Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1993
Autoren
Themen
Stichworte


Vom Geheimnis der Thora
von Rolf Umbach

LeerNach der Entmythologisierung war in der Theologie nichts mehr wie zuvor. Wie einstens die Eiszeit war sie über die ehemals scheinbar so wohl geordnete und bestellte Landschaft dahingegangen. Möglicherweise wird das bis jetzt mehr bedauert als begrüßt. Rückgängig machen aber läßt sich nichts mehr. So muß man die positiven Möglichkeiten der Moränenlandschaft, die die Entmythologisierung hinterlassen hat, zu nutzen versuchen. Eine dieser Möglichkeiten ist rasch ausgemacht, man könnte sie die »neue Unbefangenheit« nennen, die es Christen z.B. erlaubt, offen und ohne ständig zu Umdeutungen gezwungen zu sein, sich ihrem jüdischen Erbe zuzuwenden. Dieses Erbe, so will man gerne glauben, war von der Entmythologisierung ohnehin verschont geblieben, besser gesagt, es konnte von ihr gar nicht erst heimgesucht werden, da sich das Judentum selbst seit langem seiner mythischen Fesseln entledigt zu haben schien und sich als eine Religion verstand, die ihren Anhängern nicht abverlangte, einen Katalog von Glaubenswahrheiten gedemütigten Verstandes zu akzeptieren, sondern sie stattdessen lehrte, mit vertrauendem Herzen sich Gott zu öffnen und der Not des Nächsten und des Fernsten tatkräftig zu begegnen.

LeerUnversehens wurden so die Entmythologisierung und die Reduktion des Christentums auf eine jüdisch-jesuanische Sozialethik zu fast so etwas wie den zwei Seiten einer und derselben Erscheinung. Doch war dabei nicht übersehen worden, daß das Judentum keinesfalls von seinem Ursprung her so verstandesbetont ist, wie man es gerne wahrhaben wollte? Warum z.B. halt es denn so unverbrüchlich an den Riten seines synagogalen Gottesdienstes und den uralten Bräuchen der häuslichen Feiern fest? Warum sind die alten Gebräuche und Riten mit einer tiefen Symbolik hinterlegt, einer Symbolik allerdings, die so gar nicht in das Bild von dem mythosfreien jüdischen Erbe zu passen scheint, das man sich zurechtgemacht hat?

LeerDiese Symbolik ist jedoch gewissermaßen nur die auslaufende Welle eines Traditionsstromes, der, so sieht es das seit alters überlieferte Wissen, an der gleichen Stelle und zur gleichen Zeit wie die Thora selbst entsprang: Am Berge Sinai, da Mose die Thora empfing, so heißt es, wurde ihm gleichzeitig auch der geheime Schlüssel für ihre Deutung zuteil. Dieses Wissen wurde von da ab mit der Thora von Generation zu Generation überliefert. Überlieferung aber heißt Kabbalah. So ist die Kabbalah nicht anderes als eine esoterische jüdische Weise, die Schrift zu lesen und zu deuten. Was sich in den jüdischen Riten und Gebräuchen nur andeutet, tritt in der Kabbalah voll zu Tage. Letztlich ist es ihr Bildreichtum, der das jüdische Brauchtum durchtränkt und bis auf den heutigen Tag frischgehalten hat.

LeerEingängig wie der entmythologisierte Glaube sich darstellt, reicht er doch nicht weiter, als der Verstand ihn trägt. Rasch und unaufhaltsam vergilben und verblassen unterdessen die Bilder des Glaubens. Doch ohne Bilder, die mit der Tiefenschicht der Psyche in Resonanz schwingen, verliert der Glaube seine Kraft. Damit sind wir bei unseren Überlegungen an jenem Punkt angelangt, an dem vorgeschlagen werden kann, einen kurzen Blick auf die Kabbalah und ihr Verständnis der Thora und wie sie zu lesen sei zu werfen, denn es ist ja durchaus denkbar, daß nicht nur das jüdische Brauchtum, sondern das Judentum selbst einen Teil seiner Überlebenskraft dem zweiten insgeheim in ihm noch fortströmenden Traditionsfluß vom Sinai verdankt.

