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Das Christentum und die Religionen
von Gérard Siegwalt

Gedanken zu einer in der Zukunft bestimmenden religiösen Kultur *

LeerEs ist zweifellos eine der ganz großen heute dem Christentum, aber darüber hinaus der menschlichen Gesellschaft gestellten Fragen, die mit dem angegebenen Thema vor uns steht. Wenn andere als gleichwichtig erscheinende Fragen genannt werden sollten, könnte man folgende aufzählen:
  • der notwendige kritische Dialog mit den Naturwissenschaften, zentral mit Physik und Biologie, und mit der sie zugleich ermöglichenden und sich ihnen verdankenden Technologie;
  • das unablässige Eintreten, wie es vom sog. konziliaren Prozeß (von Basel und Seoul) getragen wird, für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung; Gerechtigkeit meint die wirtschaftliche Gerechtigkeit, Frieden den sozialen Frieden, Bewahrung der Schöpfung die Respektierung der ökologischen Grunddimension der Natur;
  • die kulturelle Frage: Welcher Kultur gehen wir entgegen, auf Weltebene, auf der Ebene Europas, und wie hängt diese Kultur mit Sprache und das heißt konkret mit Sprachen zusammen als Mittel und zugleich als Ausdruck von Zusammengehörigkeit; denn - um es einmal auf Deutschland und Frankreich zu begrenzen -: Eine deutsch-französische Gemeinschaft wird zuletzt, über die Wirtschaftsebene hinaus, eine kulturelle, geistige Gemeinschaft sein (oder sie wird nicht sein), und das heißt: eine Gemeinschaft der Sprachen, derart, daß der Deutsche (ein Großteil der Deutschen) Französisch und der Franzose (ein Großteil der Franzosen) Deutsch versteht und spricht;
  • schließlich die menschliche Grundfrage nach Sinn und Ziel des Lebens und nach Überwindung der Sinn und Ziel des menschlichen Lebens hindernden und vereitelnden Kräfte.
LeerDiese verschiedenen Fragenkomplexe hängen alle zutiefst miteinander zusammen, und in allen stellt sich als Grundfrage die Gottesfrage: Wer ist Gott in Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und menschlicher Existenz? Die Gottesfrage ist auch und im besonderen die Grundfrage des hier zu behandelnden Themas, das für Gegenwart und Zukunft der Menschheit insgesamt und einer jeden partikularen menschlichen Gesellschaft - wie der deutschen und der französischen - eine entscheidende Bedeutung hat.

LeerHier zunächst der Gang der Gedankenführung folgender Überlegungen. In einem ersten Teil wollen wir uns kurz die Lage vergegenwärtigen, wie sie mit dem Ausdruck »pluri-kulturelle und pluri-religiöse Gesellschaft« umschrieben wird. Im zweiten Teil geht es um das Ernstnehmen der Erkenntnis, daß Religion es mit Wahrheit zu tun hat und daß jede Religion mit einem Wahrheitsanspruch auftritt und mit diesem Anspruch steht und fällt. Der dritte, letzte Teil befaßt sich dann mit der Frage: Wie werden wir, vom Christentum ausgehend, konkret einer nichtchristlichen Religion gerecht?

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I. Zur Lage

LeerWir können heute nicht umhin, davon auszugehen, daß eine Konfrontation zwischen dem Christentum und nicht-christlichen, also anderen Religionen unvermeidlich ist (1). Letztere sind überall gegenwärtig, nicht mehr nur in den früheren »Missionsgebieten«, weit vom früher christlich genannten Abendland entfernt, sondern mitten in diesem selbst. Es ist zum Missionsgebiet für die indischen Religionen und den Islam geworden. Die sogenannten primitiven Religionen Afrikas und Ozeaniens sind zwar selbst nicht missionarisch zu nennen, aber wenn sie nach dem Christentum die Anziehungskraft der anderen »großen« Religionen erfahren, werden sie sich ihrer eigenen »positiven Werte« besser bewußt, nachdem sie die Fehler der westlichen Zivilisation und eines nach ihrem Bilde beschaffenen Christentums festgestellt haben. Sogar von den primitiven Religionen ergeht eine Anfrage an den christlichen Glauben, eben weil solche »Werte« der christlichen Offenbarung näher zu sein scheinen als manche Früchte, die der Baum des historischen Christentums gebracht hat, oder weil sie ihm zumindest gleichförmig zu sein scheinen. Das gleiche gilt von den sog. »großen« Religionen, deren schlagende Wirkung nicht nur die Krise des Christentums, sondern auch ihr eigenes »geistliches Gewicht« bezeugen.

LeerDes weiteren gilt, daß infolge seiner historischen Bindung an die westliche Zivilisation das Christentum selbst durch die Krise ihrer Grundlagen erschüttert wird. Sein Fragen nach der eigenen Wahrheit, nach dem wahren Sinn der Offenbarung, die es begründet, erfolgt unter den Schlägen der Krise, die es geistlich erschüttert, und zugleich in der Konfrontation mit den anderen Religionen und den Fragen, die diese ihm durch ihr Wesen und Wirken stellen. Man kennt den missionarischen Schwung, der das Christentum in den Jahrhunderten der Eroberung des Mittelmeerraumes beseelt hat, von den Missionsreisen des Apostels Paulus bis zur Christianisierung der fernen Grenzgebiete des Römischen Reiches und der eroberungslüsternen »Barbaren«, die, nachdem sie das Reich in die Knie gezwungen hatten, durch die Kirche die Taufe als Zeichen der Botmäßigkeit gegenüber dem Christentum empfingen, und dann bis zur Neuzeit im Zug der Entdeckung und Kolonialisierung neuer Landstriche. Der Missionsbefehl, den der auferstandene Christus laut Matthäus 28,18ff. seiner Kirche gegeben hat, bleibt bestehen. Aber was bedeutet dieser Befehl in der gegenwärtigen Situation der Kirche, die die Anfechtung des Glaubens kennt? Das ist die Frage. Man kann ihr nicht ausweichen.

