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Über Höhlen (Zweiter Teil)
von Gerhard Steege

Erster Teil

LeerVon der Höhle als Ort geistlichen Kampfes nun zur Höhle als Ort der Geborgenheit. Es ist bekannt, daß unsere Vorfahren Höhlen oder höhlenartige Nischen in Bergwänden als Wohnstätten benutzten. Sie boten Schutz, wie unzureichend auch immer, vor den Unbilden der Witterung, vor Raubtieren (auch mit Hilfe des Feuers!). Die Schutzfunktion begegnet uns nun öfter.

LeerZiehen wir diese Linie des Schutzes weiter aus, so kommen wir später zum Haus, sei es Hütte, sei es Palast. Als eine wichtige Station zum Verständnis dieser Entwicklung hat sich die Ausgrabungsstätte von Lepenski Vir (am Donauknie, dem »Eisernen Tor«, zwischen Serbien und Rumänien) erwiesen. Der Religionswissenschaftler Ulrich Mann beschreibt, wie die Wohnbauten so angeordnet sind, daß sie wie Teile einer Großhöhle wirken, aber eben schon in der Welt »draußen«. Die spannungsreiche Dialektik zwischen »drinnen« und »draußen« deutet sich hier in einer sehr frühen Zeit der menschlichen Geschichte an. Es ist die Spannung zwischen aufbrechen, sich ausdehnen einerseits und sich zurückziehen andererseits, zwischen entdecken, schaffen und leisten auf der einen Seite und behütet und geborgen sein wollen auf der anderen - eine Grundspannung unseres Lebens. Diese Grundspannung zieht sich in den unterschiedlichsten Ausprägungen und Stärken durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch, in ihren Akzenten manchmal ausgewogen, häufig aber recht asymmetrisch.

LeerIch sah einmal eine Spruchkarte mit einer Pflanze und dem Eindruck: »Was hoch hinaus will, muß tief wurzeln.« Diese Einsicht gilt sicher auch auf einer anderen Ebene: Wer weit ausgreift, viel leistet, Verantwortung trägt, muß sich zuzeiten zurückziehen, sich geborgen fühlen können. Die Progression braucht die Regression. Es ist kein Zufall, daß seit geraumer Zeit viele Menschen nach Meditation fragen oder Retraiten aufsuchen (=Rückzug). Dieser Wunsch, sich zurückzuziehen, taucht schon bei Kindern auf. Einer meiner Söhne buddelte sich als Kind im Garten eine Höhle (damals nicht gerade zum Vergnügen der Eltern); ein Enkel malt sich als Zehnjähriger eine Höhle mit allem, was zu einer Wohnung gehört: Bei den enormen Anforderungen, denen die Kinder zum Erlernen der »Lebensbewältigung« ausgesetzt sind, sind solche Äußerungen wie ein Pendelausschlag zur anderen Seite.

LeerLiterarisch verdichtet fand ich dies Bedürfnis in einem amerikanischen Pfarrer-Roman, der vor dreißig Jahren in der Evangelischen Verlagsanstalt in der damaligen DDR erschienen war. Der Pfarrer, der als Hinzugezogener in seiner Stadtkirche einen kleinen Raum zu benutzen anfing, wurde von einem jungen Mann aufgesucht, der ihn so begrüßte: »Also das ist der benmost bore!« Dem Pfarrer, der etwas von »Langweiler« heraushörte (englisch bore = Langweiler), erzählte er aber das folgende: »Wir hatten lange Zeit eine alte schottische Haushälterin, als ich noch klein war... Sie war den ganzen Tag für mich da, ausgenommen eine Stunde jeden Nachmittag, wenn sie in ihr Zimmer ging und ich ihr nicht folgen durfte. 'Wohin gehen Sie, Meg?' fragte ich sie jeweils. 'Ich gehe in mein benmost bore, meine Höhle tief drinnen', antwortete sie immer. Niemals ließ sie mich in ihr Zimmer kommen. 'Das ganze Haus gehört ja dir', pflegte sie zu sagen. 'Laß mich nun in Ruhe.'«