Linie

LeerAlso nun Remythologisierung aus der jüdischen Wurzel anstelle von Entmythologisierung? So einfach nicht! Doch wie die Bedürfnisse des rationalen Bewußtseins im Glauben ernst genommen werden sollten - und wurden -, so muß eben auch das Unbewußte ernst genommen werden, und dieser Aufgabe hat sich offensichtlich seit je die Kabbalah angenommen. Wenn jetzt einleitend zwei Stellen aus dem Sohar, verfaßt gegen Ende des 13. Jahrhunderts, dem heiligen Buch der Kabbalah, vorgestellt werden, so nicht, um gewissermaßen jüdische Kronzeugen zur Aussage gegen die Entmythologisierung aufzurufen. Vor den wissenschaftlichen Gerichten ist der Fall abgeschlossen. Es geht nicht um die Revision des Urteils, sondern um die Begegnung mit einer Anschauungsweise, die, weil sie nicht an unseren Denkgewohnheiten geschult ist, den Blick noch in eine andere Dimension richten kann.

LeerDer Sohar stellt in seinem Hauptteil einen fortlaufenden Kommentar zur Thora, also den fünf Büchern Mose dar. Wenn der Sohar sein geheimes Wissen ausbreitet, so geschieht dies nie aus historischem, religionswissenschaftlichem oder anderem Streben nach »objektivem Wissen«. Es ist immer mit der Absicht verbunden, den eigentlichen, tieferen und verborgenen Sinn einer Schriftstelle erfahrbar zu machen. Es kommt ihm dabei überhaupt nicht auf Vollständigkeit an, ist er doch davon überzeugt, daß eine einzige Schriftstelle, durch die hindurch der Blick in die andere Welt wirklich eröffnet wurde, bedeutsamer ist, als es die vollständige bloße Kenntnis aller seiner esoterischen Kommentare zu sein vermochte.

LeerNatürlich weiß der Sohar, daß er die Schrift anscheinend losgelöst vom Text liest. Er erklärt das so: Üblicherweise werden die mit schwarzer Tinte auf weißem Papier geschriebenen Seiten gelesen. Wir aber wollen sie so lesen, als ob sie mit weißer Tinte auf schwarzem Papier geschrieben seien. Damit lesen wir auch das, was zwischen den Zeilen und am Rand steht, und davon gibt es viel mehr!

I.

LeerRabbi Simon sagte: »Wehe dem Menschen, der glaubt, die Thora wolle nur Geschichten erzählen und von Alltagsangelegenheiten berichten. Wenn das so wäre, dann könnten wir selber eine Thora zusammenschreiben, die voll solcher Alltagsangelegenheiten wäre - und wir könnten es besser. Wenn es darum ginge, von den Dingen dieser Welt zu berichten, wahrlich, dann haben die Heiden bessere Bücher geschrieben, die uns als Muster dienen könnten, wenn wir eine solche Thora schreiben wollten. Die Thora hingegen spricht in allem, was sie sagt, von höheren Wahrheiten und tiefen Geheimnissen ... Hätte sich die Thora nicht in die Gewänder dieser Welt gekleidet - die Welt könnte sie nicht ertragen. So sind die Erzählungen der Thora nur ihr äußeres Gewand. Wehe dem, der dieses Gewand als die Thora selbst ansieht... Denn sieh, die Kleidung, die ein Mensch trägt, ist das, was jedermann an ihm sieht, und so sehen die Unverständigen an ihm nicht mehr als seine Kleidung. Aber der Wert der Kleidung liegt im Körper des Menschen, und der wahre Wert des Körpers liegt in der Seele. So hat auch die Thora einen Körper, der aus ihren Geboten und Verboten besteht, und dieser Körper ist in das Gewand der Erzählungen dieser Welt gehüllt. Diejenigen aber, die etwas verständiger sind, dringen bis zum Körper vor. Die wahren Weisen aber, die Diener des höchsten Königs, die am Berge Sinai gestanden haben, finden geradewegs zu ihrer Seele, die der Kern von allem ist, die eigentliche Thora.«

vol. III, 152 a


Linie

II.

Leer»Wieviele Menschen sind in Verwirrungen ihres Geistes gefangen und können nicht den in der Thora verborgenen Wahrheitsweg erkennen! Dabei ruft die Thora sie Tag für Tag zu sich. Doch sie schauen sich noch nicht einmal nach ihr um! Wahrlich, es ist so, wie ich gesagt habe: Kaum hat die Thora aus ihrem Schrein ein Wort nach außen dringen lassen, verbirgt sie sich wieder sogleich.

