Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1994
Autoren
Themen
Stichworte


Die ökumenische Verpflichtung: Der bleibende Auftrag
von Marc Lienhard

LeerWir können ohne weiteres feststellen, daß heute die Meinungen über die ökumenische Bewegung sehr auseinandergehen. Es besteht kaum Einigkeit bei den Christen und in den Kirchen über den Stand der erreichten Einheit, noch über das Ziel.

LeerDie einen - insbesondere die Älteren - stellen dankbar die Annäherung fest, die seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, also seit dreißig Jahren stattgefunden hat. Der Historiker pflichtet ihnen bei. Man denke etwa an die Beziehungen zwischen Katholiken und Protestanten nach dem Ersten Vatikanischen Konzil, an die Spannungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder an das Problem der Mischehen noch um die Jahrhundertmitte. Ich möchte nicht behaupten, daß heute keine Spannungen mehr zwischen katholischen und evangelischen Kirchen bestehen. Wir sollten aber nicht vergessen, daß die ökumenische Bewegung in den letzten Jahrzehnten reiche Früchte gebracht hat. Insgesamt hat sich, zumindest in Westeuropa, das Verhältnis der Kirchen und Christen zueinander erheblich gewandelt. Das Bewußtsein der Gemeinsamkeit ist bedeutend gewachsen, und dies auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens.

LeerUnd trotzdem spricht man heute - und nicht ganz zu Unrecht - von einer Krise der ökumenischen Bewegung. Ökumenische Themen, Bücher und Treffen sind nicht mehr, oder viel weniger, gefragt. Die Zahl der enttäuschten Christen scheint groß zu sein, die mehr erwartet hatten an sichtbarer Einheit, an gemeinsamem Handeln, an Abendmahlsgemeinschaft oder an gemeinsamen Institutionen.

LeerIch begegne auch immer wieder Mitchristen, besonders jüngeren Menschen, denen die Sache der Einheit kein Anliegen mehr ist. Entweder weil sie der Meinung sind, daß alles geklärt ist, daß eigentlich keine gravierenden, kirchentrennenden Unterschiede mehr zwischen den Kirchen bestehen, oder weil ihnen die ökumenischen Bemühungen unwichtig erscheinen, zu ekklesiozentrisch oder ohne Zukunft. Sie wenden sich anderen Aufgaben zu in Kirche und Gesellschaft, die in ihren Augen dringender oder verheißungsvoller sind.

LeerZu erwähnen wären auch alle diejenigen, die sich ins eigene Schneckenhäuschen zurückziehen. Gefragt ist heute wieder stärker konfessionelle Identität. Betont wird der Partikularismus der eigenen Tradition, in der Kirche wie in der Gesellschaft.

LeerWir könnten ohne weiteres die Bestandsaufnahme erweitern und verfeinern. Um das Fazit kommen wir nicht herum: das ökumenische Anliegen ist nicht mehr selbstverständlich. Die Krise der ökumenischen Bewegung ist heute vor allem die Krise der ökumenischen Motivation.

Linie

LeerDies ruft uns zur Besinnung, zum Fragen nach dem Wesen der Sache, nach ihrem Ursprung und natürlich auch nach ihrem Ziel. Wenn ich Johannes 17 recht lese - wir werden ja immer wieder auf diesen klassischen Text zurückgeworfen -, dann sollte zumindest soviel klar sein: Das Bemühen um die Einheit ist mehr als eine Mode und mehr als ein Gadget, das während ein paar Jahren (Zweites Vatikanisches Konzil), bei besonderen Anlässen (Papstbesuch!) die Aufmerksamkeit erregt. Die ökumenische Bewegung ist auch mehr als das Hobby einiger Zunfttheologen oder einiger Institutionen wie zum Beispiel des Ökumenischen Rates der Kirchen. Die ökumenische Bewegung befindet sich jenseits von unserm guten Willen, von unseren Idealen, jenseits auch von der Zeitstimmung. Sie wurzelt im Willen Jesu selbst, wie er zum Ausdruck kommt im sogenannten hohenpriesterlichen Gebet in der Fassung von Johannes 17. Der zum Tode schreitende Jesus faßt seine Botschaft zusammen und betet für die, die der Vater ihm gegeben hat, daß sie eins seien, gleichwie er eins ist mit dem Vater.

