Welt zu erneuern. Daß das Gebet nicht Beiwerk, sondern Bestandteil der folgenden Überlegungen ist, möchte ich festmachen.

LeerEuropa hat sich verändert. Die Einheit Deutschlands ist nur ein Teilaspekt dessen, was in Europa geschehen ist. Die Staaten im östlichen Mitteleuropa haben die kommunistische Herrschaft abgeschüttelt. Die Sowjetarmee zieht ab. Die Nationale Volksarmee ging in die Bundeswehr über, Fachleute sagen: ohne Komplikationen- ein einmaliger und erstaunlicher Vorgang in der Militärgeschichte. Vor zwei Jahren wurde Deutschland politisch eins. Die wirtschaftliche Einheit stellt die Wirtschaftler und Politiker vor riesige Probleme. Die menschliche Einheit unseres Volkes ist eine harte Aufgabe, die sich nicht von selber löst. Menschen, die über vierzig Jahre getrennt leben mußten, brauchen Zeit, sich zu finden. Wo stehen wir? Eine Bestandsaufnahme ist schwierig. In den neuen Bundesländern ist nahezu alles im Umbruch begriffen. Die Vielzahl der Informationen und die Schnelligkeit der Entwicklung erschweren die Beurteilung der Situation. Dazu kommt, daß die Veränderungen unterschiedlich erlebt und gewertet werden.

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LeerAm lautesten sind die Wertungen über die augenblickliche Lage zu hören, die von im Westen unseres Vaterlandes beheimateten Journalisten in den Medien verbreitet werden. Deren Hauptthemen sind seit Monaten Stasi und die Verflechtung der DDR-Kirchen in die Stasiproblematik. Ein Angriff gegen Stolpe jagt den anderen. Nach meiner Einschätzung interessieren sich die Leute im Osten dafür nicht allzusehr. Sie haben andere Probleme und fragen laut, warum die eigentlich Schuldigen unbeschadet bleiben und man ihnen mehr Glauben schenkt als den Männern der Kirche: die Stasi-Offiziere und politisch Verantwortlichen. Bei den Wertungen, die ich höre, fällt mir auf, daß die Generation, die den 17. Juni 1953 nicht miterlebt hat, eher zur Kritik an den Menschen neigt, die sich auf die DDR eingelassen haben, als die Generation, die erlebt hat, wie die russischen Panzer in die Volksmassen geschossen haben. Hans-Joachim Maaz, den Psychiater aus der Diakonie Halle, habe ich nach einer Diskussion in unserem Pfarrkonvent daraufhin angesprochen. In seinen Veröffentlichungen kommt das für viele Ältere so wichtige Datum des 17. Juni 1953 nicht vor. Er gehört zu denen, die die Gnade der späten Geburt erfahren haben. Er kennt die Angst vor der Brutalität des Militärs nicht, die wir Älteren in uns tragen.

1. Wie erleben wir die Gegenwart?

Leer Ich kann nicht für alle, ich versuche, für viele zu sprechen. Nicht kann ich sprechen für die ehemaligen Funktionäre, die ihre Privilegien verloren haben. Einer bekannte mir vor kurzem, daß es ihm - obwohl arbeitslos - besser gehe als zu der Zeit, als er noch eine leitende Stellung in einer SED-Kreisleitung innehatte. Von seiner Rente hatte er sich gerade ein neues Auto gekauft und bar bezahlt. Wenn ich im folgenden »wir« sage, dann ist das »ich« - mit einem Blick für die anderen um mich herum.

LeerNach der Diktatur des Proletariats erleben wir den Aufbau eines freiheitlich demokratischen Rechtsstaats. Der Aufbau seiner Institutionen ist nicht abgeschlossen. Nach einer schwierigen Anfangsphase gewinnt jedoch staatliches Wirken erkennbare Gestalt. Die Unsicherheit des Rechtsstaats »in Gründung« nimmt ab. War Polizei lange unsichtbar, ist sie jetzt in den neuen Bundesländern präsent, freilich nicht so zahlreich wie in DDR-Zeiten. Die Gerichte arbeiten wieder stetig. Die fast völlig leeren Gefängnisse bekommen Häftlinge - wenn auch nicht so viele wie in Ulbrichts und Honeckers Tagen.