LeerDas heißt: die Kirche kann der Notwendigkeit nicht ausweichen, einen neuen Blick auf die nicht-christlichen Religionen zu werfen, weil sie einen neuen Blick auf das werfen muß, was sie selbst konstituiert und was in der Krise des historischen Christentums auseinanderfällt. Und indem es auseinanderfällt, ruft es sich zugleich in die Erinnerung zurück.

LeerDamit haben wir nur generell die Lage geschildert und die mit ihr gegebene Herausforderung an das Christentum. Wir müssen nun die Dinge noch etwas präziser benennen.

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LeerWir leben mehr und mehr in einer multikulturellen Gesellschaft, und das heißt auch in einer Gesellschaft mit verschiedenen Religionen. Ich brauche diese Lage nicht statistisch zu belegen, wenn auch der Hinweis nützlich sein mag, daß der Islam in meinem Land - in Frankreich - heute mit gegen 4 Millionen Muslimen die zweite Religion (nach dem Katholizismus und lange vor dem Protestantismus) ist. Das sind Fakten, denen nicht auszuweichen ist. Sie nötigen das Christentum - die christlichen Kirchen, die Christen - zu entscheidenden Einsichten. Ich möchte sie, fast thesenartig, folgendermaßen formulieren.

1. Das Christentum ist - wiederum -, jedenfalls potentiell und mehr und mehr, eine Minderheit. Das Leitbild des sog. konstantinischen Corpus christianum mit seinem Machtbewußtsein - und auch seinem Machtdenken, und dies manchmal bis heute - ist nicht mehr zukunftsträchtig: die Wirklichkeit entzieht sich diesem Leitbild, das mehr und mehr ins Leere trifft.
LeerBeim Zerbröckeln dieses Paradigmas wird uns aber zugleich sein problematischer Charakter bewußt. Wie hängen Evangelium und Macht zusammen? Wir sind von neuem an das Evangelium als Angebot gewiesen, das sich nur geistlich, und das heißt durch sich selbst, durch die ihm inhärente geistliche Macht oder Autorität in Menschen und auch in von Menschen gemachten Strukturen durchsetzt. Anders gesagt: wir sind an die - dialektisch zu verstehende - Zweireichelehre Luthers gewiesen. Mit Tillich gesprochen: Das Christentum betrifft die Dimension der Religion, dessen, was uns unbedingt angeht; die Verkoppelung von zeitlicher Macht und Religion ist aber eine Perversion ebensosehr der zeitlichen Macht als auch der Religion.
2. Diese Perversion ist eine Möglichkeit einer jeden besonderen Religion; sie ist heute ein Politikum nicht nur in absolutistischen Formen des Christentums - in Nordirland, in manchen Ausprägungen des protestantischen Fundamentalismus, im römisch-katholischen Integrismus, bis vor kurzem in Südafrika ... -, sondern auch in absolutistischen Formen des Judentums und des Islam. All dies zeigt - nochmals mit Tillich zu reden - die mögliche Dämonie jeder besonderen Religion, wo sie des Unbedingten meint habhaft werden zu können, wodurch sie es aber gerade als das Unbedingte leugnet und zu einem Bedingten macht. Absolutistische Formen von Religion (Fanatismus!) sind dämonische, zerstörerische Formen von Religion.
LeerAngesichts dieses Faktums stellt sich die Frage, zunächst im Blick auf das Christentum: Hat dasselbe in seiner theonomen Wahrheit, hat somit das christliche Glaubensbekenntnis, das ja das Bekenntnis zum Dreieinen Gott und somit zu Jesus als dem Christus ist, hat es eine - wie ich es einmal nennen will - therapeutische und integrative Kraft? Zuerst für das Christentum selber in seiner absolutistischen, dämonischen Gefährdung? Und dann für andere Religionen, von denen das Christentum betroffen ist und die durch ihre eigene dämonische Potentialität in ihrem wahren Wesen gefährdet sind? Die Frage betrifft aber nicht nur das Christentum, sondern bezieht sich auf die Wirklichkeit der Religionen insgesamt in unserer Gesellschaft: Sind die Religionen wegen ihrer therapeutischen und integrativen Kraft eine Hilfe für die Integration der verschiedenen Religionen in die Gesellschaft, sind sie gar eine Hilfe für die Überwindung anderer, pathogener und somit desintegrativer Kräfte in der Gesellschaft, oder sind sie eine zusätzliche Gefahr für den - geistigen und geistlichen - Zusammenhalt der Gesellschaft, ihren Zusammenhalt in der Wahrheit (2)?

