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Kirche im Neuen Testament von Horst Folkers |
Gebirge und Ozean Auf jedes Wort bedacht Geistliche Lesung Berneuchener Tradition Das Wort der Schrift Wer die Bibel geistlich zu lesen beginnt, und das hat schon ein jeder getan, der nur einmal von ihr berührt wurde, der muß auf Überraschungen gefaßt sein. Denn sie sagt mehr und öfter auch anderes als der Gelehrteste sich träumen läßt, und der hochgelehrte Origenes hat gewiß recht erahnt, die Heilige Schrift sei wie ein »ungeheures Gebirge, ein unerschöpflicher Ozean verborgener Wahrheit«. Die Bibel ist nicht nur im Ganzen, sie ist auch im Kleinen und Einzelnen vollkommen. Trotzdem dürfen wir unverzagt anfangen, sie geistlich zu lesen, denn sie ist nicht für die Gelehrten geschrieben, wie wir von Jesus hören: »Ich preise dich Vater daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart« (Mt 11,25). Und daher können wir uns mit der Frage, wie wir denn nun die Schrift geistlich lesen können und sollen, sogleich an die Schrift selbst wenden und ihre Antwort hören. Lukas hat es uns wissen lassen, indem er uns die Art Mariens zu hören überliefert. Maria, den Bericht der Hirten vernehmend, verwunderte sich nicht nur gleich den anderen Zuhörern - was allein in sich schon der Anfang des rechten Hörens wäre -, sie tat ein weiteres, sie »behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen« (Lk 2,19). Und sie »behalten«, das ist dann die subjektive Seite oder jedenfalls ihr erstes Stück, das Menschliche der geistlichen Lesung. Etwas behalten - wenn wir etwas in die Hand nehmen, weil es uns gut gefällt und dann vom Eigentümer hören: Du darfst es behalten. Behalten, festhalten, aufbewahren, - conservare übersetzt die lateinische Bibel, verwahren wir einen Schatz, aber anders als einen Schatz nicht in der Truhe verschlossen, sondern von uns gehalten, in der Hand gehalten, im Gedächtnis behalten. Nun aber werden diese selben Worte von Maria nicht nur behalten, Maria »bewegte« sie vielmehr in ihrem Herzen. So lesen wir es jedenfalls in der heutigen Lutherbibel. Luther selbst war noch etwas beweglicher und bewegter als er schrieb »und beweget sie in ihrem Herzen«, dabei die Zeit wechselnd und ganz in Harmonie mit dem Urtext von der Vergangenheit in die Gegenwart übergehend. Im Herzen bewegen! Das Herz, das ist der Ort des Mutes und der Tapferkeit, des beherzten Entschlusses. Die im Herzen bewegten Worte geben nicht nur zu denken, sie geben zu tun, sie weisen uns, was wir tun können, dürfen, müssen. Im Herzen bewegt, das heißt in unser Leben eingesenkt, wir sind mit diesen Worten vertraut und sie, »alle« diese Worte!, mit uns. So hat es denn die geistliche Bibellesung nach Mariens Vorbild objektiv mit den Worten, mit der Welt der biblischen Worte zu tun, subjektiv aber mit unserm Denken und Handeln, mit dem Verstand, der sie behält, eines ums andere, wohlgeordnet und wiederauffindbar und mit dem Herzen, in dem sie zum Entschluß reifen. Luther, wahrhaft ein Meister des Lesens und Hörens auf die Schrift, greift in seinen Anleitungen zum rechten Schriftlesen auf die alte Tradition der lectio divina zurück, die er auf seine Weise erneuert. Fundamental geschieht dies, indem die Schrift, und zwar in allen Stellen, als Gesetz gelesen tötet, als Evangelium gelesen aber lebendig macht (2.Kor 3,6) durch die Gnade unseres Herrn Christus. Aber Luther überliefert uns auch das Vorbild des Königs David, der uns im 119. Psalm drei Regeln lehrt, die Schrift recht zu lesen. Mit ihm unterscheidet Luther die Stufen der Oratio (des Gebets), der Meditatio (der Aneignung) und der tentatio (der Versuchung). Das Gebet ist als erste Stufe nötig, damit wir uns nicht selbst klug dünken.»Erstens sollst du wissen, daß die heilige Schrift ein solches Buch ist, das die Weisheit aller anderen Bücher zur Narrheit macht, weil keines vom ewigen Leben lehrt als dieses allein. Darum sollst du an deinem Sinn und Verstand stracks verzagen.