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Ein Leben in der »Nachfolge des armen Jesus«
von Kurt Abel

LeerMeine Erinnerung an Gerhard Tersteegen will keine kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk sein, sondern sie ist eher eine Liebeserklärung an einen verehrten Lehrer.

LeerAuf dem Übungsweg der Meditation habe ich ihn als Lehrer kennengelernt. Ich habe bei ihm gelernt, daß uns Gottes Gegenwart auffordert, alles in uns schweigen zu lassen, und daß ich dazu einen Weg der Übung nötig habe. Die Schweigemeditation kann ein solcher Übungsweg sein.

LeerGerhard Tersteegen wurde am 25.11.1697 in Moers geboren, und er starb am 3.4.1769 in Mülheim an der Ruhr. Geburtsort und Sterbeort liegen noch keine 30 Kilometer auseinander. Er ist zeitlebens dem Niederrhein (Moers) und dem bergischen Land (Mülheim) verbunden geblieben. Aber sein Wirken ging weit über diesen Mittelpunkt hinaus, etwa in das pietistische Fürstenhaus nach Berleburg, nach Potsdam zu König Friedrich dem II., in die Niederlande zu Peter Poiret und vielen anderen oder nach Frankreich zu Madame Guyon. Es geht ihm und seinen Freunden um einen Weg innerer Erfahrung. Sein Einfluß ist in der gesamten mystischen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und bis in unsere Zeit spürbar. Seine Sprachkenntnisse befähigten ihn zu solch umfangreicher Wirkung, beherrschte er doch seit seiner Schulzeit in Moers Hebräisch und Griechisch. Er sprach und schrieb Französisch, Lateinisch und Niederländisch. Kein Wunder, daß die Stadtväter von Moers seiner Mutter rieten (sein Vater war schon lange gestorben), den Jungen studieren zu lassen.

LeerAus finanziellen Gründen war dies nicht möglich. Der Junge sollte Kaufmann werden. Er wurde zu einem Onkel nach Mülheim in die Lehre gesteckt. Mülheim blieb von nun an seine Heimat. In der Lehre hat ihn sein Onkel ziemlich bedrückt. So mußte er, Wenn nicht so viel zu tun war, leere Fässer über den Hof rollen, damit er nicht auf dumme Gedanken käme. (Er war mit einem frommen Kaufmann bekannt geworden, und nun versuchte er seine freien Stunden mit frommen Betrachtungen und Studien auszufüllen). Nach seiner Lehre begann er selbst als Kaufmann zu arbeiten. Aber der Verkehr mit vielen Menschen brachte ihm zu viel Unruhe. Er lernte das Weben und arbeitete schließlich als Bandweber. In dieser Zeit führte er nach seiner Bekehrung (einer Vision im Wald auf dem Weg von Mülheim nach Duisburg) ein streng asketisches Leben. Die sogenannte Alte Lebensbeschreibung erzählt: »Von morgens früh um fünf Uhr bis neun Uhr abends wirkte er; dann aber, wenn er nicht mehr gesehen werden konnte, ging er in die Häuser der Armen, um ihnen mitzuteilen, was er sich selbst abgebrochen hatte. Wegen dieses Wandels in der Nachfolge des armen Lebens Jesu, wurde er seinen Verwandten so verächtlich, daß sie auch seinen Namen nicht nennen mochten.«

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LeerDieser »Wandel in der Nachfolge des armen Lebens Jesu« ist vielen Biographen unwichtig. Sie erwähnen es kaum, obwohl diese Haltung sein ganzes Leben durchzieht. Als er nicht mehr arbeiten konnte, nahm er schließlich die Angebote seiner Freunde an, ihn zu unterstützen. So besserten sich seine materiellen Verhältnisse. Diese Unterstützung war notwendig, denn er wurde immer kränklicher, und die Reisen, um die ihn seine Freunde baten, zehrten an seinen Kräften. Aber auch jetzt wird in seinem Haus nicht nur für ihn und seinen Freund und Mitarbeiter Heinrich Sommer gekocht. Seine Haushälterin, Jungfer Emschermann, muß auch für Arme und Kranke mitkochen.

LeerAls er nicht mehr weben kann, stellt er für die Armen kostenlos Arzneien her: »Wie sollen sie die bezahlen, sie haben ja kaum Geld für Brot«. Im Siebenjährigen Krieg, als der Niederrhein und das bergische Land zum Schlachtfeld zu werden drohen, bekommt er eine Einladung seiner holländischen Freunde zur Flucht und zu einem Leben in Sicherheit und Ruhe. Er folgt ihr nicht, sondern schreibt seinen Freunden: »In der Gemeinschaft, in der ich stehe, würde ich andere betrüben, weil nicht alle flüchten können.« Man versteht Tersteegen besser, wenn man weiß, daß seine Aussagen auf den Erfahrungen ungesicherten Lebens beruhen.

