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Wort und Antwort
Wesen, Formen und Wandlungen des kirchlichen Singens
von Gerhard Kappner

LeerSingen ist eine Gabe Gottes, die den Menschen als Menschen auszeichnet. Wohl sagt uns die Bibel, daß das All von dem Lobgesang der Engel erfüllt ist. Es heißt im 148. Psalm:
»Lobet im Himmel den Herrn,
lobet ihn in der Höhe!
Lobet ihn, alle seine Engel,
lobet ihn, all sein Heer!«
LeerDie Liturgie bringt zum Ausdruck, daß der Lobpreis der Engel dem Lobpreis der Kirche vorgeordnet ist: »Mit ihnen laß auch unsre Stimmen uns vereinen und anbetend ohn Ende lobsingen.« Karl Barth bemerkt: »Es geschieht zuerst im Himmel und dann auf Erden, daß Gott von der Kreatur gelobt wird, daß Gott seine kreatürlichen Entsprechungen und Zeugen findet.«(1)

LeerWohl sagt uns die Bibel, daß, wie es Jesaja 6,3 heißt, die ganze Erde voll der Glorie des Herrn ist. Der 148. Psalm fährt fort:
»Lobet den Herrn auf Erden,
ihr großen Fische und alle Tiefen des Meeres,
Feuer, Hagel, Schnee und Nebel,
Sturmwinde, die sein Wort ausrichten.«
LeerLuther entfaltet in seiner Vorrede zu Georg Rhaus Symphoniae jucundae von 1538 den ganzen Stufenbereich der wunderbaren Geheimnisse des Klanges, der entsteht, wenn man mit einem Stabe in die Luft schlägt; das noch größere Wunder der Musik der Lebewesen, vor allem des Lobgesanges der Vögel, angeführt von der himmlischen Sangmeisterin, der »lieben Nachtigall«, das in unserem Jahrhundert eine umfassende Würdigung erfahren hat. Heinz Tiessen (»Musik der Natur«) macht die erstaunliche Feststellung, daß die Amsel sich melodisch - rhythmisch im Rahmen der Einstimmigkeit annähernd ebenso vielseitig der Welt der Töne bedient wie der Mensch.

LeerAber allein dem Menschen ist es gegeben, mit seinem Gotteslob einen Akt der persönlichen Entscheidung zu vollziehen. In den geistlichen Gedichten Jochen Kleppers steht der Satz: »Und alles, was der Mensch vollbringt, ist Antwort, die dein Ruf erzwingt.« Die himmlischen und die irdischen Kreaturen antworten auf das ihnen eingepflanzte Wort des Schöpfers mit der Unverbrüchlichkeit ihres Wesens, dessen Sprache uns verborgen ist. Allein dem Menschen ist es kraft der persönlichen Entscheidung für den an ihn ergehenden Ruf des Schöpfers möglich, in verständlicher Rede zu antworten. Luther in der Vorrede zu den Symphoniae jucundae: »In den unvernünftigen Tieren aber, Saitenspiel und anderen Instrumenten, da höret man allein den Gesang, Laut und Klang, ohne Rede und Wort; dem Menschen aber ist allein, vor den anderen Kreaturen, die Stimme mit der Rede gegeben, daß er sollt können und wissen, Gott mit Gesängen und Worten zugleich zu loben, nämlich mit dem hellen, klingenden Predigen und Rühmen von Gottes Güte und Gnade, darinnen schöne Wort und lieblicher Klang zugleich würde gehöret.«(2)

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LeerDer Hinweis Luthers auf das Predigen und Rühmen von Gottes Gnade und Güte zeigt, daß er nicht dabei stehenbleibt, das Lob der Gemeinde als eine Antwort auf das Wort des Schöpfers zu betrachten. Vielmehr weist er darauf hin, daß dem Menschen als einziger Kreatur die Möglichkeit gegeben ist, den Klang mit dem Wort zu verbinden, so daß es bei ihm zur lobpreisenden Verkündigung des Wortes kommt, das Gott in Jesus Christus zu uns gesprochen hat. Jesu Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung sind die Fundamente des kirchlichen Singens. Diese Aussagen erscheinen uns auf den ersten Blick selbstverständlich, stellen uns aber bei näherem Zusehen vor zwei wichtige Fragen. Es erhebt sich zunächst die Frage: Wenn, wie wir festgestellt haben, die Menschwerdung, Erniedrigung und Erhöhung des Gottessohnes den Inhalt des kirchlichen Singens bilden, in welchem Verhältnis stehen dann Gottes Wort und Menschenwort zueinander?