LeerAls Folge des Zusammenbruchs der staatsmonopolistischen Wirtschaft und des Ostmarkts hat sich Arbeitslosigkeit ausgebreitet. Der Abbau von Arbeitsplätzen in der produzierenden Wirtschaft infolge der übermächtigen Industrie der alten Bundesländer verstärkt diesen Prozeß, macht die wirtschaftlichen Gegensätze zwischen Ost und West deutlich und erschwert nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das menschliche Einswerden von Ost und West. Wie brisant die Arbeitslosigkeit ist, machen die Zahlen der Region deutlich, aus der ich komme: Arbeitslosigkeit 15%, ABM- und Weiterbildungsmaßnahmen 30%. Das heißt, 45% aller Arbeitsfähigen sind ohne festen Arbeitsplatz. Diese Zahlen sind in allen neuen Bundesländern ähnlich. Prognosen sprechen davon, daß nur 20% der Arbeitsplätze, die es einmal in der volkseigenen produzierenden Industrie gegeben hat, wirtschaftlich gesichert sind. Die Frage ist offen, ob die zu DDR-Zeiten schwache und jetzt neuentstehende mittelständische Industrie und das Handwerk so viele Arbeitsplätze schafft, daß alle Arbeit finden.

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LeerViele, vor allem junge Menschen, wachsen ohne große Komplikationen in die neue Wirklichkeit hinein. Doch andere stoßen auf für sie scheinbar unüberwindbare Schwierigkeiten. Die Probleme, denen sie sich stellen müssen, sind Folge der Vergangenheit, manchmal aber auch Ergebnis mißlungener Versuche, die wirtschaftliche Misere zu überwinden. Bei der Fülle und Kompliziertheit der anzupackenden Aufgaben konnten Fehler nicht ausbleiben. Ich benenne einige Problemkreise:

Leer1.1 Die Arbeitslosigkeit trifft vor allem den weiblichen Teil der Bevölkerung. Frauen im besten Lebensalter verlieren ihren Arbeitsplatz. Sie können sich nicht damit abfinden, ins Haus und in die Familie zurückgedrängt zu werden. Über 80% der arbeitsfähigen Frauen hatten in der DDR einen Arbeitsplatz. Die Kinder wurden normalerweise von Krippenerzieherinnen und Kindergärtnerinnen erzogen. Sie legten die Basis für die Erziehung des DDR-Bürgers, der eine kommunistische Persönlichkeit sein sollte. Frauen streiten heute darum, ob es richtig ist, Kinder durch andere erziehen zu lassen.

Leer1.2 Männer über fünfzig wurden zuerst entlassen. Sie beziehen Altersübergangsgeld oder sind Frührentner. Es fällt ihnen schwer, mit dem Gefühl fertig zu werden, nicht mehr gebraucht zu werden. Aus einem ausgefüllten Leben wurde gähnende Leere. Da das gesellschaftliche Leben in der DDR sich vor allem im betrieblichen Raum ereignete, haben die meisten der Frührentner mit der Arbeit auch die gesellschaftlichen Gruppen verloren, die ihre Freizeit gestalteten. Inzwischen freilich hat sich westliches Club- und Vereinsleben ausgebreitet, eigen- und gemeinnützig. Vorzeitig pensionierte Leitungskräfte und Lehrkräfte bilden innerhalb der Gruppe der Frührentner ein erhebliches Potential an Unzufriedenheit. Sie erhalten niedrigere Renten als im Westen. Sie sehen sich »abgewickelt« und das Ergebnis ihrer Lebensarbeit unterbewertet. In Regionalzeitungen kann man bissige Klagen von abgewickelten Marxismusprofessoren und entlassenen Lehrern lesen.

Leer1.3 In den neuen Bundesländern wird die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland eingeführt. Die Bürger der alten Bundesländer sind in sie hineingewachsen. Die neuen Bundesbürger haben Mühe, sich hineinzufinden. Das schafft Unsicherheit und Minderwertigkeitskomplexe, besonders wenn bei Menschen aus den alten Bundesländern besseres Wissen mit Arroganz gepaart erlebt wird. Die Kompliziertheit der für uns neuen Rechtsvorschriften macht diese schwer verständlich. Die Menge der auszufüllenden Formulare in den Ämtern macht die Bundesrepublik für viele zu einem bürokratischen Staat.

