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von Gérard Siegwalt |
Gedanken zu einer in der Zukunft bestimmenden religiösen Kultur * Es ist zweifellos eine der ganz großen heute dem Christentum, aber darüber hinaus der menschlichen Gesellschaft gestellten Fragen, die mit dem angegebenen Thema vor uns steht. Wenn andere als gleichwichtig erscheinende Fragen genannt werden sollten, könnte man folgende aufzählen:
Hier zunächst der Gang der Gedankenführung folgender Überlegungen. In einem ersten Teil wollen wir uns kurz die Lage vergegenwärtigen, wie sie mit dem Ausdruck »pluri-kulturelle und pluri-religiöse Gesellschaft« umschrieben wird. Im zweiten Teil geht es um das Ernstnehmen der Erkenntnis, daß Religion es mit Wahrheit zu tun hat und daß jede Religion mit einem Wahrheitsanspruch auftritt und mit diesem Anspruch steht und fällt. Der dritte, letzte Teil befaßt sich dann mit der Frage: Wie werden wir, vom Christentum ausgehend, konkret einer nichtchristlichen Religion gerecht? Wir können heute nicht umhin, davon auszugehen, daß eine Konfrontation zwischen dem Christentum und nicht-christlichen, also anderen Religionen unvermeidlich ist (1). Letztere sind überall gegenwärtig, nicht mehr nur in den früheren »Missionsgebieten«, weit vom früher christlich genannten Abendland entfernt, sondern mitten in diesem selbst. Es ist zum Missionsgebiet für die indischen Religionen und den Islam geworden. Die sogenannten primitiven Religionen Afrikas und Ozeaniens sind zwar selbst nicht missionarisch zu nennen, aber wenn sie nach dem Christentum die Anziehungskraft der anderen »großen« Religionen erfahren, werden sie sich ihrer eigenen »positiven Werte« besser bewußt, nachdem sie die Fehler der westlichen Zivilisation und eines nach ihrem Bilde beschaffenen Christentums festgestellt haben. Sogar von den primitiven Religionen ergeht eine Anfrage an den christlichen Glauben, eben weil solche »Werte« der christlichen Offenbarung näher zu sein scheinen als manche Früchte, die der Baum des historischen Christentums gebracht hat, oder weil sie ihm zumindest gleichförmig zu sein scheinen. Das gleiche gilt von den sog. »großen« Religionen, deren schlagende Wirkung nicht nur die Krise des Christentums, sondern auch ihr eigenes »geistliches Gewicht« bezeugen. Des weiteren gilt, daß infolge seiner historischen Bindung an die westliche Zivilisation das Christentum selbst durch die Krise ihrer Grundlagen erschüttert wird. Sein Fragen nach der eigenen Wahrheit, nach dem wahren Sinn der Offenbarung, die es begründet, erfolgt unter den Schlägen der Krise, die es geistlich erschüttert, und zugleich in der Konfrontation mit den anderen Religionen und den Fragen, die diese ihm durch ihr Wesen und Wirken stellen. Man kennt den missionarischen Schwung, der das Christentum in den Jahrhunderten der Eroberung des Mittelmeerraumes beseelt hat, von den Missionsreisen des Apostels Paulus bis zur Christianisierung der fernen Grenzgebiete des Römischen Reiches und der eroberungslüsternen »Barbaren«, die, nachdem sie das Reich in die Knie gezwungen hatten, durch die Kirche die Taufe als Zeichen der Botmäßigkeit gegenüber dem Christentum empfingen, und dann bis zur Neuzeit im Zug der Entdeckung und Kolonialisierung neuer Landstriche. Der Missionsbefehl, den der auferstandene Christus laut Matthäus 28,18ff. seiner Kirche gegeben hat, bleibt bestehen. Aber was bedeutet dieser Befehl in der gegenwärtigen Situation der Kirche, die die Anfechtung des Glaubens kennt? Das ist die Frage. Man kann ihr nicht ausweichen. Das heißt: die Kirche kann der Notwendigkeit nicht ausweichen, einen neuen Blick auf die nicht-christlichen Religionen zu werfen, weil sie einen neuen Blick auf das werfen muß, was sie selbst konstituiert und was in der Krise des historischen Christentums auseinanderfällt. Und indem es auseinanderfällt, ruft es sich zugleich in die Erinnerung zurück. Damit haben wir nur generell die Lage geschildert und die mit ihr gegebene Herausforderung an das Christentum. Wir müssen nun die Dinge noch etwas präziser benennen.
