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Zur neuen Begegnung der evangelischen und der
anglikanischen Kirchen - Anregungen

von Manfred Richter

Vorbemerkung

LeerDie anglikanische Kirche ist nicht mehr »Tory at Prayer« - die gesellschaftskritischen Positionen des bisherigen Erzbischofs Runcie und etwa des Bischofs von Durham zeigten uns da neue Entwicklungen -, wie auch der deutsche Protestantismus - in beiden deutschen Staaten - in der Nachkriegszeit grundlegend neue Erfahrungen im Umgang mit dem Staat gemacht hat. Es ist an der Zeit, sich gegenseitig dogmatisch wie kirchenpolitisch neu wahrzunehmen. Die Inkraftsetzung der »Meißener Erklärung«, wie sie in feierlichen Gottesdiensten in London und Berlin Anfang 1991 erfolgt ist, gibt dazu willkommenen Anlaß.

I Ökumenisches Umfeld

LeerI.1 In Deutschland gab es in den vergangenen Jahren im Bereich der EKiD und des Bundes der Kirchen in der DDR Vereinbarungen über eine gegenseitige Anerkennung der Ämter und Sakramente, welche uns schon bisher zu Besinnung über neu gewonnene ökumenische Möglichkeiten führen konnten: Fast unbeachtet, aber in der Sache aufsehenerregend, diejenige mit den Altkatholiken - und das heißt ja nicht weniger als: mit der katholischen Tradition bis in den Anfang des vergangenen Jahrhunderts hinein, also über die große abendländische Kirchenspaltung im 16. Jahrhundert hinweg! Denn die altkatholische Kirche, soweit sie sich den Beschlüssen des Vaticanum I versagte, vertritt eben diese Tradition, heute von Impulsen biblischer Überprüfung her altkirchlich interpretiert. Diese andere, die alte katholische Tradition aber vermag sich heute in der wenn auch zahlenmäßig geringen altkatholischen Kirche an der ökumenischen Bewegung so zu beteiligen, daß sie mit den evangelischen Kirchen Anerkennung der Ämter praktizieren kann. Haben wir das eigentlich schon zur Kenntnis genommen? Daneben ist eine nicht weniger wichtige Vereinbarung getroffen worden, die sogar noch weiter geht: die volle Kirchengemeinschaft mit den Methodisten. Sie sind es, die von den britischen Inseln her freikirchliche Strukturen mitbrachten und so lange Zeit von den Landeskirchen scheel angesehen waren. Sie brachten zugleich ein Stück Erbe eines aus dem Anglikanismus entstandenen, doch mehr biblisch orientierten missionarischen Christentums zu uns.

LeerI.2 Die anglikanische Kirche ihrerseits steht in Großbritannien im Zentrum ökumenischer Bestrebungen, die bereits fast zu einer vollen Kirchengemeinschaft mit den Methodisten geführt hätten, die also die im 18. Jahrhundert entstandene Spaltung beendet hätte. Erst kurz vor dem Ziel (die meisten Gremien hatten schon zugestimmt) scheiterten sie (diesmal noch). Heute sind Vereinbarungen zur Gestaltung ökumenischer Organe getroffen, durch die fast alle britischen Kirchen einschließlich der römisch-katholischen gemeinsame Handlungsmöglichkeiten entwickeln.

LeerI.3 Auf europäischer Ebene wird die Frage nach der Stimme des Protestantismus immer dringlicher - in den ostwestlichen innereuropäischen Fragen (die Bemühungen der KEK in Jugoslawien sind gescheitert) wie in den Fragen des Nord-Süd-Verhältnisses; aber auch in den inneren Problemen der europäischen Gesellschaft(en) samt der Zuwanderungsfrage. So wurde jetzt erstmals eine europäische protestantische Kirchenkonferenz in Budapest durchgeführt, nachdem zuvor Paolo Ricco von der Waldenserkirche in Italien vor der EKU-Synode in Berlin sogar eine europäische protestantische Synode gefordert hatte. Sie verstand sich aber im Rahmen der KEK und als Vorbereitung auf deren bevorstehende Vollversammlung in Prag, September 1992. Parallel artikuliert sich die Stimme der Orthodoxie unter der der geistlichen Leitung des Ehrenvorsitzenden, des ökumenischen Patriarchen Bartolomaios, erst vor kurzem in Konstantinopel/Istanbul inthronisiert, der auch weiter für ökumenische Öffnung der Orthodoxie, im Grundsatz, einsteht.