LeerNatürlich wurde er vielfach angegriffen. Ein Teil der orthodoxen reformierten Geistlichkeit sucht ihn in den ersten Jahren seines Wirkens bei der Regierung in Düsseldorf anzuschwärzen, er halte verbotene Versammlungen.

LeerDie in Mülheim herrschende Kurpfälzische Obrigkeit führte daraufhin das Verbot aller Versammlungen mehrere Jahre lang rigoros durch. Als die preußische Obrigkeit später nicht mehr einschreitet, normalisiert sich die Beziehung zur örtlichen Kirchengemeinde. Am Ende seines Lebens zählen Mülheimer Pastoren zu seinen Freunden und Schülern.

LeerSeine Zeitgenossen kannten ihn als mitreißenden Prediger. Zeitweise waren acht Schreiber dabei, seine Predigten mitzuschreiben. Seine zahlreichen Briefe geben Zeugnis von seiner Gabe als Seelsorger. Seine Gründung einer kleinen Kommunität in der Otterbeck bei Heiligenhaus macht sein Ziel deutlich, die Einheit von Glauben und Leben sichtbar zu machen.

LeerTersteegen wirkte zu Lebzeiten nicht nur als Prediger und Seelsorger, sondern auch als Autor erbaulicher Schriften, Übersetzer mystischer Texte und als Dichter. Diese Texte werden bis in unser Jahrhundert immer wieder aufgelegt. In den Stammteil des neuen Evangelischen Gesangbuches sind elf seiner Lieder aufgenommen worden. Den meisten Menschen wird es wie mir gehen, wir lernten ihn über die Lieder unserer Gesangbücher und in unseren Gottesdiensten kennen.

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LeerSein Hauptwerk jedoch ist der Nachwelt verhältnismäßig unbekannt geblieben. Die dreibändige Ausgabe der Lebensbeschreibung Heiliger Seelen beschäftigte ihn fast 20 Jahre. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erfuhr sie drei Auflagen. Danach ist sie nicht mehr aufgelegt worden. Vor einigen Jahren ist eine Schreibmaschinennachschrift herausgekommen. Dieses Werk hat bei vielen seiner Biographen keinen rechten Anklang gefunden. Selbst bei seiner Beerdigung meinte sein Freund, Rektor Hasenkamp aus Duisburg, sich dafür entschuldigen zu müssen. Spätere Biographen halten diese 25 Lebensbeschreibungen für das »ungesundeste Werk« Tersteegens. Es handele sich um lauter Personen römisch-katholischer Religion, und fast alle seien romanischer Herkunft.

LeerTersteegen faßt dagegen seine Absicht in der Widmung so zusammen, daß er die Aufmerksamkeit des Lesers nicht so sehr auf die äußeren Lebensumstände richten möchte, sondern auf die inneren Führungen Gottes. Das Ziel ist die Verherrlichung Gottes und die Auferbauung der Gemeinde Jesu Christi. Der Leser soll die Möglichkeit des inwendigen Lebens kennenlernen. Er läßt sehr unterschiedliche Menschen zu Wort kommen.

LeerDie arme Dienstmagd Armelle Nicholas kommt genau so vor wie der reiche und mächtige Marquis de Renty. Der als Kriegskrüppel abgedankte Soldat und spätere Karmeliterbruder Lorenz erzählt ebenso seine Lebensgeschichte wie die Hl. Hildegard von Bingen oder Nikolaus von der Flüe. Sie alle werden von Tersteegen als Menschen auf einem Weg der inneren Erfahrung vorgestellt. Einem Weg, der gleichermaßen gangbar ist für Hoch und Niedrig, für den Einsiedler und für die Äbtissin, für den Politiker und für den Kriegsinvaliden, für den Professor und den Analphabeten, für Frau und Mann.

LeerEr nennt diesen Weg die »übung der liebreichen Gegenwart Gottes«. Für mich als Protestanten war es zunächst sehr fremd, geistliches Leben als Übung zu beschreiben. Im römisch-katholischen Umfeld dagegen, z.B. in den Exercitien des Hl. Ignatius, wurde es längst so beschrieben. Dann merkte ich, daß mir in dieser »übung der liebreichen Gegenwart Gottes« Erfahrungen aus der Schweigemeditation wiederbegegneten (und in der Schweigemeditation Erfahrungen aus der Übung Tersteegens). Ich hoffe sehr, daß dieser Weg geistlicher Erfahrung auch bei uns wieder geübt werden wird und Erfahrungen aus der Meditationsarbeit hier eingebracht werden können.

LeerEin Vers Tersteegens faßt für mich seine Erfahrungen zusammen:
Du mußt nicht gehen ein noch aus.
Die Quelle hast du selbst im Haus,
die dich kann ewig laben.
Ich laß dich fahren Kreatur!
In meinen Grund ich kehre nur,
da ich Gott selbst kann haben.
Quatember 1997, S. 15-18

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-21
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