Um, als Abschluß dieses ersten Teiles zur Lage, die Dinge recht eigentlich auf den springenden Punkt zu bringen und um zugleich schon etwas Grundsätzliches zu sagen im Sinn des Untertitels zum Thema »Das Christentum und die Religionen« - »Gedanken zu einer in der Zukunft bestimmenden religiösen Kultur« -, ein kurzes Wort zur religiösen Kultur in der Erziehung, und das heißt auch in der Schule. Ich sage die Dinge vom französischen Hintergrund her, wo der Laizismus der Schule, dort wo er die herrschende Ideologie ist (was nur streckenweise der Fall ist) sich unfähig erweist, den sogenannten »foulard islamique«, also die von der Religion vorgeschriebene Kopfbedeckung der Mädchen und Frauen zu integrieren. Es wirft dies die Frage auf des Platzes der Religionen in den Schulen. Offiziell gibt es einen solchen Platz (außer in Elsaß und Lothringen) nicht. Religion ist eben (offiziell) Privatsache. Das führt aber zu einer doppelten Konsequenz. Einmal liefert die Schule keinen eigentlichen Beitrag zum Verständnis der religiösen Wurzeln der westlichen und auch französischen Kultur. Wie soll man aber die Geschichte, die Kunst, die Literatur usw. verstehen ohne das judenchristliche und teilweise auch ohne das islamische Erbe? Die Defizienz der religiösen Kultur in der französischen Gesellschaft, die auf der diesbezüglichen Defizienz der Schule beruht, dringt mehr und mehr ins öffentliche Bewußtsein ein und verlangt dringend nach Abhilfe, wenn einer kollektiven Bewußtseinsschrumpfung und somit einem gesellschaftlichen Verdummungsprozeß entgegengewirkt werden soll. Vielleicht ist die Lage in Deutschland in manchem ähnlich. Dann trägt die Schule durch das Fehlen eines Unterrichts in religiöser Kultur nicht zur Integration in die französische Gesellschaft der Zuwanderer - vornehmlich aus islamischen Ländern - und nicht zur gegenseitigen Kenntnis und Respektierung der verschiedenen Religionen bei. Wenn wir um die heute mancherorts grassierende, verheerende Religionskrankheit des Fanatismus mit ihren sozialen und politischen Auswirkungen wissen, gegen die keine Religion immun ist, erkennen wir die Verantwortungslosigkeit einer Gesellschaft, die die Religion ins Abseits verdrängt und damit direkt neurotisch ist und handelt. II. Zur theologischen Klärung der Wahrheitsfrage Wir sprachen schon von der je und je möglichen Perversion von Religion, von jeglicher Religion. Sie zeigt sich im Machtdenken; dasselbe erweist sich nicht nur da, wo die Religion mit Machtansprüchen innerhalb der menschlichen Gesellschaft auftritt, sondern auch da, wo sich eine Religion gegenüber einer anderen oder gegenüber den anderen als überlegen ansieht. Die Ablehnung des Überlegenheitsdenkens bedeutet nicht eine Verwischung der Unterschiede zwischen dem Christentum und den anderen Religionen; sie bedeutet auch nicht einen religiösen Relativismus, wonach es gleichgültig ist, welcher bestimmten Religion man angehört. Zwischen dem schon erwähnten Absolutismus der Religion, die ein blinder Fanatismus ist, und dem Relativismus, welcher die einzelne Religion zugunsten einer vagen Religiosität preisgibt, ist die Religion, d.h. sind die einzelnen Religionen in ihrer jeweiligen Wahrheit situiert. Was ist dann die Wahrheit der einzelnen Religion? Es läßt sich antworten: Es ist ihr Offenbarungscharakter. Aber diese Antwort, so unaufgebbar sie ist, genügt doch nicht. Denn der Offenbarungscharakter erweist sich nicht an seinem Anspruch, also am Anspruch der einzelnen Religion, auf Offenbarung zu beruhen (das kann, wie deutlich wurde, zu Machtanspruch führen), sondern an seiner konstruktiven, das heißt an seiner (wie schon gesagt) therapeutischen (heilenden) und integrativen (verbindenden) Frucht. Es geht dabei um ein Heilen in Wahrheit - also zutiefst um Heil, um Erneuerung der Person - und um ein Verbinden in Wahrheit, also um ein gemeinsames Offenwerden für das Letzte in allem Vorletzten, für das Unbedingte in allem Bedingten. Offenbarung ist somit kein Formal-, sondern ein Materialbegriff. Es ist damit gesagt, daß nicht der