« Bete aber »zu Gott, daß er dir durch seinen lieben Sohn wolle seinen heiligen Geist geben, der dich erleuchte, leite und Verstand gebe«. Derart hat Luther mit feiner Dialektik zunächst den menschlichen Verstand abgetan, auf daß der Göttliche in uns sein Werk tun kann, eben der, durch den Maria »alle diese Worte« behielt. Auf der zweiten Stufe, der Meditation, sollst du »nicht allein im Herzen, sondern auch äußerlich die mündliche Rede und im Buch geschriebenen Worte immer treiben und reiben, lesen und wiederlesen, mit fleißigem Aufmerken und Nachdenken, was der heilige Geist damit meint«. Der Anfechtung aber bedarf es als dritter Stufe, damit das so Gelesene und Ergriffene sich auch in den Stürmen des Lebens bewähre, wir aus der Willkür, den Irrtümern und dem Scheitern unserer Pläne zur heiligen Schrift zurückgerufen werden, damit wir »auch erfahren, wie recht, wie wahrhaftig, wie süß, wie lieblich, wie mächtig, wie tröstlich Gottes Wort sei, Weisheit über alle Weisheit«. Mit der Betrachtung beginnt die geistliche Lesung, sie ist »das Bedenken und Erwägen des Textes unter der Frage, was ist hier für mich und mein Leben gesagt«. Aber die Betrachtung hat zum Ziel, auf die Zeichen der Gegenwart Gottes zu achten. Gott »umschließt zwar alle Fernen und durchdringt sie, aber er ist zugleich unendlich nahe, in allen Dingen im Kleinen und Geringsten gegenwärtig. Dieser unendlich nahe und gegenwärtige Gott tritt in der Offenbarung aus seiner Verborgenheit heraus, er enthüllt sich, er spricht zu uns.« In der Betrachtung öffnet sich der Beter »den Berichten des Evangeliums. Er verweilt in der Anschauung seiner Bilder und Gleichnisse. Alle Worte mit Offenbarungsgehalt werden in dieser Andacht aufgenommen, bis sich das innere des Beters damit erfüllt hat und gesättigt ist.« Die Meditation als zweite Stufe der geistlichen Lesung ist dann die »bewegende und Impulse schenkende Betrachtung«. Es geht in ihr darum, »die Worte und Bilder die uns bei der Betrachtung in ihrer Transparenz aufgegangen sind, der Seele so tief und unverlierbar einzuprägen, daß sie in uns zu einer wirkenden, formenden, bewegenden Macht werden«. In dieser Haltung ist es möglich, »vor dem Angesicht Gottes Entschlüsse zu fassen, ... als von Gott ergriffener, überwältigter, zu solchen Entschlüssen im Innersten befreiter Mensch«. Die Kontemplation schließlich ist »das Einswerden mit der Wahrheit, ihre vollkommene Bejahung im Akt der Liebe«. Die Kontemplation steht unter der Verheißung: » Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, wir wissen aber wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist« (1.Joh 3,2). »Über dem Schauen verwandelt sich der Mensch in das Geschaute. Das Erkennen hat verwandeInde Kraft. Die Seele schaut Christus, und je tiefer und reiner sie ihn erkennt, um so mehr wird sie verwandelt, wird sie Christus ähnlich.« In der Kontemplation geschieht »die anbetende Hinwendung zu dem Angesichte Gottes«, das uns Christen nicht anders als in der »Geschichte ...Christi...gegenwärtig« wird. Und bewegend ist es, zum Gott der Schöpfung, der »ansah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut « (Gen 1,31) sich umzuwenden und teilzuhaben »an diesem Schauen Gottes, diesem seinem Sich-wiedererkennen in seinem guten Werk« das ist Kontemplation. Wo im verbindlichen geistlichen Leben der Gegenwart die lectio divina wieder aufgenommen wird, kommt es gleichsam zu einer Neuentdeckung der Heiligen Schrift, wie uns Bianchi, Gründer der communità monastica die Bose, berichtet. Nach seiner Erfahrung ist die Heilige Schrift als Wort Gottes ein Same (Mt 13,19), etwas das Leben in sich birgt (Dtn 32,47) und zum »Baum des Gottesreiches heran wächst. Es keimt sowohl in der Geschichte wie im Leben eines jeden Menschen; es wächst und erfüllt alle Wirklichkeit mit neuer Gegenwart; es heiligt, weil es alle, die es aufnehmen, nährt und stärkt; es erleuchtet (Ps 119,105 ), denn es enthüllt das Geheimnis der Dinge, gibt ihnen einen Sinn und führt sie zu ihrer letzten Vollendung. « Das alles soll uns die Heilige Schrift gewähren - und sie tut es, wenn der Heilige Geist sich unserer annimmt und uns diesen Weg führt. Aber sie selbst, was geschieht mit der Schrift auf unserem Weg? Ein einziges Wort, das uns der Evangelist Matthäus überliefert, soll die Betrachtung leiten und den Weg des Verstehens führen. Es ist das Wort »Hinabsteigend«, mit dem Matthäus nach der gewaltigen Bergpredigt Jesu ein neues Kapitel im Leben des Heilands aufschlägt. Luther übersetzte (1545) »Da er aber vom Berge herab gieng«. Aber absichtsvoll, andere Wendungen nicht nutzend, beginnt Matthäus nicht mit »Da« oder mit »er«, sondern mit dem Tun, dem Hinabsteigen, dann erst kommt er, Jesus, dann erst der Berg, von dem er hinabsteigt. »Katabäntos« steht da als erstes Wort