Leer1.4 Rückgabeforderungen von Altbesitzern geben denen, die es betrifft, das Gefühl der Heimatlosigkeit. Da hat einer auf einem Grund, der dem Staat gehörte, ein Haus gebaut. Jetzt meldet sich ein Besitzer der Immobilie, auf der das Haus steht. Im Haus steckt die Lebensarbeit seiner Bewohner. Aus Hausbesitzern werden bestenfalls Mieter. Ein gelernter DDR-Bürger hat nicht gewußt, welchen Wert Grund und Boden haben. Ich las, daß bis zum 31. Dezember 1992 300.000 Grundstücke an die früheren Besitzer zurückgegeben werden. Das bezieht nicht nur erfreuliche Veränderungen für eine Million Menschen im Osten und ebensoviele im Westen ein. Unklare Besitzverhältnisse erschweren den Aufschwung Ost und verhindern Investitionen. Wenn weiter gilt: Rückgabe vor Entschädigung, dann muß schneller zurückgegeben werden.

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Leer1.5 Stasiprobleme gibt es überall. Das Ausmaß der staatlichen Kontrolle des einzelnen durch die Stasi offenbart sich erst jetzt. Klärung ist für die Kirche schwierig. Presseleute bekommen jede Auskunft und alle Akten, eine Kirchenleitung nicht. Die Synode der Kirchenprovinz Sachsen hat jetzt eine Änderung dieser Praxis vom Gesetzgeber gefordert.

LeerAm schwersten sind die Informanten aus den eigenen Reihen zu ertragen. In meiner Landeskirche mit 85 Pfarrern waren zwei Kontaktpersonen der Staatssicherheit, der eine, der einzige rote Pfarrer in der Landeskirche, ist wegen der Friedenskonferenz befragt worden. Er hat das dem Kirchenpräsidenten und seinem Gemeindekirchenrat berichtet, bevor er in der Zeitung beschuldigt wurde. Der andere war in der Leitung der Landessynode. Sein Name fand sich in der von der Bildzeitung veröffentlichten Liste. Seinen Antrag auf Überprüfung hat er ohne jeden Hinweis auf seine Stasiverstrickung gestellt. Er hat erst nach Veröffentlichung durch die Zeitung zugegeben, daß er bis August 1989 monatlich mit seinem Führungsoffizier zusammengetroffen sei. Die von ihm weitergegebenen Informationen haben eine Qualität, die den kirchlichen Sonderausschuß zur Stasiüberprüfung veranlaßt hat, den Landeskirchenrat zu bitten, ein Disziplinarverfahren gegen diesen Pfarrer einzuleiten. Aus den Akten unseres Kirchenpräsidenten geht hervor, daß ein inzwischen verstorbenes Mitglied der Kirchenleitung Geld für seine detaillierten Berichte genommen hat. Menschen, die ich kenne, denen ich vertraut habe, haben Verrat geübt. Wie gehen wir damit um? In der Kirche und anderswo? Totale Ausspähung war die Regel. Welcher Michaelsbruder hat seine Brüder verraten? Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß die Namen der Informanten bekanntwerden.

Leer1.6 Wir im Osten haben jahrzehntelang isoliert wie auf einer Insel gelebt. Die Beziehungen zu Ausländern, die bei uns leben wollen, konnten wir nicht einüben. Den ersten persönlichen Kontakt zu Russen hatte ich nach der friedlichen Revolution. Sie durften mit uns nicht reden. Wer es dennoch tat, wurde in die Sowjetunion zurückgeschickt. Ausländerfeindlichkeit ist oft eine Folge von Unerfahrenheit und Unsicherheit. Freilich sollte man nicht den Westen gegen den Osten ausspielen. Während in Hoyerswerda Skinheads tobten, wurde in Saarlouis ein Ausländer totgeschlagen. Viele Anschläge im Osten wurden im Westen geplant. Ausländerfeindlichkeit ist kein Ost-Problem. Es wird zu wenig über die Familien gesprochen und geschrieben, die Ausländer in ihre Wohnungen einladen. Es gibt viel mehr Normalität, als uns die Presse glauben macht. Ich sage das und finde, daß jeder Angriff auf Ausländer einer zu viel ist. Am 7. November werde ich an einem Marsch für Gewaltlosigkeit teilnehmen und auf dem Dessauer Markt sprechen. Morgen fahren mehrere Lastzüge mit Tausenden von Päckchen nach Rußland. Das ökumenische Tschernobylkomitee bereitet den dritten Durchgang von Kindern aus dem Tschernobyl-Katastrophengebiet in Deutschland vor. Viele Ausländer haben inzwischen deutsche Freunde.