LeerI.4 Wie aber steht es mit der wechselseitigen Lernbereitschaft und dem geistlichen Austausch zwischen den evangelischen und den anglikanischen Traditionen? Dieser wäre vielleicht noch wichtiger als manche kirchenpolitische Aktion oder Divergenz (die wir auch in der Frage der europäischen protestantischen Synode antreffen). Theologisch ist jedenfalls in bilateralen Dialogen zwischen allen Kirchen seit 1871 (dem Zeitpunkt der Entstehung der altkatholischen Kirche aus Protest gegen das Vaticanum I) bis zur Meißener Erklärung eine Menge geklärt, vieles schon abschließend, die offenen Fragen sind begrenzt und überschaubar. Sie liegen als Stein des Anstoßes meist deutlicher im Bereich kirchlicher Praxis als auf den Steinbrüchen der Theologien.

II Historische Zwischenbemerkungen

LeerII.1 Zur Entstehung des Common Prayer Book: Die deutsch-englischen Beziehungen waren so gering nicht, bedenkt man, daß schon für das Common Prayer Book Vorlagen des Hermann von Wied (vertriebener, weil evangelisch gewordener Erzbischof von Köln) und auch aus Nürnberg (Andreas Osianders Nichte war Cranmers Frau) eine Rolle spielten (1549). Die Revision 1552 entstand in Beratung mit Melanchthon, Calvin und Buzer. (Buzer, der nach Cambridge berufen war, hätte 1991 zu seinem 500. Geburtstag in Deutschland deutlicher bedacht werden sollen.) Dabei wurden Epiklese (heute denken wir, im Kontakt mit der Orthodoxie eines besseren belehrt, auch protestantisch anders über diese Frage), Salbung (ist sie aber nicht altkirchlich gut begründet?), Exorzismus u.a. herausgenommen. Die abgeschafften Meßgewänder lediglich wurden bereits 1559, nachdem Cranmer unter Maria der Katholischen 1556 hingerichtet worden war, wieder eingeführt. Das hat der anglikanischen Gemeinde den steten Anblick des schwarzen Professorentalars als Priester/Pfarrergewand im Gottesdienst erspart, dem die festländischen Protestanten seit der Reformation zumeist ausgesetzt waren. Und es hat die Bedeutung der Fülle der Liturgie »sichtbar« gehalten.

LeerII. 2 Das sind Dinge, die seit 1854 durch die neue anglokatholische Bewegung wieder gefordert und seit dem Revisionsentwurf (von 1904-27 erarbeitet, nicht vom Parlament verabschiedet, aber in Gebrauch genommen) in offener Weise freigestellt werden. Für die zunächst 42 Artikel mit ihrer klaren evangelischen Rechtfertigungslehre (1552) ist anzumerken, daß die zunächst calvinische Abendmahlslehre in der späteren und seither gültigen Fassung der 39 Artikel (1563) mehr lutherisch-brenzisch formuliert wurde. Seit der Uniformitätsakte unter Elisabeth (1558-1603, mit ihr wurde die katholische Rückorientierung unter Maria 1553-58 wieder aufgehoben), 1559, gilt so die wohl bis heute charakteristische anglikanische Variante des Protestantismus, in der strenger Bibelbezug im Common Prayer Book, calvinische und lutherische Elemente in Theologie und Gottesdienst, dabei Verwendung von Kerzen, Kreuzen, Bildern und Priestergewändern und die Beibehaltung der apostolischen Sukzession und alten Hierarchie gelten - bei bis heute staatskirchlichen Strukturen.