LeerEine solche Frage ergibt sich aus der Feststellung, daß alle Formen kirchlicher Rede und christlicher Dichtung aus zwei Wurzeln gespeist werden. Sie sind auf der einen Seite bestimmt durch ihren Inhalt, der ihnen in verschiedener Direktheit aus der Heiligen Schrift erwachsen ist. Dieser Inhalt, die großen Taten Gottes, ist zwar auch in der Schrift in der Form menschlicher Rede vorhanden. Gottes Wort begegnet in der Schrift nirgends in abstrakter Form. Überall gehört vielmehr der Mensch dazu, und zwar nicht nur als Objekt des göttlichen Handelns, sondern auch als ein zur Verherrlichung Gottes aufgerufenes Subjekt. In dieser Form ist auch in der Schrift von menschlicher Frömmigkeit die Rede. Ich erinnere an die verschiedenen Formen des Christuszeugnisses im Neuen Testament.

LeerNach der inhaltlichen Seite übersteigt jedoch dieser Inhalt alles Menschlich-Zeitliche insofern und insoweit, als in, mit und unter dem Menschenwort der Verkündigung Gottes Wort durch den Heiligen Geist Ereignis wird und Glauben schafft. Dieses Menschenwort der Verkündigung ergeht jedoch auf der anderen Seite stets als das Wort eines bestimmten Menschen, einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Raumes. Daraus ergeben sich der Wechsel und die Vielfalt der Stilformen und Ausdrucksmittel, die den Reichtum des kirchlichen Singens bilden. Damit hängt aber .auch die Gefährdung der Substanz zusammen, die überall da in Erscheinung trat, wo die Kirchenlieddichtung und -melodik in ihrer textlichen und musikalischen Gestaltung nahezu ungebrochen dem Geist der jeweiligen Zeit folgten und ihm entsprachen.

LeerEs hatte verhängnisvolle Folgen, daß es im späten 18. und im ganzen 19. Jahrhundert keine Theologie gab, die »die kirchliche Rede von Gott« daraufhin prüfte, »ob sie als Menschenwort zum Dienst des Wortes Gottes geeignet sei«. Dieser von Karl Barth für die Predigt aufgestellte Maßstab sollte auch für das kirchliche Singen gelten. Er sollte die Ursache einer »steten Beunruhigung« sein, jedoch »nicht einer Beunruhigung von außen her, sondern das innerlich notwendige Messen der menschlichen Antwort an der Frage Gottes«(3).

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LeerHier liegt auch der Grund für die Vorsicht, die Calvin beim Loben Gottes walten ließ. Wenn er im Unterschied zu Zwingli die in Verse gebrachten Psalmen und die der Gemeinde gemäßen Melodien zum Singen im reformierten Gottesdienst zuließ, dann geschah es um der Bindung des Liedes an das Wort Gottes willen. Die Gemeinde sollte beim Singen der Psalmlieder gewiß sein können, daß Gott ihr die Worte in den Mund legt, daß es also wirklich Gottes Wort ist, das sie singt.

LeerDamit hängt eine zweite Frage zusammen, die in der kirchlichen Theologie nach dem Ersten Weltkrieg aufgebrochen ist und in den Kreisen der Alpirsbacher zugespitzt worden ist: Kann Singen Verkündigung sein? Wir können jetzt dieses komplexe Problem nicht in seiner ganzen Breite erörtern(4), aber wir können auch an diesem wichtigen Problem nicht vorübergehen.

Leer1. Inwiefern besteht bei der gesungenen Verkündigung, z.B. dem Lied, eine grundsätzlich andere Situation als bei der gesprochenen Verkündigung, der Predigt? Sind nicht beide aus den gleichen Wurzeln gespeist, die wir im Inhalt, das heißt in der im Neuen Testament bezeugten Christuswahrheit und -Wirklichkeit, und im Menschen, das heißt in wesensbedingten, zeitlichen und räumlichen Stilformen und Ausdrucksmitteln erkannten? Inwiefern kann der Ereignischarakter des göttlichen Wortes bei der Predigt nicht verdunkelt werden, sondern nur beim Lied, bei der Motette und Kantate? Sind nicht die verschiedenen Formen der Verkündigung auf den Heiligen Geist angewiesen, der weht, wo und wann er will? Es bedeutet eine Verabsolutierung der Predigt, wenn die Schriftauslegung des Theologen und die Schriftauslegung des Dichters oder Musikers mit verschiedenen Maßstäben gemessen werden.