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2 Direkter angesehen: Wie Menschen in Sachsen-Anhalt die Menschen aus den alten Bundesländern erleben

Leer2.1 Positiv: Zu uns sind Fachleute aus den alten Bundesländern gekommen, die die Lasten der Trennung von ihrer Familie und verstopfte Straßen auf sich nehmen und häufig erbärmliche, für sie ungewohnte Wohnverhältnisse in Kauf nehmen, um uns mit Rat und Tat zur Verfügung zu stehen. Diese Frauen und Männer werden zu Brückenbauern zwischen West und Ost. Ihnen gebührt unser Dank. Nach dem Weggang von Tausenden von versierten Fachleuten aus der ehemaligen DDR kann der demokratische Rechtsstaat im Osten Deutschlands ohne politisch unbelastete Frauen und Männer aus den alten Bundesländern nicht aufgebaut werden. Ich denke an Dr. Siegfried, den jetzt siebzig Jahre alten Bundesverwaltungsrichter aus Lüneburg, der schon zu DDR-Zeiten regelmäßig in Dessau war und jetzt Verwaltungschef des Magistrats ist; an Dr. Kalb aus der Pfalz, den Manager im Ruhestand, der eines Tages vor meiner Tür stand und mir sagte, er möchte gern etwas für uns tun. Er ist jetzt Finanzdezernent unserer Landeskirche - zum Nulltarif. Er habe genug Geld auf der Kante.

LeerViele Menschen in den alten Bundesländern aber leben, als hätte es die friedliche Revolution in der DDR und die Vereinigung beider deutschen Teile nicht gegeben. Die Einheit ist für sie nichts Handgreifliches. Das ist eine Feststellung, kein Vorwurf. Die Menschen im Westen brauchen sich nicht auf eine neue gesellschaftliche Struktur einzustellen wie die Menschen im Osten. Wer keinen Kontakt nach Ostdeutschland hat, erfährt die Einheit vor allem als finanzielle Mehrleistung, die er erbringen muß.

Leer2.2 Negativ: Schwer lasten die Erfahrungen mit Betrügern aus den alten Bundesländern. Sie nutzten Naivität und Unerfahrenheit zu ihrem eigenen Vorteil aus. Ein Viehhändler aus Bayern fuhr durch meinen Kirchenkreis, kaufte das Vieh auf, ließ es abholen und zahlte nicht. Jetzt gibt es einen teuren Prozeß. Vermutlich bekommen die Bauern ihr Geld - aber wohl erst, wenn ihre Wirtschaften ruiniert sind. Sie brauchen das Geld jetzt.

Leer2.3 Manche müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, daß die Grund stücke und die Häuser, in denen sie wohnen und die sie seit Jahrzehnten gepflegt und aufgebaut haben, Eigentümern aus den alten Bundesländern gehören. Wenn diese Eigentümer wie mittelalterliche Grundherren auftreten, verbreiten sie Angst. Ein Tierarzt, Mann der ersten Stunde bei der friedlichen Revolution, jetzt Landtagsabgeordneter, hatte vor zwanzig Jahren ein Haus vom Landkreis bekommen. Für Grundstück und Haus zahlte er Miete. Das Haus erweiterte er auf eigene Kosten. Garagen wurden gebaut. Er bezahlte. Inzwischen hat der Tierarzt den früheren Eigentümer kennengelernt. Er hatte ihn zu sich eingeladen. Bei der ersten Begegnung gab es ein Verbrüderungsfest und das Gesprächsangebot: Wie lösen wir die unklaren Verhältnisse? Der Altbesitzer hat einen Rechtsanwalt beauftragt. Der Tierarzt und Landtagsabgeordnete fliegt raus. Der Gewinner der Revolution ist zu deren Opfer geworden. Dies ist ein schlechtes Beispiel - leider aber kein seltenes. Es gibt auch gute.