LeerNur für einen Augenblick enthüllt sie es denen, die es kennen und erkennen können. Sie ist wie eine Geliebte, schön an Erscheinung und lieblich an Wuchs, die in der Kammer eines Palastes verborgen ist. Sie hat einen einzigen Freund, von dem niemand etwas weiß. Aus Liebe geht er immerzu an ihrem Tor vorbei und hofft, ihrer ansichtig zu werden. Und sie, die weiß, daß der Geliebte allezeit den Palast umkreist, was tut sie? Sie öffnet ein kleines, verborgenes Tor des Palastes, enthüllt für einen kurzen Augenblick ihr Antlitz dem Geliebten und verbirgt sich dann wieder. Niemand hat es gesehen, nur der Geliebte allein, dessen ganzes Innere, Herz und Seele, es zu ihr zog und der nun weiß, daß sie aus Liebe sich ihm für einen Augenblick zeigte.

LeerDoch so offenbart sich die Thora in Liebe nur denen, die sie lieben. Die Thora weiß, daß der Herzensweise täglich an ihres Hauses Tor vorbeigeht. Was tut sie? Aus ihrer Kammer enthüllt sie ihm ihr Antlitz, winkt ihm zu, kehrt zurück und birgt sich wieder. Keiner weiß es, nur jene allein, deren ganzes Innere und Herz und Seele es nach ihr zog. So offenbart sich die Thora dem Freunde und verhüllt sich dann wieder - nur um ihm ihre Liebe zu erkennen zu geben.

LeerSo ist der Weg der Thora. Im Anfang, wenn sie sich einem Menschen enthüllen will, gibt sie ihm Zeichen und Winke. Wie gut, wenn er sie versteht! Wenn er sie aber nicht versteht, sendet sie zu ihm und läßt dem Toren sagen, daß er zu ihr komme, auf daß sie vertraute Zwiesprache miteinander halten ... Wenn er dann kommt, beginnt sie, mit ihm in einer Weise zu sprechen, die er verstehen kann. Dabei breitet sie gleichsam einen Schleier über ihre Worte, bis er ein wenig versteht - das heißt dann »Derascha«. Alsdann spricht sie weiter mit ihm wie von hinter einem dünnen Mantel von Rätselworten, und dies ist »Haggada«. Erst wenn er gänzlich mit ihr vertraut ist, eröffnet sie sich ihm von Angesicht zu Angesicht und spricht mit ihm über alle ihre verborgenen Geheimnisse und alle verborgenen Wege, die seit Urzeit in ihrem Herzen waren. Dann erst ist der Mensch ein wahrer Eingeweihter der Thora, ein »Herr des Hauses« - nichts mehr hält sie vor ihm zurück oder verbirgt es vor ihm. Und sie fragt ihn: »Erkennst du nun, wieviele Geheimnisse in dem ersten Zeichen verborgen waren, mit dem ich dich rief?« Nun weiß er, daß diesen Worten nichts hinzuzufügen und nichts von ihnen wegzunehmen ist, nicht einmal ein Buchstabe oder das kleinste, unbedeutendste Zeichen.«

vol. II, 99 a


Linie

III.

LeerDie von Rabbi Simon vorgetragene Lehre vom dreifachen Schriftsinn ist sehr alt, und auch Philo von Alexandrien, der sie kurz nach der Zeitenwende lehrte, hat sie ganz sicher nicht selber aufgestellt, sondern nur das weitergegeben und in eine seiner Zeit gemäße Form gebracht, was ihn seine jüdische Tradition gelehrt hatte. Uber Philo gelangte die Lehre vom dreifachen Schriftsinn zu Origenes (185-254), dem bedeutendsten griechischen Theologen der Zeit vor der Erhebung des Christentums zur Reichsreligion (380). Origenes wiederum hinterließ sie der jungen Kirche als ein nicht unproblematisches Erbe. Ihr mußte vor allem daran liegen, auf ein einheitliches und verbindliches Fundament für das Lehrgebäude hinweisen zu können, das sie aus dem in der Schrift enthaltenen »Offenbarungsmaterial« aufzubauen begonnen hatte. Da durfte der Bibeltext nicht als ein System von Codeworten verstanden werden, die auf einer höheren Ebene auch das Gegenteil von dem bedeuten konnten, was sie ihrem schlichten Wortsinn nach aussagten. Wenn sich nun auch die Lehre vom dreifachen und später sogar vierfachen Schriftsinn bis ins Mittelalter hielt, so doch nur gewissermaßen in gezähmter Form. Keinem der nicht- wörtlichen, höheren Schriftsinne wurde zugebilligt, ein Geheimnis enthüllen zu können, das nicht schon an einer anderen Stelle der Schrift dem direkten Wortsinn zu entnehmen gewesen wäre.