III Die Rechtfertigungslehre als »articulus stantis sive cadentis ecclesiae« (»Artikel, mit dem die Kirche steht oder fällt«) ist also unangefochten. Daneben aber gilt Freiheit der Ausgestaltung des Kirchenwesens. Was heißt das als Lernchance in der Verbindung mit dem Anglikanismus? Ich nenne vier Aspekte.

LeerIII.1 Liturgie: In der anglikanischen Kirche hat sie Vorrang im geistlichen Leben, seit Cranmer und dem Common Prayer Book. Wir brauchen eine neue Aufmerksamkeit für Liturgie. Es wird zu sehen sein, wie weit die Reformüberlegungen der »Erneuerten Agende«, in die auch Anregungen aus der anglikanischen Tradition eingegangen sind, dazu ausreichen. Sie ist ja wohl eher als Werkbuch verstanden, das als solches noch nicht Aufmerksamkeit auf Liturgie, die Wiederherstellung ihres zentralen Ranges bewirken kann. Ich sage »Wieder-«, weil es meines Erachtens eine Verwilderung liturgischen Empfindens bei uns gibt, welches ebenso bei Gottesdiensten in traditioneller wie in neuer Gestalt dringend eingeübt werden muß. Dem steht bei uns, wie ich denke, negativ die mangelnde Orientierung der Pfarrer - auch schon in der Ausbildung - auf Liturgie entgegen, verbunden mit einem unbedachten »protestantischen« antiliturgischen Affekt; und »positiv« die Überschätzung der Predigt und überhaupt der Rolle des Pfarrers, bis hin zur ewigen pastörlichen Ansagerei im Gottesdienst, was jetzt kommt (wo doch der Mensch Anschläge des Liedes zum Beispiel lesen kann). Die Liturgie ist ein hochsensibles und zugleich umfassendes Zeichensystem, das unendlich viele Kommunikationsmöglichkeiten und -ebenen einschließt, die keineswegs so pfarrerorientiert sind, wie wir sie in der deutschen protestantischen Tradition haben.

LeerDazu gehört auch die Anerkennung der Dimension von Eigenkompetenz der Teilnehmer (durch Liturgie ausdrückbar!), ihres Anrechts auf Stille und eigene individuelle Verhaltensweisen (entgegen der Kollektivierung in der Kirchenbank), z.B. Andacht vor einem Bild oder Text, und der Schutz vor der allzu dominanten verbalen Übermacht des Predigers, der zu viel Zeit von mir beansprucht und mir zumutet, seinen Gedanken zu folgen, statt mich von ihm nur anregen zu lassen.

LeerBilder, Altar, ja Hostie: Dies scheint in der anglikanischen Kirche eine andere Rolle spielen zu können »mit«, nicht »trotz« Rechtfertigungs-Lehre. Und die Farbensymbolik und die damit gegebene kosmische und heilsgeschichtliche Präsenz, ohne Worte, in den liturgischen Gewändern weiten den Gottesdienst; geben ihm vergessene Dimensionen zurück. Die neuerlich mögliche Ordination auch der Frau zum Priesteramt in den meisten anglikanischen Diözesen nähert uns auch in diesem Punkt aneinander an.

LeerIII.2 Low Church - High Church. Dieses »geordnete«, anerkannte Nebeneinander verschiedener kirchlicher Orientierungen - warum ist es bei uns so schwer, dies bewußt zu praktizieren? Es wäre über die historischen Voraussetzungen im 17./18. Jahrhundert für diesen Dualismus und die heutigen Ebenen zu reden. Laßt uns solche Richtungen klarer zugestehen. Auch die anglokatholische Richtung: Was hindert's, diese Orientierung auf einem Fundamentalkonsens aufbauend, innerkirchlich gleichermaßen gelten zu lassen? Zum Beispiel die mönchische Bewegung, als protestantische - und die kommunitäre auch im Sinne von Low Church - why not? Hier könnten Kräfte gebündelt und neue befreit werden.