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Leer2.4 Von Menschen aus den alten Bundesländern, die uns nicht kennen, hören wir: »Ihr seid faul. Lernt erst einmal arbeiten!« Nun, dann kommt zu uns und seht. Fragt die aus dem Westen, die im Osten arbeiten. Sie werden die Sache richtigstellen. Für die Ineffektivität der Produktion in den Betrieben sind Politiker und Manager und nicht die Arbeitnehmer verantwortlich. Bei uns wird meist früher aufgestanden als im Westen. - »Ihr wartet, daß der Staat tut, was ihr selber tun müßt.« Dieser Vorwurf ist oft berechtigt. Seit 1933 leben wir in Diktaturen, die uns vorgeschrieben haben, was wir zu tun hätten, und die jeden in ein Versorgungssystem einordneten, das Bequemlichkeit unterstützte, aber wenig Raum für die Freiheit der Persönlichkeit bot. Vielen von uns fehlte Selbstbewußtsein. Als wir um Erneuerung in unseren Kirchen beteten und für Freiheit und Demokratie auf die Straße gingen, hatten wir uns auf uns selbst besonnen. Diese Erfahrung sollten wir nicht vergessen.

LeerWorüber haben wir im Herbst 1989 gepredigt? Ich erinnere mich: über den Auszug der Kinder Israel aus Ägypten zum Beispiel oder über: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Wenn du nicht wie ein Sklave deinen Rücken beugen willst, mußt du dich aufmachen und die Sklavenhalter hinter dir lassen - auch wenn es dann durch die Wüste geht. Wenn du andere lieben willst, mußt du zuerst dich selber lieben, zu dir stehen, auch zu deinen Fehlern. Du bist wer. Dich gibt es nicht noch einmal, denn Gott hat dich als einzigartige Persönlichkeit geschaffen. Aus der grauen Anonymität der Masse erhoben sich Persönlichkeiten und änderten die Verhältnisse. Ein für alle, die es miterlebt haben, unvergleichlich beglückender Vorgang.

Leer»Ihr wolltet nur unsere gute Mark.« Das ist nicht die ganze Wahrheit. Als wir 1989 um Erneuerung beteten und für Freiheit und Demokratie demonstrierten, haben wir an die Einheit und an Geld nicht gedacht. Die Idee der Einheit wurde von den jungen Leuten in die Demonstrationen hineingetragen, die nach der Maueröffnung in den Westen gefahren waren. Menschen der älteren Generation, die den 17. Juni 1953 miterlebt hatten, erschien die Vorstellung von der Einheit der Deutschen in einem gemeinsamen Staat wegen des Sicherheitsbedürfnisses der Sowjetunion und der Abneigung der westlichen Nachbarstaaten im Herbst 1989 politisch nicht realisierbar. Von Januar 1990 an fing sie an, für uns ein Ausweg aus einem Dilemma zu werden, das uns zu schaffen machte: Wir hatten zu wenige unbelastete Fachleute, die das marode Land verwalten konnten. Sie waren in den Westen abgewandert. Dazu kam der zunehmende Druck junger Leute, die noch existierende DDR zu verlassen. Im späten Frühjahr 1990 wurde dann die Einheit außenpolitisch möglich, dank den deutschen und sowjetischen Außenministern und Regierungschefs und dank dem amerikanischen Präsidenten.

LeerWas wäre passiert, wenn die Einheit 1990 nicht gekommen wäre? Über 50 % aller Ostdeutschen wären in den Westen gefahren - im stinkenden Trabi -, um dort zu bleiben. Die Bundesrepublik wäre durch die Fluchtwelle wirtschaftlich ruiniert worden. In der weiterexistierenden DDR wären die alten politischen Kräfte wieder in den Führungspositionen. Die »Betonköpfe« aus der DDR und die aus der Sowjetunion hätten Gorbatschow gestürzt. Den Namen Jelzin würden wir nicht kennen. Stalinisten würden heute im Ostblock regieren. Der Westen müßte die Verteidigungsausgaben erheblich aufstocken. Und wir Leute von der Kirche säßen in den Bunkern und Burgverliesen, die man schon für uns vorbereitet hatte.