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LeerHier ist in einen Roman eingebettet, wie viele unter uns ihre eigene Wohnung erleben. »Wenn ich meine Wohnungstür hinter mir zugemacht habe, dann will ich von all dem draußen nichts mehr hören!« habe ich so manchen sagen hören. (Ob die Betreffenden das selbst immer verwirklicht haben, ist eine andere Frage -deutlich genug aber ist das Rückzugsbedürfnis, das Bedürfnis nach »Abtauchen«.) Wohl dem, der dies Bedürfnis auch bemerkt, wenn es sich meldet, und Gelegenheit sucht und findet, ihm nachzugeben! So wie die alte Haushälterin spürte, wie sie den Rückzug auf ihr Zimmer als Ausgleich für die sonstige Dauerbeanspruchung brauchte, so ist es für die Balance unseres Seelenhaushaltes unerläßlich, einen Raum zu haben - örtlich und zeitlich verstanden -, wo wir, nicht beansprucht, eine Weile einfach da sein können. Hier kann nur auf den Ausgleich hingewiesen werden, nicht aber kann auf die Hindernisse eingegangen werden, die für den Ungeübten auftauchen, wenn er versucht, solchen »Rückzug« auch tatsächlich zu erreichen.

LeerBleiben wir noch einen Augenblick bei der Wohnung. In Rußland hatten in der vorsozialistischen Zeit die Wohnungen der Gläubigen ihre sogenannte Rote Ecke: die Stelle, wo die Ikone an der Wand hing, zu der hin man sich wandte, wenn man sich bekreuzigte, weil er die Gegenwart des Herrn anzeigte. Die unreflektierte Einstellung, daß Gott und menschliches Leben zusammengehören, ermöglichte dies Gebaren. Im Grunde ist es die gleiche Einstellung, die den steinzeitlichen Menschen veranlaßte, in seinem Höhlensystem, in dem er vorn wohnte, weiter hinten die Kult-Höhle einzurichten. In dieser Epoche des magischen Welt- und Lebensgefühls gab es noch keine Trennung zwischen Heilig und Profan, sondern es wurde alles mit allem zusammenhängend und aufeinander einwirkend erlebt und gedacht. In mythischer Vorzeit wurde die Welt selbst als Höhle erlebt, die ihrerseits innerhalb des »Weltberges« liegt. Wiederum ist es Ulrich Mann, Religionswissenschaftler und selbst Bergsteiger, der uns auf die Deutungen solcher Ausgrabungen in Jericho und in Catal Hüyük in der Türkei hinweist.

LeerKehren wir unter neuem Blickwinkel wieder zur Schutzfunktion der Höhle zurück. Bis heute suchen geängstigte und verwirrte Menschen die relative Sicherheit der Höhle auch äußerlich immer wieder, von den Wagenburgen der Buren im früheren Südafrika und der nach Westen fahrenden Siedler im Nordamerika des 19. Jahrhunderts bis zu den Sicherheit bietenden Häusern in Deutschland etwa für bosnische Kriegsflüchtlinge, die hier aufgenommen wurden (ich schreibe diesen Essay im August 1992). Doch diese Beispiele sind hoffentlich Turbulenzen einer zu Ende gehenden Groß-Epoche. Bleiben aber dürfte die Suche der Menschen nach Gemeinschaften, in denen sie psychische Sicherheit erhoffen - meist ganz unbewußt -, also eine Gesinnungsgemeinschaft, die ihnen durch Aufnahme und durch Befolgung der internen Gesetze eine gewisse Identitäts-Stärkung vermittelt. Dies Phänomen findet sich auf allen Ebenen, von kriminellen Jugendbanden über esoterische Gruppen und Parteizugehörigkeit bis hin zum Beispiel auch zur Evangelischen Michaelsbruderschaft.