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3. Somit stellt sich die Frage nach der Wahrheit der einzelnen Religionen. Sie stellt sich angesichts ihrer immer wieder gegebenen Perversion. Diese Perversion zeigt sich im Machtdenken: Sie ist da, wo man von der Überlegenheit des Christentums, von seinem Absolutheitsanspruch spricht. Es gibt gewiß einen Absolutheitsanspruch, aber er ist der Gottes und seines Christus, nicht der des Christentums. Wenn man vom Absolutheitsanspruch des Christentums spricht, vermengt man Gott oder Christus mit dem historischen Verständnis, das man von ihm hat: Das Christentum nimmt dann Besitz von Christus. Hier siegt dann der Unglaube, während der Glaube um die gewiß gnädige Gottheit weiß, die aber alle menschlichen Vorstellungen übersteigt. Es besteht ein Widerspruch zwischen der Wesensaussage, daß das Christentum eine Gnadenreligion ist, und der Aussage von der Überlegenheit des Christentums und dem damit verbundenen Machtanspruch (3). Gnade will geschehen, kann sich nur erweisen, nicht behaupten, nicht aufrechnen. Man kann gewiß zeigen, daß und wie sie sich erweist, kann es aber nicht machen. Das Christentum ist von Christus abhängig, auf ihn und damit auf die göttliche Transzendenz bezogen, vor der es nur geistlich Arme, nur - mit Luther zu reden - Bettler gibt, gewiss begnadigte Bettler, begnadigte Arme, aber eben nicht Habende, nicht Gott Vereinnahmende, Gott Besitzende.

LeerUm, als Abschluß dieses ersten Teiles zur Lage, die Dinge recht eigentlich auf den springenden Punkt zu bringen und um zugleich schon etwas Grundsätzliches zu sagen im Sinn des Untertitels zum Thema »Das Christentum und die Religionen« - »Gedanken zu einer in der Zukunft bestimmenden religiösen Kultur« -, ein kurzes Wort zur religiösen Kultur in der Erziehung, und das heißt auch in der Schule. Ich sage die Dinge vom französischen Hintergrund her, wo der Laizismus der Schule, dort wo er die herrschende Ideologie ist (was nur streckenweise der Fall ist) sich unfähig erweist, den sogenannten »foulard islamique«, also die von der Religion vorgeschriebene Kopfbedeckung der Mädchen und Frauen zu integrieren. Es wirft dies die Frage auf des Platzes der Religionen in den Schulen. Offiziell gibt es einen solchen Platz (außer in Elsaß und Lothringen) nicht. Religion ist eben (offiziell) Privatsache. Das führt aber zu einer doppelten Konsequenz.

LeerEinmal liefert die Schule keinen eigentlichen Beitrag zum Verständnis der religiösen Wurzeln der westlichen und auch französischen Kultur. Wie soll man aber die Geschichte, die Kunst, die Literatur usw. verstehen ohne das judenchristliche und teilweise auch ohne das islamische Erbe? Die Defizienz der religiösen Kultur in der französischen Gesellschaft, die auf der diesbezüglichen Defizienz der Schule beruht, dringt mehr und mehr ins öffentliche Bewußtsein ein und verlangt dringend nach Abhilfe, wenn einer kollektiven Bewußtseinsschrumpfung und somit einem gesellschaftlichen Verdummungsprozeß entgegengewirkt werden soll. Vielleicht ist die Lage in Deutschland in manchem ähnlich.

LeerDann trägt die Schule durch das Fehlen eines Unterrichts in religiöser Kultur nicht zur Integration in die französische Gesellschaft der Zuwanderer - vornehmlich aus islamischen Ländern - und nicht zur gegenseitigen Kenntnis und Respektierung der verschiedenen Religionen bei. Wenn wir um die heute mancherorts grassierende, verheerende Religionskrankheit des Fanatismus mit ihren sozialen und politischen Auswirkungen wissen, gegen die keine Religion immun ist, erkennen wir die Verantwortungslosigkeit einer Gesellschaft, die die Religion ins Abseits verdrängt und damit direkt neurotisch ist und handelt.

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LeerFür den Zusammenhalt einer Gesellschaft scheint eine Unterweisung der religiösen Kultur von vordringlicher Notwendigkeit. Die so genannte religiöse Kultur ist die interreligiöse Kultur; ihre Unterweisung gehört nicht in die Hand der Kirchen, denen die christliche Unterweisung obliegt, sondern in die Hand der Gesellschaft und somit des Staates in Verbindung mit allen betroffenen Religionen. Ich denke, die christlichen Kirchen sind gut beraten, wenn sie sich aus christlicher und gesellschaftlicher Verantwortung einsetzen, einmal für die Unterscheidung zwischen christlicher Unterweisung und allgemeiner religiöser Kultur, dann für einen öffentlichen Religionsunterricht, verstanden als Unterricht der religiösen - interreligiösen - Kultur.

II. Zur theologischen Klärung der Wahrheitsfrage

LeerWir sprachen schon von der je und je möglichen Perversion von Religion, von jeglicher Religion. Sie zeigt sich im Machtdenken; dasselbe erweist sich nicht nur da, wo die Religion mit Machtansprüchen innerhalb der menschlichen Gesellschaft auftritt, sondern auch da, wo sich eine Religion gegenüber einer anderen oder gegenüber den anderen als überlegen ansieht. Die Ablehnung des Überlegenheitsdenkens bedeutet nicht eine Verwischung der Unterschiede zwischen dem Christentum und den anderen Religionen; sie bedeutet auch nicht einen religiösen Relativismus, wonach es gleichgültig ist, welcher bestimmten Religion man angehört. Zwischen dem schon erwähnten Absolutismus der Religion, die ein blinder Fanatismus ist, und dem Relativismus, welcher die einzelne Religion zugunsten einer vagen Religiosität preisgibt, ist die Religion, d.h. sind die einzelnen Religionen in ihrer jeweiligen Wahrheit situiert.