Leer2. Damit ist keineswegs gesagt, daß die Predigt als freie Zeugnisrede innerhalb der verschiedenen Verkündigungsformen nicht eine hervorragende Stellung habe. Wilhelm Stählin hat einmal gesprächsweise geäußert, daß dem gesprochenen Wort innerhalb der christlichen Verkündigung zwar der Primat, aber nicht das Monopol zukomme. Das gesprochene Wort ist im Hinblick darauf, daß Gott durch Jesus Christus in menschlicher Sprache zu uns geredet hat, daß Gottes Menschwerdung, Erniedrigung und Erhöhung ein Stück Geschichte darstellen, das Nächstliegende. Aber in dem geschichtlichen Bericht über die großen Taten Gottes stoßen wir immer wieder auf Stellen, an denen es zum hymnischen Zeugnis kommt. Es sei nur an die neutestamentlichen Cantica erinnert. Damit kommen wir zum Entscheidenden.

Leer3. Man kann die beiden Bewegungsrichtungen des geistlichen Geschehens -zu Gott hin, von Gott her - nicht auseinanderreißen. In dem Antwortmoment des Lobpreises und des Bekenntnisses liegt zugleich der Antrieb zur Verkündigung. Das Lied greift die Botschaft auf, die Herz und Mut fröhlich gemacht hat, und trägt sie weiter, daß es andere auch hören und herzukommen. Lobpreis und Verkündigung gehören zusammen, das eine kann nicht sein ohne das andere. Das Wesen des kirchlichen Singens, des Gemeindegesanges, der Liturgie, der Kirchenmusik ist, daß anbetend und lobpreisend verkündigt wird, was Gott getan hat, daß einer dem anderen die großen Taten Gottes zuruft.

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LeerEin anschauliches Beispiel dafür gibt der Schluß von Arthur Honeggers Oratorium »König David«, wo der Sopran das weit ausgesponnene Alleluja anstimmt und der Baß die Verheißung verkündigt: »Es wird kommen der Tag, wo eine Blume uns erblüht.« »Im Lob des Bekennenden ist Predigt.« (Augustinus)

LeerEin weiteres Moment kommt hinzu. Im Singen des Kirchenliedes erleben sich die Christen als Gemeinde. Schon das Singen auf der Ebene des gesellschaftlichen Lebens führt die Menschen zusammen, läßt sie Gemeinschaft spüren. Wieviel mehr ist das der Fall im Raum des gottesdienstlichen Lebens, wo einer dem anderen verbunden ist in der Hingabe an Gottes Wahrheit und im Empfang von Gottes Gnade.

LeerDas führt uns auf eine Frage, die viel verhandelt worden ist und auf die manche törichte Antwort gegeben worden ist: In welchem Verhältnis steht das Ich des einzelnen Christen zu dem Wir der Gemeinde? Kann man von einem subjektiven Lied und von einem objektiven Lied reden? Man hat geglaubt, diese Frage durch die Gegenüberstellung von Ich-Liedern und Wir-Liedern, von subjektiven und von objektiven Liedern lösen zu können. Tatsächlich besteht ein gewisser Unterschied zwischen dem Gregorianischen Choral, dem evangelischen Kirchenlied und dem geistlichen Volkslied, dem eine Verlagerung des Schwerpunktes vom Objektiven zum Subjektiven, vom Wir zum Ich entspricht.

LeerIngeborg Röbbelen macht in dem Aufsatz »Ich bin din, du bist min... Ein kleines Kapitel aus der Gesangbuchgeschichte«(5) auf die entgegengesetzte Bewegungsrichtung aufmerksam, in der Martin Luther und Paul Gerhardt den bekannten Minnesängervers gebrauchen. Luther legt ihn Christus in den Mund, der zum Menschen spricht: »Denn ich bin dein, und du bist mein, und wo ich bleib, da sollst du sein, uns soll der Feind nicht scheiden.«(6) Bei Gerhardt ist es der Mensch, der zu Christus spricht: »Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden, du bist mein, ich bin dein, niemand kann uns scheiden. Ich bin dein, weil du dein Leben und dein Blut mir zugut in den Tod gegeben.«(7) Luther verkündigt das Evangelium, Gerhardt gibt seiner Glaubenserfahrung Ausdruck.