Offenbarungsanspruch die jeweilige Religion zur Religion macht, sondern der Erweis ihres Offenbarungscharakters, das heißt die Tatsache, daß dieselbe Religion an ihren (therapeutischen und integrativen) Früchten als Offenbarungsreligion erkennbar wird. Wie soll das aber erkennbar werden? Antwort: Die Wahrheit der Religionen, die auf ihrem Offenbarungsfundament beruht, kann nur erprobt werden. Denn es ist nicht möglich, von außen her einen Zugang zu den Religionen zu haben. Es ist nur von innen her möglich, indem man an ihrer Wahrheit Anteil nimmt, sie also erprobt. Man kann theologisch nur von den Religionen reden, indem man sich ihrer Wahrheit ausliefert. Ist das aber möglich? Die Frage hat zwei Aspekte; je nachdem diese Öffnung gegenüber einer anderen Religion den christlichen Glauben oder eine andere Religion betrifft. Im letzteren Fall interessiert uns ihre Öffnung gegenüber dem christlichen Glauben. Will man andererseits wissen, ob diese oder jene andere Religion dem christlichen Glauben gegenüber aufgeschlossen ist, so müssen verschiedene Fälle unterschieden werden: der Fall einer totalitären und sektiererischen Religion, die einen ideologischen Kampf führt um die eifersüchtige Wahrung eines Territoriums, das sie allein beherrscht, oder um die Eroberung neuer Lebensräume, ja sogar der ganzen Welt; und dann der Fall einer Religion, die ganz anders geartet ist als die christliche Religion und ihr völlig gleichgültig gegenübersteht; und endlich der Fall einer Religion, die selbst die Wahrheit der anderen Religionen in sich aufnimmt und somit integriert. Eine solche Öffnung und Integrationsfahigkeit setzt de facto voraus, daß die Wahrheit der anderen Religion schon immer, wenigstens potentiell, in der betreffenden Religion selbst gegenwärtig ist. Wie kann das sein? Für den christlichen Glauben ist die Antwort im Verständnis des Glaubens an den rekapitulierenden Christus inbegriffen: Die Rekapitulation aller Dinge in Christus schließt jeden Irrtum aus, aber sie schließt auch die ganze Wahrheit ein. Das gilt auch in bezug auf die nicht-christlichen Religionen. Der Exklusivanspruch - im Sinne des Exklusivismus, der etwas anderes ist als das, was mit dem Wort »Exklusivität« besagt ist (siehe etwas weiter unten) - ist nicht christlich: Das Christentum ist seiner Wahrheit entsprechend kein Fanatismus und kann es nicht sein, weil die besondere Offenbarung Gottes an Israel und in Jesus Christus immer auf »alle Dinge« bezogen wird, die ihr vorangehen und die sie zugleich voraussetzen, denn der Gott der besonderen Offenbarung ist der Gott der Schöpfung. Der schlichte Inklusivismus ist ebensowenig christlich, weil er nicht zwischen Wahrheit und Irrtum unterscheidet. Der christliche Glaube ist in seiner Wahrheit zugleich exklusiv (er schließt den Irrtum der Religionen aus) und inklusiv (er schließt die Wahrheit der Religionen ein). Die so verstandene Rekapitulation muß bei der Konfrontation zwischen christlichem Glauben und den anderen Religionen im einzelnen dann angewandt werden. Wird nun die Frage angesichts einer nicht-christlichen Religion gestellt, die von dem Willen geprägt ist, alles in sich zu integrieren, was anderswo vorhanden ist, so kann die gestellte Frage nur eine Antwort finden, nachdem wir die Wahrheit dieser Religion erkannt haben. Dieses Vorverständnis genügt jedoch nicht, um die Offenbarung dieser oder jener Religion als solche erfahrbar zu machen. Dieses Vorverständnis bestätigt nur die conditio sine qua non, unter der in der Konfrontation zwischen verschiedenen Religionen die jeweils andere Religion ihrem eigenen Anspruch gemäß anerkannt wird, daß es sich nämlich hier um eine wahre Offenbarung handelt oder zumindest handeln kann. Dann muß sich jedoch die Qualität der Offenbarung und also die Wahrheit dieser Religion auch als wahr erweisen. Denn »Offenbarung ist nur, sofern sie uns angeht, auf uns zugeht. Und das kann sie nur in konkreter Form. ‘Offenbarung überhaupt’ ist keine Offenbarung. Nur in dieser ganz konkreten Form kann ich Offenbarung erfahren.