LeerWas ist dann die Wahrheit der einzelnen Religion? Es läßt sich antworten: Es ist ihr Offenbarungscharakter. Aber diese Antwort, so unaufgebbar sie ist, genügt doch nicht. Denn der Offenbarungscharakter erweist sich nicht an seinem Anspruch, also am Anspruch der einzelnen Religion, auf Offenbarung zu beruhen (das kann, wie deutlich wurde, zu Machtanspruch führen), sondern an seiner konstruktiven, das heißt an seiner (wie schon gesagt) therapeutischen (heilenden) und integrativen (verbindenden) Frucht. Es geht dabei um ein Heilen in Wahrheit - also zutiefst um Heil, um Erneuerung der Person - und um ein Verbinden in Wahrheit, also um ein gemeinsames Offenwerden für das Letzte in allem Vorletzten, für das Unbedingte in allem Bedingten.

LeerOffenbarung ist somit kein Formal-, sondern ein Materialbegriff. Es ist damit gesagt, daß nicht der Offenbarungsanspruch die jeweilige Religion zur Religion macht, sondern der Erweis ihres Offenbarungscharakters, das heißt die Tatsache, daß dieselbe Religion an ihren (therapeutischen und integrativen) Früchten als Offenbarungsreligion erkennbar wird.

LeerWie soll das aber erkennbar werden? Antwort: Die Wahrheit der Religionen, die auf ihrem Offenbarungsfundament beruht, kann nur erprobt werden. Denn es ist nicht möglich, von außen her einen Zugang zu den Religionen zu haben. Es ist nur von innen her möglich, indem man an ihrer Wahrheit Anteil nimmt, sie also erprobt. Man kann theologisch nur von den Religionen reden, indem man sich ihrer Wahrheit ausliefert. Ist das aber möglich? Die Frage hat zwei Aspekte; je nachdem diese Öffnung gegenüber einer anderen Religion den christlichen Glauben oder eine andere Religion betrifft. Im letzteren Fall interessiert uns ihre Öffnung gegenüber dem christlichen Glauben.

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LeerMan kann die erste Frage so beantworten: An dieser Öffnung entscheidet es sich, ob der christliche Glaube wirklich Glaube an den rekapitulierenden Christus ist. Damit verweise ich auf Epheser 1,10: »Gott rekapituliert alle Dinge in Christus, das heißt gibt ihnen in Christus ihr Haupt.« (Luther: »Gott faßt alle Dinge in Christus zusammen.«) Die Rekapitulation besagt nicht, daß das Christentum alles unbesehen annimmt, aufnimmt, sondern sie beinhaltet eine Unterscheidung, wie noch deutlich werden wird. Jedenfalls: An der Öffnung gegenüber den anderen Religionen erweist es sich, ob der christliche Glaube wirklich auf alle Dinge bezogen ist, das heißt, ob er als Partikularglaube auch Universalglaube ist. Das Fehlen der Öffnung gegenüber der Wahrheit der anderen Religionen würde aus dem christlichen Glauben einen bloßen Partikularglauben mit totalitärem Anspruch machen, der außer seinem Anspruch keine universale Tragweite hätte. So definiert sich eine sektiererische Religion: Totalitarismus und Sektierertum gehören immer zusammen.

LeerWill man andererseits wissen, ob diese oder jene andere Religion dem christlichen Glauben gegenüber aufgeschlossen ist, so müssen verschiedene Fälle unterschieden werden: der Fall einer totalitären und sektiererischen Religion, die einen ideologischen Kampf führt um die eifersüchtige Wahrung eines Territoriums, das sie allein beherrscht, oder um die Eroberung neuer Lebensräume, ja sogar der ganzen Welt; und dann der Fall einer Religion, die ganz anders geartet ist als die christliche Religion und ihr völlig gleichgültig gegenübersteht; und endlich der Fall einer Religion, die selbst die Wahrheit der anderen Religionen in sich aufnimmt und somit integriert. Eine solche Öffnung und Integrationsfahigkeit setzt de facto voraus, daß die Wahrheit der anderen Religion schon immer, wenigstens potentiell, in der betreffenden Religion selbst gegenwärtig ist. Wie kann das sein?

LeerFür den christlichen Glauben ist die Antwort im Verständnis des Glaubens an den rekapitulierenden Christus inbegriffen: Die Rekapitulation aller Dinge in Christus schließt jeden Irrtum aus, aber sie schließt auch die ganze Wahrheit ein. Das gilt auch in bezug auf die nicht-christlichen Religionen. Der Exklusivanspruch - im Sinne des Exklusivismus, der etwas anderes ist als das, was mit dem Wort »Exklusivität« besagt ist (siehe etwas weiter unten) - ist nicht christlich: Das Christentum ist seiner Wahrheit entsprechend kein Fanatismus und kann es nicht sein, weil die besondere Offenbarung Gottes an Israel und in Jesus Christus immer auf »alle Dinge« bezogen wird, die ihr vorangehen und die sie zugleich voraussetzen, denn der Gott der besonderen Offenbarung ist der Gott der Schöpfung. Der schlichte Inklusivismus ist ebensowenig christlich, weil er nicht zwischen Wahrheit und Irrtum unterscheidet. Der christliche Glaube ist in seiner Wahrheit zugleich exklusiv (er schließt den Irrtum der Religionen aus) und inklusiv (er schließt die Wahrheit der Religionen ein). Die so verstandene Rekapitulation muß bei der Konfrontation zwischen christlichem Glauben und den anderen Religionen im einzelnen dann angewandt werden.