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LeerSolche Gruppierungen können ihre Mitglieder in ihrem Selbstwertgefühl tatsächlich stärken - wobei in solcher Aufreihung die Wertmaßstäbe völlig außer acht gelassen wurden! Maßstäbe kommen aber sofort in den Blick - sowohl im sozialpsychologischen wie im geistigen Rahmen -, wenn die Frage nach der Rolle und dem Wert des einzelnen innerhalb des Ganzen gestellt wird. Daß hier Unterschiede wie zwischen Tag und Nacht deutlich werden, liegt auf der Hand. Im Rahmen unserer Betrachtung ist die Frage ausschlaggebend, wie der Höhlen-Suchende die psychische Höhle erleben will: als endgültige, dauerhafte Geborgenheit oder als vorübergehende Zuflucht. Immer wieder einmal eintauchen in solche bergende Höhle, in der man das Verantworten- und Entscheiden-Müssen ablegen und »Kind« sein kann - das braucht wohl jeder von uns. Psychologie und Seelsorge kennen und unterstützen das gelegentliche Aufsuchen solcher »regressiven Phasen«. Auf lange Sicht sind sie für die psychische Gesundheit, für die Progression, die menschliche Reifung sogar unabdingbar.

LeerDer Prophet Elia ist ein herausragendes biblisches Beispiel, wie er nach der Flucht vor der erschreckenden Realität und dem Sich-Bergen in der Höhle angesichts der unerträglichen Majestät Gottes den neuen politischen Auftrag von Gott auf sich nimmt. Ganz anders einzuordnen ist dagegen der Wunsch nach Dauergeborgensein, nach Verbleiben in solcher »Höhle«: Da wäre dann etwa zu fragen, welche Ängste es sind, die einen Menschen hindern können, den Schutz einer solchen »Höhle« wieder zu verlassen, in die Welt »draußen« hinauszugehen und sich den Aufgaben, den Risiken und, insgesamt, der Freiheit in der Außenwelt wieder zu stellen, aber sie auch zu genießen. Den möglichen Hintergrundmotiven, die bis zur unbewußten Flucht in die Höhle einer leiblichen oder psychischen Krankheit reichen können, gehen wir hier nicht weiter nach.

LeerIm tiefsten Grunde aber ist die Sehnsucht nach Geborgenheit und Schutz für den Menschen, der auch die unerläßliche Sendung in die Welt ernst nimmt, ein Urphänomen unseres Gottesglaubens: »Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir«, betet der Psalmist (139,5). Vom Glauben her ist diese Sehnsucht, diese Gewißheit ein Widerschein der spirituellen Dimension, in der wir uns von Gott ohne Vorbehalte angenommen wissen und uns bei ihm, in seiner Hand, bergen können, so, wie wir gerade sind. Auch im Glauben sind Progression und Regression zwei Seiten einer Münze.

LeerWir sind ausgegangen von dem weihnachtlichen Thema der Höhle als Ort der Geburt des Heilandes und haben einen großen Bogen geschlagen, um einige Gesichtspunkte der »Höhle« in den Blick zu bekommen. Ihre Vielschichtigkeit ist unerschöpflich. Manches haben wir nur eben andeuten können, anderes nicht einmal erwähnt. Das eine oder andere könnte (so hoffe ich) wie ein Fenster sein, durch das sich wieder neue, eigene Gedankenketten zeigen. Die Einseitigkeit, in der ich bei dem Gegensatzpaar von Höhle und Berg, von innen und außen, von Einkehr und Anspannung immer wieder vorzugsweise den Innenpol betont habe, ist Absicht gewesen. Das Kind in der Krippe hat sich als Erwachsener der Welt bewußt zugewandt und ausgesetzt. Wir in der heutigen Zeit haben den Höhlenaspekt des Lebens zu stark eingebüßt, als daß wir es uns im Blick auf die Zukunft leisten dürften, ihn auch weiterhin zu vernachlässigen. Die menschheitliche und die kirchliche Tradition haben wir dabei an unserer Seite.

Quatember 1993, S. 38-41

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-07
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