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von Jürgen Boeckh |
»Herr Pfarrer, die Bibel ist doch für die Geistlichen, wir haben das Gesangbuch!« Das wurde mir als jungem Pfarrer entgegengehalten, als ich versuchte, den - meist älteren - Damen des Frauenbundes unserer Gemeinde die »Bibelarbeit« schmackhaft zu machen. In evangelischen Jugendkreisen aufgewachsen, war es uns während des Dritten Reiches in Fleisch und Blut übergegangen, täglich in der Heiligen Schrift zu lesen. In den Gottesdiensten sangen wir aus dem Gesangbuch. Aber unter uns war das kleine Heft mit den »Liedern der kämpfenden Kirche - Wehr und Waffen« besonders beliebt, und wenn wir in größeren Kreisen versammelt waren, wurde das »Neue Lied« oder der »Helle Ton« aufgeschlagen. Die freundliche Antwort jener Dame aus dem evangelischen Frauenbund der fünfziger Jahre machte mir deutlich, daß wir in verschiedenen Zeiten lebten. Es liegt mir fern, ihre Antwort abzuwerten. In weiten Kreisen der evangelischen Christenheit wurde das Gesangbuch mehr benutzt als die Bibel! Eine persönliche »Erbauung« mit Lied und Gebet, wie sie es bis in dieses Jahrhundert hinein gab (und manchmal noch gibt!), konnte sich noch mit einer naiven Frömmigkeit begnügen. Im deutschsprachigen Raum war seit der Spaltung der abendländischen Christenheit die entscheidende Frage: »Evangelisch« oder »Katholisch«? Im 18. und 19. Jahrhundert wendeten sich viele Menschen von den Kirchen ab, erst innerlich und dann auch äußerlich. Da hieß es wieder wie zu den Zeiten der Apostel: »Der Glaube ist nicht jedermanns Ding.« (2. Thessalonicher 3.2) Die »Geistlichen und lieblichen Lieder« von Johann Porst, Propst an der St. Nikolaikirche zu Berlin (1668-1728), haben den Rationalismus der Aufklärungszeit überdauert. Noch im Jahre 1855 konnte dieses Gesangbuch pietistischer Prägung mit dem Bildnis des preußischen Königs Friedrich Wilhelms IV. und seiner Gemahlin Elisabeth erscheinen, in dem auch noch Lieder altkirchlicher und reformatorischer Herkunft waren, zum Beispiel »Christen wir sollen loben schön« und »Herr Christ, der einig' Gott's Sohn«. Diese beiden Lieder finden sich im »Evangelischen Gesangbuch« für die Provinz Brandenburg im Jahre 1884/1920 nicht, auch nicht in dem, das danach kam. Nach dem Wechsel von dem »Evangelischen Gesangbuch« aus dem Jahre 1931 zum »Evangelischen Kirchengesangbuch«, das im Jahre 1950 herausgegeben wurde, vermißten viele Gemeindeglieder manche Gesänge, während sie andere als »katholisch« abtaten. Zu diesen gehört das neue - alte - Lied zur Epiphaniaszeit: »Herr Christ, der einig Gotts Sohn ...« Im evangelischen Frauenbund konnte man das Lied »Süßer die Glocken nie klingen...« mit Inbrunst singen, aber nicht dieses Lied aus der Reformationszeit, obwohl darin auch von der »Süßigkeit im Herzen« gesprochen und gesungen wird. Auch damit soll kein Vorwurf verbunden sein. Nicht alle konnten bei dem alten Stil der Frömmigkeit bleiben, die sich mittlerweile gewandelt hatte. Von meinem »Konfirmator« wurden wir schon darauf hingewiesen, im Verzeichnis der Liederdichter zu blättern. Ich fand das sehr interessant, obwohl ich noch keineswegs daran dachte, Pfarrer zu werden. Von der »ersten Dichterin des Protestantismus«(3) wußte ich damals noch nichts, da sie in meinem Gesangbuch vom Jahre 1936 nicht zu finden war. Ich weiß nicht, ob jemand darauf geachtet hat, daß nur eine Frau neben den zahlreichen Dichtern in dem »Evangelischen Kirchengesangbuch« (1950) vorkommt. Wer war diese Frau? Elisabeth, später Kreuziger oder Cruciger, geboren um 1500, stammte aus dem pommerschen Adelsgeschlecht der Edlen von Meseritz bei Schivelbein an der Rega. Im Jahre 1522 floh sie aus dem Prämonstratenserkloster Treptow zu dem einstigen Kanonikus Johannes Bugenhagen, genannt Dr. Pomeranus. 1524 vermählte sie sich mit Kaspar Cruciger in Wittenberg. Mit Katharina von Bora, Martin Luthers Frau, war sie eng befreundet. Schon vor ihrer Heirat dichtete sie unser Lied. »Es wird erzählt, sie habe einmal geträumt, daß sie in der Kirche zu Wittenberg öffentlich gepredigt habe, das habe ihr damaliger Verlobter auf die Lieder gedeutet, daß sie von Gott würdig gehalten werden sollten, in der Kirche gesungen zu werden.«(4) Ihr Lied ist von Martin Luther gleich in sein erstes Gesangbuch, das Erfurter Enchiridion vom Jahre 1542, aufgenommen worden - allerdings ohne Verfassernamen! Aus den Angaben der evangelischen Gesangbücher geht, soweit mir bekannt ist, nicht hervor, daß es sich um die Nachdichtung eines Weihnachtshymnus des Aurelius Prudentius Clemens († ca. 348) handelt. »Prudentius ist unbestritten der größte altchristliche Dichter des Abendlands«, sagt Berthold Altaner, »der in bewußtem Gegensatz zu heidnischen und häretischen Anschauungen durch sein Schaffen zur Verherrlichung des Glaubens der Kirche beitragen will. Als echte(m) Dichter... steht ihm eine reiche Phantasie, tiefes Empfinden und eine bildreiche Sprache zur Verfügung.«(5) Zum Vergleich soll hier die erste Strophe - lateinisch und deutsch - angeführt werden, auch wenn die Prägnanz des Urtextes nicht erreicht werden kann:
Über tausend Jahre liegen zwischen der Geburt des größten christlichen Dichters am Ausgang der Antike und der freien Nachdichtung von Elisabeth Kreuziger. Waltraut Ingeborg Sauer-Geppert weist darauf hin, daß unser Lied eine reformatorische Glaubenshaltung mit einer Frömmigkeit verbindet, die in der mittelalterlichen Mystik wurzelt. Das wird besonders in der dritten Strophe deutlich, die hier -nach Sauer-Geppert - im Urtext wiedergegeben werden soll: Lass uns yn deiner liebeDazu heißt es: »Es handelt sich um reale Erfahrung. Wenn die ‘Süßigkeit’ geschmeckt wird, bedeutet das, daß sie wirklich gespürt und in den Menschen aufgenommen wird. Der Vorgang des Essens ist verinnerlicht. Zugleich klingt die Abendmahlssymbolik an, nicht zuletzt in der Zusammenordnung von Essen und Trinken. Dabei tritt eine Spannung zutage, die den Vorgang vor allem kennzeichnet: Indem Christus seine Süßigkeit zu schmecken gibt, wächst der Durst nach ihm. Das ist nicht eine unsinnige Formulierung, sondern hier ist im scheinbar Absurden das ausgedrückt, was überall dort auftaucht, wo mystische Erfahrung echt und auf Gott gerichtet ist und sich nicht in einer Steigerung des eigenen Gefühls selbst genießt. Es kennzeichnet das Leben des Christen auf Erden, daß er wohl in einer gnadenhaften Vorwegnahme der göttlichen Süßigkeit innewerden darf, daß er aber darin nicht verweilen kann, weil die Erfüllung der Gottesbegegnung der Ewigkeit vorbehalten ist.« Der Ehemann von Elisabeth wurde Anfang 1552 Rektor und Prediger in Magdeburg, wohin sie ihm nach der Geburt ihres ersten Sohnes folgte. Drei Jahre später kehrte das Ehepaar wieder nach Wittenberg zurück. Kaspar Kreuziger wurde Luthers Fakultätsgenosse. Elisabeth ist nach kaum elfjähriger Ehe gestorben. Als »ein Lobgesang von Christo« wird unser Lied bezeichnet. Die erste und die zweite Strophe enthalten klare Glaubensaussagen, die in der Heiligen Schrift und dem Nicaenischen Glaubensbekenntnis gegründet sind. In der vierten Strophe führt uns die Dichterin mit dem »Schöpfer aller Dinge« und mit dem Passus »regiert von End zu Ende« zu dem Schluß des zweiten Glaubensartikels »... seiner Herrschaft wird kein Ende sein«. Anders als im »Apostolicum« finden wir im »Großen Glaubensbekenntnis« die schönen Worte »Gott von Gott, Licht von Licht...«In diesen Zusammenhang gehört die biblische Ausführung zur ersten Strophe: »... Er ist der Morgensterne«, wie es am Ende der Offenbarung Johannes (22,16) heißt: »Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern.«(8) Von daher ist die Aufnahme des Liedes unter die Epiphaniaslieder zu verstehen. Die Melodie unseres Liedes stammt aus einem Marienlied, »Ave rubens rosa / virgo - Sei gegrüßt, rötliche Rose, Jungfrau«, das in dem Gesangbuch von Michael Weisse (1531) über den Noten der Weise steht. »Dieser in mehreren Handschriften überlieferte Gesang war der jungen Nonne Elisabeth zweifellos vertraut.«(9) Zu der Melodie sagt Sauer-Geppert: Die Vorlage des Liedes ist achtzeilig, »seine melodische Führung stimmt mit der geistlichen Fassung von 1524 weithin überein, ihre Rhythmik ist genau die gleiche. Im Evangelischen Kirchengesangbuch ist dieser urtümliche Rhythmus wieder hergestellt. Die rhythmischen Verschiebungen dürfen nicht synkopisch betont werden; die richtige sprachliche Betonung muß durch den Wechsel der langen und kurzen Töne hindurchgetragen werden, auch wenn unbetonte Silben auf die Halben, betonte auf die Viertel fallen. Die pentatonische Grundlage der Weise schimmert überall durch ...«(10) Das ist es, was viele als »katholisch« empfinden. Obwohl das Lied mit Text und Melodie über den Konfessionen steht, ist es nicht zu einem ö(kumenischen)-Lied geworden. Die katholische Seite hätte wahrscheinlich den altväterlichen Text etwas geändert. In dem neuen »Evangelischen Gesangbuch« (1993) sind nur drei Änderungen zu verzeichnen. Unter den Liedern zur Epiphaniaszeit stand es seit dem Jahre 1950 an erster Stelle, jetzt ist es auf den zweiten Platz gerückt. Das Lied von Elisabeth Kreuziger ist kein »Ohrwurm«, der heute »geht« und morgen vergessen ist. Es entfaltet aber seine Kraft und wird nicht vergessen von denen, die es immer wieder singen und meditieren. Herr Christ, der einig Gotts Sohn, Vaters in Ewigkeit,Anmerkungen:
Quatember 1993, S. 222-227 |
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