LeerWird nun die Frage angesichts einer nicht-christlichen Religion gestellt, die von dem Willen geprägt ist, alles in sich zu integrieren, was anderswo vorhanden ist, so kann die gestellte Frage nur eine Antwort finden, nachdem wir die Wahrheit dieser Religion erkannt haben.

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LeerWir setzen bei dem allen voraus, daß die Religionen auf einer Offenbarung beruhen und daß ihre Wahrheit die Wahrheit dieser Offenbarung ist. Man kann auch sagen: Sie sind der Ausdruck einer für jede Religion spezifischen religiösen Erfahrung oder einer Reihe von spezifischen religiösen Erfahrungen. Diese Erfahrung wird als wesentlich und deshalb auch als beispielhaft betrachtet. Sie soll verewigt und deshalb weitergegeben werden. Mit anderen Worten: Die Religionen sind Gegebenheiten, die aus Mythen oder einer heiligen Geschichte, aus Riten oder Praktiken oder auch einer eine Ethik einschließenden Weltanschauung bestehen. Diese Gegebenheiten sind gewachsen, und zwar von einem anfänglichen Ereignis (oder einer Mehrzahl von anfänglichen Ereignissen) aus, das als offenbarungsartig oder theophanisch erkannt wird. Dieses sehr allgemeine Verständnis entspricht dem Selbstverständnis einer jeden Religion, einschließlich der christlichen Religion. Es muß in jedem einzelnen Fall untersucht werden, aber jede Art und Weise, an die Religionen heranzugehen, die nicht von diesem Verständnis ausgeht, entspricht der Qualität der Religion nicht.

LeerDieses Vorverständnis genügt jedoch nicht, um die Offenbarung dieser oder jener Religion als solche erfahrbar zu machen. Dieses Vorverständnis bestätigt nur die conditio sine qua non, unter der in der Konfrontation zwischen verschiedenen Religionen die jeweils andere Religion ihrem eigenen Anspruch gemäß anerkannt wird, daß es sich nämlich hier um eine wahre Offenbarung handelt oder zumindest handeln kann. Dann muß sich jedoch die Qualität der Offenbarung und also die Wahrheit dieser Religion auch als wahr erweisen. Denn »Offenbarung ist nur, sofern sie uns angeht, auf uns zugeht. Und das kann sie nur in konkreter Form. ‘Offenbarung überhaupt’ ist keine Offenbarung. Nur in dieser ganz konkreten Form kann ich Offenbarung erfahren.«(4) Offenbarung und Konkretisierung gehören zueinander. Eine Offenbarung ist immer konkret, wird immer konkret erfahren, sowohl da, wo sie zum ersten Mal als grundlegende Offenbarung einer Religion geschieht, als auch da, wo sie für mich, für uns aktualisiert wird und ihre Qualität als Offenbarung über das grundlegende Ereignis hinaus in ihrer potentiell permanenten, ewigen Aktualität erweist.

LeerEs gibt theoretisch zwei Erklärungen, die über die Religionen und ihr Offenbarungsfundament Rechenschaft geben: Entweder sind sie in ihrer Verschiedenheit besondere Konkretisierungen dessen, was man als Uroffenbarung bezeichnen kann, oder sie sind spezielle Offenbarungen. In letzterem Fall muß gefragt werden, welchen Gott sie offenbaren und welchen Stellenwert dieser Gott dem Christentum gegenüber hat.

LeerHierbei stellt sich die Frage nach der Fortführung oder Kontinuität der Offenbarung. Diese Frage wird zuerst durch den Islam gestellt, nicht als Frage von seiner Sicht aus, sondern als Aussage (der Islam will ja die Fortsetzung und auch Verbesserung der jüdisch-christlichen Tradition sein). Dann wird sie - auch als Aussage - von anderen nach-christlichen Religionsformen gemacht (z.B. die Mormonen, der Bahaismus, und bis in die Religiosität des New Age hinein). Diese Frage ist als Frage unausweichlich und legitim. Die christliche Aussage von der Erfüllung der Offenbarung in Jesus dem Christus hebt die Gewißheit nicht auf, sondern etabliert sie recht eigentlich, daß Gott in Christus durch den heiligen Geist lebendig und in alle Ewigkeit, und das heißt zunächst in der Zeit wirksam ist. Doch ist Gott sich selber treu: Deshalb kann und muß ein jeder neuer Offenbarungsanspruch in christlicher Sicht an der in den heiligen Schriften Israels und der Kirche bezeugten Offenbarung gemessen und geprüft werden. Das ist die immer neue Geisterunterscheidung, wie sie das Neue Testament selber (und schon das Alte Testament) fordert. Ihre christlich-theologische Norm ist der Christus Rekapitulator, Christus, in dem Gott alle Dinge rekapituliert, zusammenfaßt.