LeerTrotzdem wäre es falsch, daraus einen Gegensatz zwischen der reformatorischen Lieddichtung und der geistlichen Dichtung der Paul-Gerhardt-Zeit zu konstruieren, etwa in dem Sinne von objektiver und subjektiver Dichtung. Auch Paul Gerhardt setzt das objektive Heilsgeschehen voraus, aber er spitzt es allerdings zu auf die Frage: »Wie soll ich dich empfangen?« und auf die Zuversicht: »Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich«. Ebensowenig ist es möglich, einen Gegensatz in dem Sinne von Wir-Lied und Ich-Lied zu konstruieren, Auch bei Martin Luther sind die Herztöne persönlichen Bekenntnisses lebendig, wir brauchen nur an den balladenhaften Bericht von den großen Taten Gottes in »Nun freut euch, lieben Christen gmein« zu denken, in dem es heißt: »Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren« - ebenso wie uns bei Gerhardt das übergreifende Wir der Gemeinde begegnet, etwa in dem Neujahrslied »Nun laßt uns gehn und treten«, das in Vers 11-13 sogar ein gemeindliches Fürbittengebet enthält. Man kann höchstens von einer zunehmenden Verlagerung des Schwergewichts sprechen, die allmählich ein »zweites Betrachtungszentrum« sichtbar werden läßt: »Das Herz, die Seele, das Ich«.(8)

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LeerDas alles macht sich natürlich nicht nur in den Texten, sondern auch in den Melodien bemerkbar. Waren die Melodien des Hymnus noch gesungenes Gebet, so wird in den Wittenberger Weisen die verkündigende Absicht hörbar. Die Melodien der Paul-Gerhardt-Zeit haben eine warme, affektvolle Sprache, die sich in der Zeit des Pietismus und Rationalismus immer mehr vom Wort löst und einen musikalischen Eigenwert erhält. Erst in unserem Jahrhundert wurden uns im Zuge der theologischen, liturgischen und musikalischen Neubesinnung wieder Liedweisen geschenkt, die den Text lebendig machen und keinen musikalischen Eigenwert beanspruchen. So gibt es auch im Gotteslob und in der Christusverkündigung Zeiten der Ebbe und der Flut, und wir sollten uns dessen bewußt sein, daß es immer »besondere Zeiten« sind, in denen das Loben Gottes erwacht.

LeerEines Tages freilich wird auch das neue Lied, das wir vom Schöpfer Geist erbitten, ein altes Lied sein. Es gibt ein ewiges Evangelium, aber es gibt kein ewiges Kirchenlied. Dieser Gedanke darf uns aber keinen Augenblick in unserer Freude am Singen beirren oder von unseren Bemühungen um die Erkenntnis der theologischen, geschichtlichen und musikalischen Zusammenhänge abschrecken, so wenig uns das Wissen um den kommenden Herbst die Freude an der Blüte des Frühlings verderben darf. Es ist für uns eine unverdiente Ehre, daß wir in der Gemeinde Jesu Christi ein zeitlich begrenztes Werk in Angriff nehmen dürfen, daß wir ein vorläufig neues Lied anstimmen dürfen, das in seiner Vorläufigkeit hinweist auf den ewigen Lobgesang vor Gottes Thron im Reiche der Vollendung, der weder ein reformatorisches noch ein pietistisches noch ein zeitgenössisches, sondern ein unvorstellbar neues Lied sein wird.

Anmerkungen:
 (1) Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik. München und Zollikon - Zürich, 1932 ff., III 3, S. 545.
 (2) Vgl. Peter Brunner: Der kosmologische Ort des Gottesdienstes. In: Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde. Leiturgia. I. Kassel, 1954. Neudruck: Hannover, 1993, S. 168f.
 (3) Karl Barth, a.a.O., 12, S. 874.
 (4) Vgl. Walter Blankenburg: Kann Singen Verkündigung sein? In: Musik und Kirche. 1953. H. 5, S. 177 f. Antwort von Friedrich Buchholz in: Von Bindung und Freiheit der Musik und des Musikers in der Gemeinde. Kassel, 1955. Brief Walter Blankenburgs an Friedrich Buchholz in: Musik und Kirche. 1956, H. 1., S. 2 f. Antwort von Friedrich Buchholz: Zum »Verkündigungs-Charakter« des Singens. In: Musik und Kirche. 1956, H. 6, S. 260 f.
 (5) Evangelische Theologie. 1954. H. 7/8,5. 377 f.
 (6) Nun freut euch, lieben Christen gmein, EKG 239, 7. Str. (Im neuen Evangelischen Gesangbuch Nr. 341.)
 (7) Warum sollt ich mich denn grämen, EKG 297, 11. Str. (Im neuen Evangelischen Gesangbuch Nr. 370.)
 (8) Karl Barth, a.a.O., I 2, S. 276.

Quatember 1993, S. 195-200

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-15
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