«(4) Offenbarung und Konkretisierung gehören zueinander. Eine Offenbarung ist immer konkret, wird immer konkret erfahren, sowohl da, wo sie zum ersten Mal als grundlegende Offenbarung einer Religion geschieht, als auch da, wo sie für mich, für uns aktualisiert wird und ihre Qualität als Offenbarung über das grundlegende Ereignis hinaus in ihrer potentiell permanenten, ewigen Aktualität erweist. Es gibt theoretisch zwei Erklärungen, die über die Religionen und ihr Offenbarungsfundament Rechenschaft geben: Entweder sind sie in ihrer Verschiedenheit besondere Konkretisierungen dessen, was man als Uroffenbarung bezeichnen kann, oder sie sind spezielle Offenbarungen. In letzterem Fall muß gefragt werden, welchen Gott sie offenbaren und welchen Stellenwert dieser Gott dem Christentum gegenüber hat. Hierbei stellt sich die Frage nach der Fortführung oder Kontinuität der Offenbarung. Diese Frage wird zuerst durch den Islam gestellt, nicht als Frage von seiner Sicht aus, sondern als Aussage (der Islam will ja die Fortsetzung und auch Verbesserung der jüdisch-christlichen Tradition sein). Dann wird sie - auch als Aussage - von anderen nach-christlichen Religionsformen gemacht (z.B. die Mormonen, der Bahaismus, und bis in die Religiosität des New Age hinein). Diese Frage ist als Frage unausweichlich und legitim. Die christliche Aussage von der Erfüllung der Offenbarung in Jesus dem Christus hebt die Gewißheit nicht auf, sondern etabliert sie recht eigentlich, daß Gott in Christus durch den heiligen Geist lebendig und in alle Ewigkeit, und das heißt zunächst in der Zeit wirksam ist. Doch ist Gott sich selber treu: Deshalb kann und muß ein jeder neuer Offenbarungsanspruch in christlicher Sicht an der in den heiligen Schriften Israels und der Kirche bezeugten Offenbarung gemessen und geprüft werden. Das ist die immer neue Geisterunterscheidung, wie sie das Neue Testament selber (und schon das Alte Testament) fordert. Ihre christlich-theologische Norm ist der Christus Rekapitulator, Christus, in dem Gott alle Dinge rekapituliert, zusammenfaßt. Der Unterschied nun zwischen Rekapitulation und Rekuperation (oder Vereinnahmung der nicht-christlichen Religionen durch die christliche) ist, daß das Subjekt der Rekapitulation Christus, Gott in Christus, nicht die christliche Theologie ist. Die christliche Theologie und somit das Christentum hat nicht diese Rekapitulation selber auszuführen (das wäre Rekuperation, und das ist Usurpation, ist somit Perversion des Christentums), sondern ihr zu dienen, sie zu bezeugen, ihr nachzuspüren, sie am Werk zu erkennen, dienend, nicht herrschend. III. Zur konkreten Begegnung mit einer anderen, nicht-christlichen Religion Das, was eben zur theologischen Klärung der Wahrheitsfrage gesagt wurde, schließt nicht aus, sondern schließt ein, daß man der einzelnen Religion gerecht wird, daß man sich also ihrem Offenbarungsanspruch stellt. Wie geschieht das aber konkret, d.h., wie gibt man sich die Möglichkeit, sich der einzelnen Religion in ihrer Wahrheit zu stellen? Es läßt sich hierzu sagen, daß die christliche Theologie in ihrem Zugang zu den Religionen die verschiedenen Religionswissenschaften voraussetzt: sowohl die Religionsgeschichte, welche die Entstehung und das geschichtliche Werden der Religionen darstellt, als auch die vergleichende Religionswissenschaft, die die jeweiligen Lehren und Praktiken der einzelnen Religionen miteinander vergleicht, auch die Religionsphänomenologie, die den Sinn der Mythen und Riten der Religionen deutet: Sie stellt auch die wichtigsten religiösen »Typen« heraus und klärt ihren Sinn. Die Theologie selber bleibt nun aber nicht in der Distanz zu den Religionen stehen, sondern sie versucht, sich ihrem Sinn, d.h. ihrer Wahrheit auszusetzen. Sie fragt mit den Religionswissenschaften und über dieselben hinaus nach dem, was Gustav Mensching die Lebensmitte der Religionen nennt, was also in den einzelnen Religionen als wesentlich erkannt und gelebt wird. Sie fragt: 1. Was ist in der bestimmten Religion die Grunderfahrung, die dahintersteht und die alles trägt? 