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LeerIch beschließe diesen zweiten Teil mit einer zusammenfassenden Aussage: An unserem heutigen als plurikulturell, multireligiös zu benennenden Standort mit seiner kolossalen Herausforderung an die, wie ich sie genannt habe, therapeutische und integrative Kraft der Religionen ist das Christentum selber auf dies -seinem wahren Selbstverständnis entsprechende Wesen - angesprochen. Es ist sozusagen ganz neu auf Gott, auf Christus, auf den Heiligen Geist geworfen und damit auf das (auf den) geworfen, was (resp. der) das Christentum von jeglichem auf sich selbst zentrierten Absolutheitsanspruch frei macht und eben dadurch Gott - dem offenbaren und zugleich unverfügbaren Gott - selber Raum gibt. So wird das Christentum frei dafür, Gott da zu erkennen, wo er - auch außerhalb des namhaften Christentums - am Werk ist und sich offenbart. Es wird also frei für den Offenbarungsanspruch anderer Religionen, und es erprobt dieselben, unter der Norm des Dreieinen Gottes oder des Christus Rekapitulator, auf ihre Wahrheit. Die Frage nach der Beziehung zwischen der besonderen Offenbarung Gottes an Israel und in Jesus dem Christus und anderen Offenbarungen führt nicht zu einem - einmal christlichen, dann allgemeinen - Relativismus, sondern entspricht dem Wesen der christlichen Theologie der Rekapitulation: Dieselbe macht frei, offen, gerade für diese Frage und stellt sie in letzter Radikalität. Alle Dinge - und somit auch die nicht-christlichen Religionen - werden von Christus rekapituliert.

LeerDer Unterschied nun zwischen Rekapitulation und Rekuperation (oder Vereinnahmung der nicht-christlichen Religionen durch die christliche) ist, daß das Subjekt der Rekapitulation Christus, Gott in Christus, nicht die christliche Theologie ist. Die christliche Theologie und somit das Christentum hat nicht diese Rekapitulation selber auszuführen (das wäre Rekuperation, und das ist Usurpation, ist somit Perversion des Christentums), sondern ihr zu dienen, sie zu bezeugen, ihr nachzuspüren, sie am Werk zu erkennen, dienend, nicht herrschend.

III. Zur konkreten Begegnung mit einer anderen, nicht-christlichen Religion

LeerDas, was eben zur theologischen Klärung der Wahrheitsfrage gesagt wurde, schließt nicht aus, sondern schließt ein, daß man der einzelnen Religion gerecht wird, daß man sich also ihrem Offenbarungsanspruch stellt. Wie geschieht das aber konkret, d.h., wie gibt man sich die Möglichkeit, sich der einzelnen Religion in ihrer Wahrheit zu stellen?

LeerEs läßt sich hierzu sagen, daß die christliche Theologie in ihrem Zugang zu den Religionen die verschiedenen Religionswissenschaften voraussetzt: sowohl die Religionsgeschichte, welche die Entstehung und das geschichtliche Werden der Religionen darstellt, als auch die vergleichende Religionswissenschaft, die die jeweiligen Lehren und Praktiken der einzelnen Religionen miteinander vergleicht, auch die Religionsphänomenologie, die den Sinn der Mythen und Riten der Religionen deutet: Sie stellt auch die wichtigsten religiösen »Typen« heraus und klärt ihren Sinn. Die Theologie selber bleibt nun aber nicht in der Distanz zu den Religionen stehen, sondern sie versucht, sich ihrem Sinn, d.h. ihrer Wahrheit auszusetzen. Sie fragt mit den Religionswissenschaften und über dieselben hinaus nach dem, was Gustav Mensching die Lebensmitte der Religionen nennt, was also in den einzelnen Religionen als wesentlich erkannt und gelebt wird. Sie fragt: 1. Was ist in der bestimmten Religion die Grunderfahrung, die dahintersteht und die alles trägt? 2. Welche Beziehung besteht zwischen dieser Grunderfahrung und unserer eigenen (menschlichen, geistlichen) Erfahrung? Anders gesagt: ist diese bestimmte Grunderfahrung bedeutsam für uns selbst? Und schließlich 3., aber eben erst zuletzt, die eigentlich theologische Frage, die Wahrheitsfrage, die Frage nach der Einschätzung der Wahrheit der Lebensmitte der einzelnen nicht-christlichen Religionen durch den christlichen Glauben, und zwar nicht rein theoretisch, sondern von der Erfahrung des Glaubens aus.

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LeerZunächst ist festzustellen, daß ein solches Verfahren sich radikal unterscheidet von dem in der Neuzeit dominierenden. Dasselbe ist einerseits dadurch gekennzeichnet, daß man von einem allgemeinen Religionsbegriff ausgeht, also das Wesen von Religion definiert mit der dann gleich erfolgenden Aussage: Die wahre Religion ist die christliche. Andererseits sieht man dann in den nicht-christlichen Religionen falsche Religionen, beruhend auf Aberglauben und dem Wahn der Selbsterlösung. Karl Barth war der letzte große Vertreter dieser Haltung. Sie wurde dann sehr schnell zugleich auf protestantischer als auch auf römisch-katholischer Seite als einseitig und der Wirklichkeit nicht gerecht werdend erkannt. Katholischerseits kann man einmal auf das Zweite Vatikanische Konzil, vor allem auf die Erklärung über die Beziehungen der Kirche mit den nicht-christlichen Religionen (Nostra aetate), dann auf Theologen wie Karl Rahner und heute an vorderster Front Hans Küng verweisen. Evangelischerseits sind Namen wie Horst Bürkle, Paul Tillich, Ulrich Schoen neben anderen zu nennen. Mit den drei oben genannten Fragen versuche ich die Dinge weiterzuführen.

