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Ein Beitrag zur Geschichte des Bruderschaftsdenkens in Europa von Hans Baritsch |
Für meinen Freund Heinrich Kahl Vorüberlegung»Bruderschaft« besteht als Verhältnis zwischen leiblichen Brüdern. Dabei ist der Bruder der nahe Verwandte, auf den einer sich aus Gründen einer als selbstverständlich vorausgesetzten Familien- und Verwandtschaftssolidarität unbedingt verlassen kann. Über solche leibliche Bruderschaft hinaus kann Bruderschaft auch geschlossen werden. Mit einer solchen Bruderschaft wird ein freiwilliges Verhältnis eingegangen, durch welches eine Quasi-Verwandtschaft gestiftet wird. Auch die Evangelische Michaelsbruderschaft (EMB) stellt ein solches freiwillig eingegangenes Verhältnis von Quasi-Verwandtschaft dar. Sie steht damit in einer Tradition von Bruderschaft/fraternitas, die besonders im europäischen Mittelalter eine sehr große Bedeutung hatte. Eine Rückbesinnung auf diese Tradition könnte hilfreich sein in einer Zeit, in der sich die EMB vor geschichtliche Herausforderungen gestellt sieht, die sich grundsätzlich von denen unterscheiden, die zur Zeit der Gründung der EMB bestanden und die zu beantworten die EMB erst recht eigentlich gestiftet wurde. Der Versuch einer solchen Rückbesinnung soll im folgenden unternommen werden; daß es sich dabei um nicht mehr als ein erstes Vortasten handeln kann, versteht sich von selbst. Bruderschaft/fraternitas Bruderschaft/fraternitas sind im Mittelalter zumal aus dem Raum der Klöster und darüber hinaus aus dem kirchlichen Bereich bekannt, und nur im kirchlichen Raum wird auch heute noch von »Bruderschaft« gesprochen. Dadurch besteht weithin der Eindruck, bei »Bruderschaft« sei schlechthin die christlich-religiöse Komponente entscheidend. Das ist jedoch tatsächlich nicht der Fall. Gewiß gilt, daß man unsere moderne Begrifflichkeit nicht unkritisch auf zurückliegende Zeiten anwenden darf und daß insoweit auch die moderne Trennung von Kirche/Religion einerseits und Weltlichem andererseits auf das Mittelalter nicht zutrifft. In einer Zeit, die »Ewigkeit« existenziell ernst nahm, mußte ja Erwerb von »geistlichen Schätzen« zur Sicherung der ewigen Seligkeit stets den Lebensäußerungen aller, also auch von Bruderschaften, immanent sein. Aber Bruderschaften, die in Dokumenten als fraternitates, confraternitates oder sodalitates bezeichnet wurden, widmeten sich durchaus auch Aufgaben, die in einem modernen Sinne als »säkular« zu gelten hätten. Ein frühes Beispiel dafür sind die französischen »fratres pontifices«, die schon 1189 von Papst Clemens III. (1187-1191) bestätigt wurden. Sie ließen sich die Anlegung und Erhaltung von Brücken, Fähren, Straßen und Hospizen für Reisende und Pilger angelegen sein - was von ihnen durchaus als ein religiöses Werk angesehen wurde. Die Brüder lebten ohne Klausur und Gelübde in einer ordensähnlichen Verfassung unter Großmeistern. Zu großen Reichtümern gelangt, entarteten diese fraternitates und wurden von Papst Pius II. (1458-1464) aufgelöst.(1) Ihre Blütezeit erlebten die fraternitates, oft in der Form von Gemeinschaften zwischen Klerikern oder Mönchen mit Männern und Frauen der Gemeinde, im 15. und 16. Jahrhundert. Deshalb auch ein Beispiel aus jener Blütezeit für eine sowohl auf religiöse wie auch auf säkulare Belange hin ausgerichtete Bruderschaft: die fratres vitae communis, die »Brüder vom gemeinsamen Leben«. Sie lebten und arbeiteten zusammen, um ihren Lebensunterhalt zu erwerben. Gleichzeitig aber widmeten sie sich intensiv der religiösen Erbauung und suchten so, eine wahrhaft christliche Gemeinschaft von Brüdern zu leben. Gestiftet gegen Ende des 14. Jahrhunderts durch Gerhard Groot im niederländischen Deventer, widmeten sich die Brüder zunächst vornehmlich dem Kopieren von Manuskripten überwiegend geistlichen Inhalts und später der Errichtung und dem Betrieb von Schulen. Aus ihnen sind mehrere der bedeutendsten Männer des ausgehenden Mittelalters hervorgegangen. Von ihnen sei hier nur Thomas a Kempis genannt. Als ihr Streben im Humanismus und in der Reformation von weiteren Kreisen aufgenommen wurde, erlosch diese Gemeinschaft.