2. Welche Beziehung besteht zwischen dieser Grunderfahrung und unserer eigenen (menschlichen, geistlichen) Erfahrung? Anders gesagt: ist diese bestimmte Grunderfahrung bedeutsam für uns selbst? Und schließlich 3., aber eben erst zuletzt, die eigentlich theologische Frage, die Wahrheitsfrage, die Frage nach der Einschätzung der Wahrheit der Lebensmitte der einzelnen nicht-christlichen Religionen durch den christlichen Glauben, und zwar nicht rein theoretisch, sondern von der Erfahrung des Glaubens aus. Ich müßte nun eigentlich ein Beispiel anführen. Ich habe in meiner systematischen Arbeit versucht, entsprechend den drei genannten Fragen mich nacheinander den sogenannten primitiven oder Stammesreligionen, dann den indischen Religionen des Hinduismus und Buddhismus und schließlich einerseits dem Judentum, andererseits dem Islam zu nähern. Doch wäre es im Rahmen dieses Beitrags nicht ernsthaft, auch nur kurz auf eine dieser Religionen einzugehen. Ich muß mich jetzt auf folgende grundsätzliche Bemerkungen beschränken. Ich überschreibe sie folgendermaßen: Zwischen Proselytismus und missionarischer Gleichgültigkeit das echte christliche Zeugnis. Ich runde damit das schon Ausgeführte über das Thema dieses Beitrags ab: »Das Christentum und die Religionen. Gedanken zu einer in der Zukunft bestimmenden religiösen Kultur«.
Unser Thema war: »Das Christentum und die Religionen. Gedanken zu einer in der Zukunft bestimmenden religiösen Kultur«. In einem ersten Teil haben wir uns die heutige Lage bewußt gemacht, die ich mit dem Stichwort »pluri-religiöse Gesellschaft« zusammenfasse. Er führte zu der Forderung nach einer religiösen - inter-religiösen - Kultur auf der Schulebene und somit im gesellschaftlichen Leben. Der zweite Teil befaßte sich mit der religiösen Wahrheitsfrage. Hier wurde daran erinnert, daß eine jede Religion beansprucht, auf einer Offenbarung zu beruhen, und daß dieser Anspruch, christlich gesehen, von Christus her als dem Rekapitulator, in dem Gott allen Dingen ihr Haupt gibt, erprobt werden soll und darf. Im letzten, dritten Teil ging es dann konkret um die Begegnung (oder Konfrontation) mit nichtchristlichen und somit anderen Religionen. Die Aussage gipfelte im Motto: Zwischen Proselytismus und missionarischem Indifferentismus, das echte christliche Zeugnis im Geiste der göttlichen Toleranz, das heißt der Gottessuche. Dem ist nun abschließend noch dies hinzuzufügen: Die verschiedenen nichtchristlichen Religionen sind Religionen für Menschen. Das bedeutet, daß sie von Menschen gelebt werden und daß sie infolgedessen Ausdrucksweisen des Menschen sind. Diese Ausdrucksweisen können Zeichen der Perversion des Menschen sein - wo man zum Beispiel im Namen der Religion Menschen unterdrückt oder gar tötet. Aber immer drücken sie Potentialitäten des Menschen aus. Gewiß verwirklicht nicht jeder die Möglichkeiten, die im Menschen schlummern; aber insofern sie in ihm schlummern (sie mögen gut oder böse sein), gehören sie zu seinem Menschsein: dieses kann sich im Menschen nur auf die Tatsache aufbauen, daß er seine Möglichkeiten erkennt und in diesem Sinn sein ihm gegebenes Menschsein annimmt. Nur so kann er mit diesem arbeiten, auf es einwirken oder ihm entgegenwirken. Annehmen heißt hier nicht legitimieren, sondern entgegennehmen und das übernehmen, was sich sozusagen als Ausgangsmaterial anbietet. Dieses kann nur dann in Christus rekapituliert werden, wenn es angenommen worden ist. Hier gilt die Bemerkung Grundtvigs: »Erst Mensch, dann Christ«. Es kann nur in einem Menschen einen Christen geben. Der Christ kann sich nur auf dem Material aufbauen, das der betreffende Mensch darstellt. Die nicht-christlichen Religionen beschreiben in ihrer Weise den inneren Raum des Menschen: was in uns allen als Möglichkeit wohnt. Die nicht-christlichen Religionen helfen, diesen inneren Raum zu erforschen, und die christliche Religion, der Glaube an Christus, hat die Fähigkeit, ihn zu rekapitulieren.
Quatember 1994, S. 135-148 |
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