LeerDie Prediger, die Künstler, die Architekten der Liturgie und die Mystiker griffen noch lange gerne auf die Bildwelt zurück, die diese Lehre ihnen eröffnete. Sie verstanden die Erzählungen z.B. vom Auszug aus Ägypten, vom Durchschreiten des Roten Meeres, von der wunderbaren Speisung mit dem Manna symbolisch. Ägypten wurde so zu einem Sinnbild für das Verfallensein an die Welt, aus der sich die aufmachen müssen, die Gott nahekommen wollen, die seinen Ruf vernommen haben. In der Einsamkeit der Wüste, in die sie Gott fuhrt, in der geistlichen Trockenheit, die sie dort überfällt, wird ihr Hunger nicht durch Brot gestillt, sondern durch eine Speise, die von Gott selbst gegeben wird, das heißt, sie werden durch ihn geistlich gestärkt und getröstet. Alle Wunder und Begebenheiten, die sich unserer Alltagserfahrung entziehen, und deren gibt es sowohl im Alten wie im Neuen Testament eine große Anzahl, bieten sich für eine solche Interpretation an. Diese biblischen Bilder können auf die Seele wie Töne wirken, die in ihr tiefe Resonanzen auslösen. Diese Resonanzen klingen besonders in der Liturgie an, die ja ursprünglich ein bewegtes Mysterienbild war und, aus der Tiefe der Seele aufsteigend, wirkmächtig zu ihr sprach. Es waren wohl nicht zuletzt auch diese, von den Bildern der Schrift auf das Innere des Menschen ausgehenden Resonanzen, die dazu beigetragen haben, daß die Bibel die Jahrtausende überstanden hat.

LeerWer nun aber glaubt, der Sohar sei den mythisch-archetypischen Bildelementen der Bibel auf der Spur, wird bald eines anderen belehrt. Gerade zu den, wie uns scheint, mythisch durchtränkten Szenen schweigt der Sohar nämlich, oder wenn er sie behandelt, dann greift er dabei scheinbare Nebensächlichkeiten auf, von denen mehr am Rande berichtet wurde.

Linie

LeerUnser zweiter Text laßt uns dafür eine Erklärung finden. Der wahre Geliebte der Thora ist der, den sie selbst in ihre Kammer gerufen hat, der, einmal in einem kurzen Augenblick hingerissen von ihrem Anblick, alles daransetzte, ihr immer näher zu kommen und ganz von ihr erfüllt zu werden. So scheint es den zwei Jüngern, denen sich auf dem Weg nach Emmaus ein ihnen zunächst unbekannter Wanderer hinzugesellte, gegangen zu sein. Als er ihnen das Antlitz der Thora enthüllte, erglühten sie innerlich so, daß sie später einander fragten:

LeerBrannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Weg, als er uns die Schrift eröffnete? (Lukas 24,32)

LeerSo, jeden Zweifel fortbrennend, öffnet sich die Thora nur selten. Meistens ist es so, wie es der zweite Text beschreibt: Die Thora entläßt dann und wann ein Wort aus ihrem Schrein. Mit diesem Schrein ist zunächst des Behältnis gemeint, in dem die Thorarollen in der Synagoge aufbewahrt werden. Dann aber wandelt sich in unserem Text der Schrein zum Palast der Thora, in dem sie wie in einer verborgenen Kammer wohnt. Der, den sie ruft, fühlt sich von irgend etwas, das er zunächst gar nicht näher bestimmen kann, angerührt und beunruhigt, so daß er immerzu den Palast umkreisen muß, aus dem er den Ruf hörte und von dem sich die unbekannte Geliebte ihm zeigte.

LeerEr träumt mit wachen Sinnen von ihr, malt sich aus, was sie wohl denken und fühlen möge, und setzt dabei die kleinen Bruchstücke dessen, was er über sie erfahren konnte, zu einem Bild, zu seinem Bild, von ihr zusammen. Später wird er erfahren, daß sein Bild geradezu kindlich war. Hätte ihm die Thora nicht immer wieder Winke gegeben, er wäre vielleicht bei ihrem Gewand, wie Rabbi Simon die Erzählungen der Schrift nennt, stehengeblieben. Bestenfalls wäre er bis zu ihrem Leib, den Gesetzen vorgedrungen. Ihre Seele aber hätte sich ihm nie enthüllt.