(2) Doch ist beachtlich, daß es auch heute eine »Bruderschaft vom Gemeinsamen Leben« in Ottmaring bei Augsburg gibt. Gerd Althoff sieht dieses geradezu als ein Charakteristikum mittelalterlicher Bindung ganz allgemein an: »Bindung orientierte sich im Mittelalter in aller Regel am Modell des Verwandtschaftsdenkens und seiner Ausdrucksformen.... dies gilt für den genossenschaftlichen, wie für den Bereich der herrschaftlichen Gruppen«.... »Genossen und Freunde, so kann man häufig lesen, sollten sich verhalten wie Brüder (Hervorhebung von mir). Der Kreis der Verwandten wurde weniger ersetzt als erweitert durch die genossenschaftliche Bindung. Aus diesen Bindungen resultierte für den mittelalterlichen Menschen die... Trennung seines Umfeldes in Personen, die er unterstützte, denen er half und die er begünstigte (und, so wird man hinzufügen müssen: von denen er Unterstützung, Hilfe und Begünstigung erwartete und erhielt! Anm.d.Vf.) - in allen Lebensbereichen, und in solche, denen er fremd gegenüberstand.«(3) Man wird also die mittelalterliche fraternitas/Bruderschaft als eine Solidargemeinschaft für das Leben, für den Tod und für die Ewigkeit bezeichnen dürfen, der anzugehören ein hohes, unter den Bedingungen einer prinzipiell friedlosen Welt unbedingt notwendiges Maß an Verbindlichkeit implizierte, und zwar unabhängig von etwaigen »persönlichen« Gefühlen der Zu- und Abneigungen gegenüber ihren Angehörigen. Arno Borst weist auf ein Dokument hin, welches auf schöne Weise illustriert, was es mit einer solchen Solidargemeinschaft auf sich hatte. Der Hintergrund: Im November 1388 forderte König Richard I. von England alle Gilden und Bruderschaften des Reiches auf, binnen dreier Monate über ihre Entstehung, Verfassung und Vermögenslage an die Königskanzlei zu berichten. Es handelt sich um das Dokument, mit dem die Schneidergilde von Lincoln im Januar 1389 auf Latein dieser Aufforderung nachkam (4): »Die Gilde wurde im Jahre des Herren 1328 gegründet. Alle Brüder und Schwestern sollen am Fronleichnamsfest mit der Prozession gehen. Niemand soll als Vollmitglied in die Gilde eintreten, bis er für seinen Eintritt... entrichtet hat.... Wenn einer von der Gilde in Armut fällt - was Gott verhüten möge - und nicht die Mittel zum Lebensunterhalt hat, soll er jede Woche, solange er lebt, aus dem Gildenvermögen ... bekommen ... Wenn jemand in der Stadt stirbt, ohne die Mittel für das Begräbnis zu hinterlassen, wird die Gilde die Mittel... bereitstellen.« »In jedem Jahr sollen vier Morgensprachen gehalten werden, um Maßnahmen für die Wohlfahrt der Gilde zu treffen.... Wenn zwischen irgendwelchen Brüdern oder Schwestern der Gilde irgendein Zank oder Streit ausbricht - was Gott verhüten möge -, sollen die Brüder und Schwestern nach dem Rat des Vorstehers und der Verwalter ihr Bestes tun, um zwischen den Parteien Frieden zu schließen ... Jeder von den Brüdern und Schwestern soll jedes Jahr einen Pfennig als milde Spende geben, wenn der Dekan der Gilde es verlangt.« Das Dokument endet mit der Bemerkung: »Geschrieben zu Lincoln in sehr großer Eile« und einem Zusatz von anderer Hand, daß die Brüder keinen Grund- oder Hausbesitz haben, weder unveräußerlichen noch sonstigen, und kein Gildenvermögen, nur was sie dafür brauchen, das Dargestellte auszuführen; »sie halten auch keine Feste ab außer den vorgenannten, die dazu dienen, Liebe und Mildtätigkeit untereinander zu pflegen«. Hierzu merkt Borst an, daß die Gilde keine schriftlichen Unterlagen besaß und daß die königliche Anforderung sie in beträchtliche Verwirrung stieß. »Die Schneider wußten nicht einmal genau, in welche Kategorie ihre Gilde gehörte, denn nur Bruderschaften mußten Statuten einreichen, Handwerkszünfte nicht.« Aber sie hatten recht damit, sich als eine Bruderschaft anzusehen, welche der königlichen Aufforderung nachzukommen hatte. Denn eine Zunft ist die Gilde in der Tat nicht: Es fehlen so gut wie alle direkt auf das ausgeübte Handwerk bezogenen Bestimmungen, die zum Wesen der Zünfte gehören und die je in ihren Statuten verankert sind. Hingegen entspricht die Wesensart der Gilde durchaus derjenigen einer Bruderschaft, und Förderung des Handwerks (oder die Durchsetzung gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen, wie man modern sagen möchte) ist für sie allenfalls ein Nebenziel: »Hauptzweck war die Wohlfahrt ihrer Angehörigen.