LeerIII.3 Kirchenstrukturelles: Synodalismus versus Episkopalismus - ist das notwendig ein Entweder-Oder? Oder ist eine »Balance of Powers« möglich und fruchtbar? Sprich: Sollte in der Frage der apostolischen Sukzession per Handauflegung an Bischöfe auf immer kein Fortschritt möglich sein? Ich stimme der Tendenz der Konvergenzerklärung von Lima zu: Als frei akzeptiertes Zeichen scheint sie mir reformatorisch akzeptabel. Das heißt, was de facto geschieht in der interkonfessionellen Ordinationsassistenz, sollte gewollt werden. - Argumente gibt es auch historisch: der Bruch kam de facto, er war nicht gewollt auf dem Kontinent (anders verlief es ja auch in Schweden; vgl. zum Beispiel auch Brandenburg: 1540, noch in der Ersten Kirchenordnung hielt man am traditionellen Bischofsamt fest). Der Begriff »Not-Bischof« zeigt es ebenfalls.

LeerAuch anglikanisch ist ja das Supreme Head of the Church Heinrichs VIII. elisabethanisch geändert in höchste staatliche Instanz in ecclesiasticis. Mir scheint hier eine historische Entscheidung im Protestantismus an der Zeit. Interessant ist ja die Verbindung gerade calvinischer und zwinglischer Lehre mit dem historischen Episkopat in Großbritannien! Daß andererseits auch reformiert-presbyterale Bedenken und demokratische Grundprinzipien bei jeder evangelisch-ökumenischen Kirchenstruktur zu berücksichtigen sind, versteht sich meines Ermessens von selbst: Es müßte ein ausgewogenes Verhältnis von Synodalismus und Episkopalismus geben. Mit liegt aber daran, daß es im interkonfessionellen Gespräch und der schon realen Praxis zu einer Anerkennung der Ämter und voller Gemeinschaft kommen kann.

LeerVielleicht kann die methodistische Tradition mit ihrer Auffassung des Bischofs als Moderator ein Stück helfen. Ansonsten: die bischöfliche »Weihe«-Gewalt als Ordinationsbefugnis für die geistlichen Ämter - »sine vi sed verbo« (»ohne Macht, allein mit dem Wort«). Dies wäre auch gegenüber dem realen anglikanischen Modell eine Abweichung, aber müßte es nicht so möglich sein, die Anfragen an die Rückbeziehung der protestantischen Ämter auf die gesamtkirchliche und altkirchliche Tradition gemeinsam neu zu beantworten? Zugleich gibt es einen semiotischen Aspekt. Das Bischofsamt ist bedeutsam als ein Amt der Gemeinschaft. Und die Synode als Organ der Selbstbestimmung des sozial real existierenden Volkes Gottes. Beides, Amt und Organ, »im Heiligen Geist«.

LeerIII.4 Staat und Kirche: In dieser Hinsicht haben wir bei lange geschichtliche Zeit hindurch recht parallelen Verhältnissen heute je eigene Wege zu suchen, um in die Freiheit christlichen Handelns einzutreten, wo sie blockiert ist, und den schmalen Weg zwischen Volksverbundenheit und Staatsunabhängigkeit zu finden. Rein Staatskirchliches dürfte auf Dauer nur schwer vertretbar bleiben. Aber die gesellschaftlichen Zwänge hin auf Kirchenmeinungsbildung sind nicht weniger ernst zu nehmen. Wie kann man - wo nötig -»Dissenter«-Kirche sein und dennoch mitten in der Gesellschaft existieren, nicht als »Sekte«, was in der Tat zu fürchten (oder oft schon Realität) ist, sondern in einer Volkskirche als »freie« Kirche?


Anmerkung: Diese Anregungen wurden vorgetragen aus Anlaß eines evangelisch-anglikanischen Seminars mit Canon Paul Oestreicher, Coventry, im Oktober 1991 im Haus der Kirche Berlin. Der Text nimmt ergänzend Hinweise auf seitherige ökumenische Ereignisse auf (Stand Juli 1991).

Quatember 1993, S. 45-49

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-07
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