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LeerDie deutsch-russische Arbeitsgemeinschaft und der Magistrat der Stadt Dessau hatten den russischen Konsul aus Leipzig ins Rathaus eingeladen. Er sollte über »Rußland in Europa« sprechen. Das Wort Europa kam in seinem Vortrag nicht vor. Er bejammerte die Unordnung in der früheren Sowjetunion und wünschte sich die alte Ordnung zurück. Als eine Russin, die, mit einem Deutschen verheiratet, in Deutschland lebt, ihn bat, die komplizierten Genehmigungsverfahren des Konsulats bei Hilfsaktionen für GUS-Staaten zu vereinfachen und Transporte mit Hilfsgütern für Tschernobyl-Kinder nicht aufzuhalten, reagierte er scharf: in Rußland gehe alles drunter und drüber. In seinem Verantwortungsbereich werde nach Vorschrift gearbeitet. Ich fürchte, es gibt zu viele »Betonköpfe« in der früheren Sowjetunion. Es gibt viele Hinweise darauf, daß sie demokratische Entwicklungen sabotieren. Wie lange wird es Jelzin noch geben?

Leer»Ihr seid undankbar. Ihr vergeßt, was wir für euch getan haben.« Das ist nicht richtig. Doch haben wir vielleicht zu selten und nicht laut genug gesagt, daß wir dankbar sind für Freiheit und Einheit, die ohne die Mitbürger und Politiker aus den westlichen Bundesländern nicht zu erreichen gewesen wäre? Wir danken unseren Schwesterkirchen in den westlichen Bundesländern, daß sie uns in der Vergangenheit geholfen haben und uns jetzt beistehen, die Anpassungsschwierigkeiten an das für uns neue Gesellschaftssystem zu überwinden. Ohne die Hilfe der Mitbürger im Westen würde es uns schlecht gehen. Daß ihr, liebe Brüder aus den Westkonventen, in der Vergangenheit unseretwegen tief in die Tasche gegriffen habt, und vor allem, daß ihr zu uns gekommen seid, als wir nicht kommen konnten: Danke, Schwestern und Brüder!

Leer2.5 Mancher im Westen vergißt, daß Freiheit und Einheit nicht nur durch die geschickten Verhandlungen der Politiker Wirklichkeit wurde, sondern vor allem durch den Protest von Millionen Menschen in den Staaten des östlichen Mitteleuropas. Die waffenstarrende Grenze mitten durch Europa ist verschwunden. Der Ost-West-Konflikt existiert zur Zeit nicht mehr. Er braucht auch nicht mehr bezahlt zu werden. Freilich sollten wir unsere Sicherheit und die Sicherheit der Staaten Osteuropas nicht durch Nachlässigkeit aufs Spiel setzen. Es gibt leider deutliche Zeichen, die einen politischen Rückschlag in der ehemaligen Sowjetunion erwarten lassen. Welche Empfindungen wir im Osten haben, wenn wir daran denken, kann sich jeder vorstellen: Gott sei Dank, daß wir zur Bundesrepublik gehören! Und: Was können wir tun, um den Russen und Litauern, den Polen und Tschechen (und alle anderen sind mitgemeint) zu helfen, ihren Weg zur Demokratie zu gehen?

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3 Was wir gemeinsam tun können.

LeerAcht unvollständige Gedanken dazu: Das »Wir« ist jetzt östliches und westliches »Wir«.

Leer3.1 Bereitschaft muß da sein. Die innere Einheit kommt nicht von selbst. Sie muß wachsen. Sie braucht Zeit. Sie braucht aber vor allem unsere Kraft und Zeit. Es ist trivial, aber wahr: Von nichts kommt nichts.