LeerIch müßte nun eigentlich ein Beispiel anführen. Ich habe in meiner systematischen Arbeit versucht, entsprechend den drei genannten Fragen mich nacheinander den sogenannten primitiven oder Stammesreligionen, dann den indischen Religionen des Hinduismus und Buddhismus und schließlich einerseits dem Judentum, andererseits dem Islam zu nähern. Doch wäre es im Rahmen dieses Beitrags nicht ernsthaft, auch nur kurz auf eine dieser Religionen einzugehen.

LeerIch muß mich jetzt auf folgende grundsätzliche Bemerkungen beschränken. Ich überschreibe sie folgendermaßen: Zwischen Proselytismus und missionarischer Gleichgültigkeit das echte christliche Zeugnis. Ich runde damit das schon Ausgeführte über das Thema dieses Beitrags ab: »Das Christentum und die Religionen. Gedanken zu einer in der Zukunft bestimmenden religiösen Kultur«.


1. Unter Proselytismus versteht man den Bekehrungseifer in der Ausbreitung des Glaubens. Wir kennen das diesbezügliche Wort Jesu (Matthäus 23,15): »Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr Land und Meer durchzieht, damit ihr einen Judengenossen gewinnt; und wenn er's geworden ist, macht ihr aus ihm ein Kind der Hölle, zwiefältig mehr als ihr seid.« Dies Wort diskreditiert nicht die christliche Mission oder das christliche Zeugnis; es diskreditiert nur ein bestimmtes Verständnis von Mission oder Zeugnis. Das Neue Testament kann ohne abfälligen Beiton von »Proyselyten« sprechen; es bezeichnet damit die zum Judentum konvertierten Heiden (Apostelgeschichte 2,10; 6,5; 13,43).
LeerIn der heutigen Umgangssprache versteht man unter Proselytismus eine Art von religiösem Kundenfang. Wir wissen zur Genüge, daß es das gibt, bei manchen Sekten, auch wohl bei Missionswerken solcher Geisteshaltungen, welche materielle Vorteile in den Dienst geistlicher Zwecke stellen. Damit ist nichts gegen Entwicklungshilfe gesagt, damit wird aber kritisch das Verständnis derer hinterfragt, die sie als Mittel zu einem anderen Zweck mißbrauchen. Auf diese Weise interessierte Mission, also Interessenmission, ist Perversion der Mission. Doch hebt der Mißbrauch den rechten Gebrauch der Mission nicht auf.

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LeerEs ist aber von entscheidender Wichtigkeit, darum zu wissen, daß das missionarische Zeugnis als erstes Subjekt Gott selber hat, oder Christus, oder den Heiligen Geist, den Dreieinen Gott also. Die Kirche ist da in Wahrheit missionarisch, wo sie von ihm her lebt, für ihn lebt, wo die Mission ein Überfließen des geistlichen Lebens der Kirche ist. Mission ist mehr Sache der Ausstrahlung als des Tuns, oder sie ist Sache des Tuns als Überfließen des Seins. Das will nicht heißen, daß Mission ein Nicht-Tun ist. Aber das Tun will empfangen werden, Tag um Tag, im Gebet und im Arbeiten, entsprechend dem Ora et labora (Bete und arbeite), das der heilige Benedikt dem christlichen Abendland als Motto gegeben hat. In diesem Sinn ist die Mission, das christliche Zeugnis, ein Beten und Arbeiten.
2. Ich rede hier von missionarischer, nicht von religiöser Gleichgültigkeit oder Indifferenz. Missionarische Indifferenz kann es geben bei religiöser Interessiertheit. Die missionarische Gleichgültigkeit beruht einmal auf einem Mangel des Seins in Gott, also einem Mangel der religiösen Lebendigkeit, dann auf einer Demission angesichts des religiösen Pluralismus, der einen lähmt. So ist der missionarische Indifferentismus kein Zeichen der religiösen Stärke, sondern der religiösen Schwäche, es sei denn, es verbirgt sich hinter ihm eine Kritik des Proselytismus im Sinn des religiösen Kundenfangs. In diesem Fall kann hinter augenscheinlicher Gleichgültigkeit eine Haltung verborgen sein, die sich zubereiten läßt auf die Stunde des Ernstfalls.
3. Hier möchte ich ein Wort einbringen, das Wort Toleranz. Damit ist etwas ganz anderes bezeichnet als der missionarische Indifferentismus, selbst wenn letzterer sich zuweilen mit dem hohen Wort Toleranz schmücken mag.

LeerWahre Toleranz hat nichts mit Indifferenz zu tun, sondern mit Respekt, Ehrfurcht. Zunächst Respekt, Ehrfurcht vor Gott, der es regnen läßt über Gute und Böse, wie Jesus sagt (wobei wir nicht unbedingt wissen, wer die Bösen sind und wer die Guten), und in dessen Haus es viele Wohnungen gibt. Dann Respekt, Ehrfurcht vor dem Nächsten, der kein Bekehrungsobjekt, sondern ein Gesprächspartner ist. Dabei ist zu betonen, daß wahres Gespräch, echter Dialog eine Wahrheitssuche ist, eine Suche nach der Wahrheit des anderen, nach meiner Wahrheit, nach der Wahrheit Gottes, eine Suche nach der Wahrheit in Liebe, denn anders gibt es Wahrheit nicht, nach dem Wort aus Epheser 4,15: »Seid wahr -wahrhaftig - in der Liebe.« Diese Suche nach der Wahrheit lebt von der Suche der Wahrheit, von der Suche Gottes nach mir, nach uns, nach dem Wort, das Pascal Gott sagen läßt: »Du suchtest mich nicht, wenn du mich nicht schon gefunden hättest.« Diese Suche beinhaltet ein Zeugnis, doch ist dasselbe gegenseitig, denn wieso sollte ich das Monopol der Gottessuche haben? Wahre, tiefe Toleranz setzt das Bewußtsein voraus, daß die Mission die Sache Gottes selber ist und daß die Wahrheit ohne Liebe ein Fanatismus und die Liebe ohne Wahrheit ein Konformismus ist, ein sich Gleichstellen mit jedermann. Der Fanatismus aber ist zerstörerisch-dämonisch, und der Konformismus ist salzlos, unfruchtbar.