LeerWas aber sind »die Winke«, mit denen die Thora sich bemühte, ihren Geliebten in ihre verborgene Kammer zu locken? Das sind eben nicht die großen dramatischen Szenen, die archetypischen Bilder, die Schriftauslegung der dritten Stufe der Liturgiker und Mystiker! Es waren wirklich nur Winke, die man leicht hätte übersehen können. Dem Liebenden aber, der seine Geliebte beobachtet, entgeht nichts, alles wird ihm zum Zeichen, zu einem Hinweis, der ihn hoffen laßt: die Blume, die sie zufällig in der Hand trug, das Lächeln, mit dem sie dem Vogel nachsah, der Regen, der in ihren Haaren perlte. Und auf solche kleinen Zeichen achtet der Liebende der Thora. Er entdeckt sie in scheinbar unrichtigen Schreibweisen, im Gebrauch der Mehrzahl, wo die Einzahl zu erwarten wäre, in der scheinbar unnötigen Erwähnung einer Himmelsrichtung, in der Wiederholung einer bestimmten Redewendung und vielen anderen Nebensächlichkeiten, die als so unbedeutend erscheinen, daß sie unsere Übersetzungen des hebräischen Textes meist übersehen.

Linie

LeerSie sollen auch übersehen werden! Nur so kann die Liebende ihrem Geliebten selbst in einer großen Masse ihre Botschaft zukommen lassen. Nur der, der den Wink nicht übersieht, ist der, dem er gilt und der ihm folgen soll.

LeerWas aber wird dem Liebenden offenbar, wenn er den Winken der Thora folgt? »Die Thora eröffnet sich ihm von Angesicht zu Angesicht und spricht mit ihm über alle ihre verborgenen Geheimnisse und alle verborgenen Wege, die seit Urzeit in ihrem Herzen waren.« Hier würden wir jetzt eine Darstellung eben dieser Geheimnisse erwarten, doch wir hören nur, daß die Thora über ihre Geheimnisse spricht, nicht aber was sie sagt Der Wink scheint uns ins Leere gelockt zu haben.

LeerDoch ist das wirklich so? Ein Geheimnis wurde doch, wenn auch nahezu unbemerkt, offenbart: Die Thora selbst ist nämlich das Geheimnis!

LeerWir werden zu dieser Erkenntnis geführt, wenn wir uns fragen, wodurch denn der »Herzensweise« erfahrt, daß von den Worten, mit dem die Thora ihm ihre geheimen Winke hat zukommen lassen, weder etwas fortgenommen werden noch ihnen etwas hinzugefugt werden darf. Als er die Thora endlich von Angesicht zu Angesicht sah, da wußte er, daß es eben nur diese kleinen Zeichen gewesen waren, die ihm den Weg in ihre Kammer gewiesen hatten, und daß nichts an ihnen zufällig war. Alles in der Thora ist geordnet und gefügt wie in der Schöpfung. Ihm hat sich enthüllt, daß die Thora letztlich der ausgeschriebene Name Gottes ist, der aufs äußerste komprimierte Plan, nach dem das ganze Universum gebildet wurde und die in ihm ablaufenden Prozesse gesteuert werden. Wir Heutigen könnten sagen, die Thora ist das universale göttliche Computerprogramm. Eben deswegen darf der Thora kein Buchstabe hinzugefügt und keiner aus ihr entfernt werden. Das könnte nämlich zu einer verhängnisvollen Störung im Weltprozeß führen.

LeerDas hieße dann, daß die hier auf Erden vorhandenen Thorakopien den Bestand und Erhalt des Weltalls garantierten? Rabbi Simon würde dem ohne Zögern zustimmen. Er wäre überzeugt, daß, würden alle Kopien der Thora bis auf eine vernichtet und würden dann ferner in dieser einen Kopie absichtlich Buchstaben vertauscht, fortgelassen und hinzugefügt, davon gewaltige zerstörerische Wirkungen auf die gesamte Schöpfung ausgehen müßten.

LeerSo muß man alles an der Thora beachten und darf über nichts in ihr als unwichtig hinwegsehen, denn gerade im scheinbar Unbedeutenden enthüllt sie dem Achtsamen ihre Geheimnisse.

Die Zitate aus dem Sohar wurden übersetzt nach der englischen Ausgabe von H. Sperling und M. Simon: The Zohar. London, 1935.

Dr. Rolf Umbach
Quatember 1993, S. 89-96

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-20
Haftungsausschluss
TOP