LeerVon daher ist es uns verwehrt, das ökumenische Bemühen zu bagatellisieren oder zu verdrängen. Es geht hier nicht um Lust oder Unlust, sondern um Gehorsam. Gewiß, wir suchen vergebens im Neuen Testament nach Einheitsmodellen, nach präzisen Zielvorstellungen, wie die Einheit auszusehen habe. Ist das gemeinsame Handeln zu bevorzugen, nach dem Motto etwa »Das Handeln eint, die Lehre trennt«? Besteht Einheit vorwiegend in gelegentlichen ökumenischen Treffen, auf Ortsebene oder auf Weltebene? Geht es, wenn von Einheit die Rede ist, vorwiegend um Einheit in der Lehre, um gemeinsame Institutionen, oder um gemeinsame Feier des Abendmahls? Muß Einheit sich überhaupt auf gottesdienstlicher oder auf institutioneller Ebene ausdrücken? Genügt nicht der schon erreichte Stimmungswandel, die Veränderung der Mentalitäten und der Gesinnung der einzelnen Personen? Ist übrigens eine sichtbare Einheit der Kirchen vor dem Ende der Zeiten zu erwarten? Ist sie wirklich wünschenswert? Sollte man sich nicht mit verschiedenen aber versöhnten Kirchen und Konfessionen begnügen? Wäre die wahre Einheit nicht in den Gegensätzen oder zumindest in den Unterschieden zu finden, das heißt im Reichtum der verschiedenen Erscheinungen der Gotteskindschaft? So lauten heute die Fragen. Diese Fragen dürfen und müssen wir stellen. Eine eindeutige Antwort liegt nicht auf der Hand.

LeerAber was sagt uns Johannes 17? Zwei Aussagen scheinen mir grundlegend zu sein. Der Text betont, daß Einheit immer und zuerst in der gemeinsamen Verwurzelung in Jesus Christus besteht, im Christus, der uns den Vater offenbart. Die Motivation des ökumenischen Bemühens kann nicht darin bestehen, den Christen und Kirchen zu größerer Effizienz zu verhelfen. Am Ursprung und letzten Endes geht es um die Treue zu dem einen Herrn. Das ökumenische Bemühen ist auch kein Kreuzzug. Sein Ziel ist nicht, die Christen zu vereinen, um besser dem drohenden Islam oder der säkularisierten Gesellschaft wiederstehen zu können. Das Ziel kann nur darin bestehen: fröhlicher und überzeugender den Namen, die Wirklichkeit des Gottes zu verkünden, der Mensch geworden ist in Jesus Christus.

LeerDeshalb wird die ökumenische Bemühung und die Manifestation der Einheit sich immer kundtun, indem die Christen sich gemeinsam dem einen Evangelium zuwenden, in welchem sich dieser Name Gottes offenbart. Dazu gehört auch das gemeinsame Anrufen des Namens Gottes und die gemeinsame Feier der Eucharistie, als lobende Aufnahme des sich vergegenwärtigenden Christus.

Linie

LeerUnser Text betont zweitens, daß in Analogie zur Einheit innerhalb der Dreieinigkeit Gottes (V. 11) die Einheit der Christen nicht mit der Einheit eines Regiments gleichzusetzen ist, wo alle im selben Schritt marschieren müssen und alle Unterschiede nivelliert werden. Maßgebend ist das geheimnisvolle Verhältnis zwischen Vater und Sohn und Heiligem Geist! »Alles was mein ist, das ist dein, und was dein ist, das ist mein.« (V. 10) Innertrinitarische Gütergemeinschaft! Nicht aufgezwungene Teilung, nicht programmierte Abschaffung des Privateigentums und des Partikularismus, sondern aus göttlicher Tiefe aufbrechende Gemeinschaft! Nur diese geheimnisvolle, freie Liebesbewegung begründet die Einheit der Christen und macht sie möglich, ohne Preisgabe der besonderen und partikularen Charismen der einen und der anderen, so wenig die innertrinitarische Gemeinschaft die Unterschiede zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist zerstört!

LeerDie Liebe, von der hier und in anderen Johanneischen Stellen die Rede ist, erschöpft sich nicht in Worten und Gefühlen. Sie besteht im Anteilgeben, im Teilen und Teilnehmen. Daß ist letzten Endes gemeint mit der ökumenischen Bewegung. Sie besteht darin, daß die einen den anderen Anteil geben an dem, was sie empfangen haben. Daß wir gelegentlich unsere Räume anderen kirchlichen Gemeinschaften zur Verfügung stellen, hat sich weithin eingebürgert und wird auch weiterhin ein sichtbares Zeichen bleiben. Vielleicht kommt einmal die Zeit, wo es möglich sein wird, den Dienst unserer Ämter einer anderen Kirche anzubieten: daß die Konfessionen sich auch im Laufe der Jahrhunderte geschenkte und erprobte Gaben anzubieten haben. Und miteinander zu teilen ist auch weiterhin geboten: das traditionelle Vertrautsein der Protestanten mit der Bibel, der Sinn für Gottesdienst bei den Katholiken, der Freiheitsdrang der Protestanten und ihre Betonung der Verantwortung des einzelnen, der Sinn für Kirche bei den Katholiken.