Leer3.2 Wir müssen uns bewegen. Durch die schnellen Veränderungen während und nach der friedlichen Revolution sind die Menschen im Osten auf Tempo gebracht worden. Die Menschen im Westen auch? Wenn noch nicht, dann müssen sie endlich begreifen: Die Welt ist nicht mehr so, wie sie vor drei Jahren war. Zum Bau des gemeinsamen deutschen Hauses haben wir den Bauplatz in Europa zugewiesen bekommen. Jetzt gilt es, zu projektieren und zu bauen. Dabei kann Hast schaden. Geduld, die Bequemlichkeit ist, aber auch.

Leer3.3 Die gemeinsame Geschichte unseres Volkes muß geschrieben werden. Deutsche Geschichte ist nicht nur die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bis zum 3. Oktober 1990. Die Geschichte der DDR gehört zur deutschen Geschichte. Sie darf nicht nur als eine verunglückte Episode verdrängt werden. Unsere deutsche und europäische Geschichte kann man sehen: die Prager Burg, Wien und Salzburg, Aachen und Paris, den Magdeburger Dom, die Wartburg, die Schloßkirche von Wittenberg. Im Februar 1991 bin ich mit einer Konfirmandengruppe in unsere Partnergemeinde Cambridge gefahren. Mein inzwischen abgewrackter alter Wartburg war mit auf der linken Spur. Die jungen Leute bekamen einen starken Impuls, Englisch zu lernen.

Leer3.4 Die Geschichte unserer Kirchen in der Zeit der Trennung ist zu schreiben. Wir sollten uns gegenseitig erzählen, wie es war, was wir empfunden haben und miteinander gelernt haben. Die gemeinsame ökumenische Arbeit beim konziliaren Prozeß hat die Wirklichkeit des DDR-Staates analysiert und in die Öffentlichkeit gebracht. Die ökumenischen Gebete um Erneuerung haben dazu beigetragen, die Veränderungen friedlich zu beginnen.

Leer3.5 Wir sollten uns treffen und miteinander reden, damit unsere Sprache eins wird. Ich meine nicht allein die deutsche Sprache - die auch! -, sondern die verstehende Sprache des Herzens: Christen aus Ost und aus West, Protestanten und Katholiken. Unsere bestehenden Partnerbeziehungen sind eine gute Voraussetzung dafür. Treffen, gemeinsame Arbeitskonferenzen, Pfarreraustausch zwischen Ost und West - für viele Gemeinden ist das selbstverständliche Praxis. Aber nicht für alle. Bruder Pfarrer, wann hast du das letzte Mal deine Partnergemeinde besucht? Hast du überhaupt eine?

Leer3.6 Im öffentlichen Bereich sollten wir alles unterstützen, was der Einheit dient. Wer, im Westen zu Hause, im Osten arbeitet, ist oft isoliert. Er vermißt die gesellschaftlichen Kontakte, die er im Westen hatte. Auf der Insel DDR war es nicht üblich, sich stehend bei Empfängen mit dem Sektglas in der Hand zu begegnen und abends einzuladen. Lieber Bruder aus dem Osten! Hast du schon einmal den Landgerichtsdirektor, der aus München zu euch gekommen ist, zum Abendbrot eingeladen? Wer schreiben kann, sollte Leserbriefe und Artikel verfassen, die das gegenseitige Verstehen fördern.

Leer3.7 In den Kommunen und Kirchengemeinden müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir für diejenigen Aufgaben schaffen, die wegen ihres Alters oder Geschlechts auf neue Arbeit warten. In unserer kirchlichen Arbeitsgemeinschaft oder auch in freien Vereinen finden viele Menschen neue vernünftige Aufgaben zum Wohle der Allgemeinheit. Wir sollten das unterstützen.

Leer3.8 Der Kontakt mit Ausländern, die bei uns zu Gast sind, wird von vielen unserer Gemeinden gesucht. Eine besondere Aufgabe ist die Eingliederung der häufig christlich eingestellten Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion. Hier sollten wir im Osten uns die langjährigen Erfahrungen unserer westlichen Partnerkirchen zunutze machen.

LeerIch schließe. Was ich sagte, ist ergänzungsbedürftig und unvollständig, so unvollständig wie die Einheit. Unser Herr sagt: Was ihr getan habt..., das habt ihr mir getan. Packen wir es an - miteinander, füreinander, betend!

Quatember 1993, S. 5-15

Leserbrief Traute Neubauer

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-30
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