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Schluß

LeerUnser Thema war: »Das Christentum und die Religionen. Gedanken zu einer in der Zukunft bestimmenden religiösen Kultur«. In einem ersten Teil haben wir uns die heutige Lage bewußt gemacht, die ich mit dem Stichwort »pluri-religiöse Gesellschaft« zusammenfasse. Er führte zu der Forderung nach einer religiösen - inter-religiösen - Kultur auf der Schulebene und somit im gesellschaftlichen Leben. Der zweite Teil befaßte sich mit der religiösen Wahrheitsfrage. Hier wurde daran erinnert, daß eine jede Religion beansprucht, auf einer Offenbarung zu beruhen, und daß dieser Anspruch, christlich gesehen, von Christus her als dem Rekapitulator, in dem Gott allen Dingen ihr Haupt gibt, erprobt werden soll und darf. Im letzten, dritten Teil ging es dann konkret um die Begegnung (oder Konfrontation) mit nichtchristlichen und somit anderen Religionen. Die Aussage gipfelte im Motto: Zwischen Proselytismus und missionarischem Indifferentismus, das echte christliche Zeugnis im Geiste der göttlichen Toleranz, das heißt der Gottessuche.

LeerDem ist nun abschließend noch dies hinzuzufügen: Die verschiedenen nichtchristlichen Religionen sind Religionen für Menschen. Das bedeutet, daß sie von Menschen gelebt werden und daß sie infolgedessen Ausdrucksweisen des Menschen sind. Diese Ausdrucksweisen können Zeichen der Perversion des Menschen sein - wo man zum Beispiel im Namen der Religion Menschen unterdrückt oder gar tötet. Aber immer drücken sie Potentialitäten des Menschen aus. Gewiß verwirklicht nicht jeder die Möglichkeiten, die im Menschen schlummern; aber insofern sie in ihm schlummern (sie mögen gut oder böse sein), gehören sie zu seinem Menschsein: dieses kann sich im Menschen nur auf die Tatsache aufbauen, daß er seine Möglichkeiten erkennt und in diesem Sinn sein ihm gegebenes Menschsein annimmt. Nur so kann er mit diesem arbeiten, auf es einwirken oder ihm entgegenwirken. Annehmen heißt hier nicht legitimieren, sondern entgegennehmen und das übernehmen, was sich sozusagen als Ausgangsmaterial anbietet. Dieses kann nur dann in Christus rekapituliert werden, wenn es angenommen worden ist. Hier gilt die Bemerkung Grundtvigs: »Erst Mensch, dann Christ«. Es kann nur in einem Menschen einen Christen geben. Der Christ kann sich nur auf dem Material aufbauen, das der betreffende Mensch darstellt.

LeerDie nicht-christlichen Religionen beschreiben in ihrer Weise den inneren Raum des Menschen: was in uns allen als Möglichkeit wohnt. Die nicht-christlichen Religionen helfen, diesen inneren Raum zu erforschen, und die christliche Religion, der Glaube an Christus, hat die Fähigkeit, ihn zu rekapitulieren.

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Anmerkungen:

* Vortrag gehalten am 18. März 1994 im Haus der Begegnung der Dreifaltigkeitskirche zu Ulm.
1. Ich beziehe mich im folgenden auf schon erschienene Arbeiten: Offenbarung und Religionen. In: Gottes Zukunft - Zukunft der Welt (Festschrift für Jürgen Moltmann), Chr. Kaiser Verlag, München, 1986, S. 528ff.; Offenbarung und Religionen. Paul Tillichs Beitrag zum interreligiösen Dialog. In: Protokolldienst 23/92, Evang. Akademie Bad Boll, S. 59ff. (Jahrestagung der deutschen Paul Tillich Gesellschaft, 1.-3. Mai 1992); vor allem Dogmatique pour la catholicité évangelique. Labor et Fides/Genf und Cerf/Paris, 1986 ff, Band 1/2: Réalité et révélation, S. 108 ff.
2. Siehe hierzu meinen Artikel: Le problème christologique dans les rapports entre l'Eglise chrétienne et le judaisme d'une part, l'islam d'autre part: un obstacle ou un pont? In FOI ET VIE, 1991/6, S. 23ff.
3. Siehe den weiteren Artikel: Pourquoi et comment la foi chrétienne est-elle concernée par les autres religions? In: FOI ET VIE. 1989/1, S. 21ff.
4. Paul Tillich: Die Idee der Offenbarung. In Gesammelte Werke. VIU. Berlin, S. 37.

Quatember 1994, S. 135-148

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-23
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