LeerJohannes 17 spricht von einer Herrlichkeit, die weiterzugeben ist. Der Christen Herrlichkeit besteht letzten Endes nicht im Reichtum einer jahrhundertealten Geschichte, nicht im Glanz ihrer Kathedralen und Kirchen, auch wenn uns nicht verwehrt ist, sie zu lieben und zu pflegen! Unsere Herrlichkeit besteht auch nicht in gut funktionierenden kirchlichen Strukturen oder im Einfluß der Kirche auf Gesellschaft und Kultur. Die weiterzugebende Herrlichkeit kann letzten Endes nur diejenige der Liebe sein, eine Herrlichkeit, die sich darin kundtut - wenn auch schüchtern genug! -, daß unsere Gemeinden und Gemeinschaften von Zeit zu Zeit Stätten sind des Teilens, der Solidarität und der Versöhnung.

LeerUnser Text will uns davor bewahren, auf naive, idyllische oder weichliche Weise von der zu bewahrenden oder zu suchenden Einheit zu reden. So war es eben nie in der Kirche. Schon im Umkreis des irdischen Jesus stritten die Jünger: Jeder wollte der Größte sein. Unter den Zwölfen erscheint die düstere Gestalt des Judas, der »Sohn des Verderbens« (Johannes 17,12). Sie erinnert uns daran, daß zu jeder Zeit in der Christenheit nicht nur Streitigkeiten und Spaltungen sich ereignen, sondern auch die Apostasie. Judas und seine vielfältigen Nachfolger geben nicht nur Christus und seine Sache preis, sie verraten ihn auch, indem sie der Kirche andere Ziele stecken als diejenigen, die von Christus vorgesehen waren. Judas war bekanntlich Zelot. Er konnte sich mit dem Evangelium des Kreuzes und der Schwachheit nicht abfinden und wollte Jesus - oder Gott -zum machtvollen Eingreifen zwingen. Dies ist die nicht ganz unwahrscheinliche Hypothese einiger Neutestamentler.

Linie

LeerWie dem auch sei, wir wissen, wie oft in der Geschichte der Christenheit die Einheit der Christen gefährdet und zerstört wurde, und dies nicht nur im 16. Jahrhundert! Religionskriege jahrhundertelanges Mißtrauen, tiefgründiger Haß, Trennungen aller Arten. Das Bild ist genügend bekannt! Wir wissen auch, wie innerhalb unserer eigenen Gemeinden oder Gemeinschaften die Einheit bedroht ist. Innerhalb einer Kirche fuhren die Meinungsunterschiede, die theologischen Strömungen und der Wille zur Macht oft genug zu dramatischen Zerreißproben. Es gibt keine absolute institutionelle oder lehrmäßige Garantie, um die Einheit zu wahren, auch nicht in der römischen Kirche oder in den Freikirchen! Daß die Einheit bis zur Gemeindeebene hin immer bedroht ist, erleben Pfarrer fast täglich.

LeerBis zur Wiederkunft Christi wird die Einheit ein steter Kampf bleiben, bis in den Alltag unserer Gemeinden hinein wie auch auf der Gesamtebene der Christenheit. Gott sei Dank ist es aber zunächst nicht nur unser Kampf, der Kampf einiger Idealisten, die müde werden, oder der Eifer einiger Spezialisten, die diskutieren. Von den Ursprüngen bis zum Ende der Zeiten ist es der ureigene Kampf Jesu Christi. Unaufhörlich steht er vor dem Vater in der Fürbitte für die Kirche.

LeerInsofern unsere Gottesdienste dem Evangelium treu sind, nehmen sie teil an diesem Kampf im Gebet und in der Verkündigung.

LeerJesus Christus zu verkündigen besteht nicht nur darin, einzelnen Christen die frohe, befreiende Botschaft des Evangeliums anzubieten, sondern auch für die Einheit der Christen zu wirken, in der Erwartung des Tages, an den uns jede Eucharistie erinnert, an dem er uns selbst in seinem Reich vereinen wird.

Quatember 1994, S. 131-135

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-23
Haftungsausschluss
TOP