« Die Gilde besitzt auch keine Statuten, weil diese für die Formen des Zusammenlebens überflüssig wären: Sie braucht also keine Statuten. Und aus eben diesem Grund braucht die Mitgliedschaft nicht eindeutig definiert zu sein: Im Dokument wird scheinbar ganz unsystematisch zum einen von »Brüdern«, und dann wieder von »Brüdern und Schwestern« gesprochen. Daß der Meister, welcher das Handwerk selbständig betreibt, Mitglied der Gilde ist, das verstand sich gleichsam von selbst und bedurfte also keiner Erwähnung. Aber die Mitgliedschaft galt für sein ganzes Haus - das geht deutlich aus dem Zusammenhang hervor. Wenn es um die Wohlfahrt derer geht, die in der Gilde zusammengeschlossen sind, dann sind damit nicht nur die Einzelpersonen gemeint, sondern alle: die Angehörigen des Hauses (5) als der Verband der unmittelbar Verwandten und über das Haus hinaus der durch den Gildenzusammenschluß erweiterte Verband der »Quasi-Verwandten«. Deshalb werden die Toten mit Gebeten zu Grabe getragen, und Kerzen werden am Sarge aufgestellt. Aber wozu die Geldspenden, die der Armenfürsorge dienen? »Selbsthilfe zwingt zur Nächstenliebe (dies aber nicht im Sinne irgendeiner Gefühligkeit - Anm.d.Vf.). Wenn die Schneidergilde ihren Toten den Himmel erkaufen will, muß sie regelmäßig denen Gutes tun, die es auf Erden am nötigsten haben.« Bei den Walkern in Lincoln wird das sehr deutlich; bei ihnen heißt es: »Stirbt ein Gemeindemitglied, so zahlt die Gilde Seelenmessen und kauft außerdem Brot, das an Arme verteilt wird, ‘für das Seelenheil der Toten’.« Bei den Festen, bei den Liebesmahlen, verteilen auch die Schneider Bier an die Armen, und das »nicht ohne Segensgebete«. Ein Teil der Hervorhebungen im obigen Text betrifft die Position der Schwestern. Diese kann wie folgt resümiert werden: Die Schwestern als Frauen der Schneidermeister nehmen an allen Veranstaltungen der Gilde teil, die auf diesseitige und jenseitige Wohlfahrt zielen, und haben entsprechend auch vollen Anteil an ihren Früchten; Mitglieder werden sie dann, wenn sie an die Stelle des selbständigen Handwerkmeisters rücken. Der andere Teil der Hervorhebungen betrifft die Tätigkeiten der Gilde. In der Teilnahme an den Prozessionen und durch Pilgerfahrten legen die Gilde-Angehörigen Zeugnis ab von ihrem Christsein (wie es denn ja auch anders in jener Zeit gar nicht möglich war). In den Gedächtnismessen feiern sie liturgisch geordnete und durchgeformte Gottesdienste. In der Armenfürsorge leisten sie einen diakonischen Dienst für die besonders Bedürftigen unter diesen Geringsten. Und in dem allen versuchten sie einen Bezirk des Friedens in einer prinzipiell friedlosen Welt zu stiften. Noch einmal: Diese Gilde ist in der Tat keine Zunft. Dazu noch einmal Borst: »Wenn ein Teil der modernen Forschung säuberlich zwischen religiösen oder sozialen Bruderschaften einerseits, und Gewerbeverbänden andererseits unterscheidet, übersieht sie, daß der Zusammenhalt dieser Bünde auf ihrer unspezialisierten Freiwilligkeit beruht. Sie sind keine Interessengruppen derer, die sowieso miteinander leben; sie suchen an einer Stelle zwischen den Gruppen Sicherheit und Frieden zu stiften, (wie es in dem Dokument heißt) ‘Liebe und Mildtätigkeit untereinander zu pflegen’. Und welche Bezeichnung führen die Gilden von Lincoln, wenn sie das alt-englische Wort Gilde ins Lateinische übersetzen lassen? Fraternitas, Bruderschaft.«(6) Zukunftsaufgaben Die EMB ist durch ihre »kanonischen« Schriften (Urkunde und Regel) hinsichtlich ihrer geistlichen und durch die Satzung hinsichtlich ihrer legalen Strukturen festgelegt. Beide sind, wie die Erfahrung zeigt, nicht leicht zu ergänzen oder gar zu verändern. Tatsache ist aber, daß sich die EMB heute mit Herausforderungen konfrontiert sieht, die Antworten erheischen, die aber durch Urkunde, Regel und Satzung keine praktikable Beantwortung finden. In einer solchen Situation müßte die Erprobung von Entwürfen von Lebensformen im Rahmen des Zusammenlebens der Konvente vor kodifizierenden, juristischen Schritten Vorrang haben. Durch solche Entwürfe könnten Antworten auf die Herausforderungen unserer Gegenwart nicht lediglich diskutiert, sondern praktiziert werden. Es könnte sein, daß die EMB für die Konzipierung solcher Entwürfe, und damit für die Meisterung ihrer Gegenwartsaufgaben, aus der Beschäftigung mit der Geschichte von Bruderschaft/fraternitas Anregungen schöpfen könnte, die in die Zukunft weisen. Anmerkungen:
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