des neuen, achten Kapitels im griechischen Text und das ist bis in die Lautung hinein ein Hinabgehen, fast ein Fallen. Hören wir zuerst auf dieses Wort, wie es im Erzählzusammenhang des Matthäus ein sinnliches, uns allen vertrautes Geschehen beschreibt. Vom Berge wieder hinabsteigen, das kann, nach der großen Rede, ein leichtes, fast beschwingtes, ein befreites Gehen sein, es waren ja viele mit oben auf dem Berg der Lehre, sie werden nicht eine Kletterpartie unternommen haben, und Wegkundige werden auch dabeisein, so ist der Weg abwärts leichter als der beschwerliche aufwärts. Wir brauchen nicht gleich an einen steilen, gefährlichen Abstieg denken, und auch Eulenspiegels Dialektik kommt uns nicht zuerst in den Sinn. Eines freilich betrifft jeden Hinabsteigenden als eine sinnliche Erfahrung, die Weite des Blicks oben auf dem Berge weicht den kurzen, bedrängten Sehweisen, die nur ab und an wieder einen Ausblick frei geben. Wer einmal in seinem Leben vom windumtosten und sonnenüberfluteten Belchen in das Tal des Nebels zurückgestiegen ist, hat erfahren, wie kein Abstieg ohne Beklommenheit geschieht, wir rücken der Angst der Kreatur wieder näher. Und da uns auch die einfachste sinnliche Erfahrung sofort an die Tiefe der Erfahrung erinnert, so haben wir in einem zweiten Schritt dem Wort Hinabsteigen in einem größeren Zusammenhang nachzudenken. Alle, die oben waren, steigen ja wieder hinab vom Berge, aber nur von Jesus wird gesagt »der Hinabsteigende«, von den andern heißt es lediglich, daß sie ihm folgten, »folgete ihm viel Volks nach«. Gerade er, Jesus, ist der, der hinabsteigt. Das will Matthäus betonen. Und so hören wir, daß Hinabsteigen auch bedeutet, sich dem nähern, was unten liegt, dem, das in der Tiefe ist, sich zuwenden. Hoch und niedrig sind ja nicht nur Ausdrücke für Berg und Tal, wir verwenden sie auch für die Stellung eines Menschen in der Gesellschaft - eine hochgestellte Persönlichkeit. Dann bekommt das Hinabsteigen Jesu einen neuen Klang, indem die deutsche Sprache sowohl hinabsteigen - hin zur Tiefe, als auch herabsteigen - her von der Höhe, sagen kann, ist sie reicher als die griechische, die im katä, abwärts, hinab und herab nicht unterscheidet. Sehen wir uns an der Seite Jesu, so steigen wir mit ihm hinab, sehen wir uns aber ihm gegenüber, schauen wir aus dem Tal zu ihm hinauf, so kommt Jesus zu uns herab. So ist also zuerst Gottes Geist herabgestiegen und Jesus folgt dieser Bewegung hier, am Anfang des achten Kapitels in der zweiten Verwendung dieses Wortes. Er könnte nicht hin absteigen wäre er nicht zuerst hinaufgestiegen und tatsächlich lesen wir zu Beginn der Bergpredigt ausdrücklich, Jesus sei auf den Berg hinaufgestiegen (Mt 5,1), um dort, nicht wie Mose das Gesetz von Gott zu empfangen, es dem Volk hinabzubringen, sondern um selbst das Volk im Gesetz zu unterweisen, wie Gott selbst, dabei freilich die Worte Mose, die Worte Gottes, wiederholend und bewahrend wie Mose sie vernahm und sie nur auslegend, ihren wahren Sinn freilegend. Wie Jesus hinaufstieg, so steigt er jetzt hinab, vom Thron der göttlichen Lehre geht es hinab zu den niedrigen Dingen, zur geplagten, zur leidenden Kreatur, zu den Menschen in ihrer Zertrenntheit. Tatsächlich findet Jesus ein Tal des Leidens vor und hat sich in ihm zu bewähren mit seiner heilenden Kraft, der Aussätzige, der gelähmte Knecht des Hauptmanns, die fiebernde Schwiegermutter Petri, das sind die Leidenden, auf die er, der Lehrer mit göttlicher Vollmacht, jetzt stößt. Und so lesen auch wir das Hinabsteigen als Frage an unser praktisches Tun. Beginnt nicht ein jedes Tun, dem menschlicher Erfolg vorausgesagt werden kann, mit einem Hinabsteigen? Man muß die einzelnen Schritte, jeden einzelnen Schritt kennen und können, um den ganzen Weg zu gehen. Es gibt in der Welt gar nichts Großes, das nicht aus lauter gelungenen kleinen Dingen zusammengesetzt ist, aus wie kleinen, wie »kapriziösen« Teilchen setzt sich die Majestät eines großen Mosaiks zusammen! Sich dem Niedrigen zuwenden, das Kleine nicht übersehen, das ist eine Grundhaltung des Frommen (vgl. Eph 4,2), nicht oft genug können wir uns daran erinnern. Nicht um klein zu werden, sondern um das Große, das wir vom Berg der Lehrer mitgenommen haben, nicht leer ausgehen, es wirksam werden zu lassen. Und hat nicht, wie der Geist Gottes hinabgestiegen ist auf den geliebten Sohn, Gott selbst sich herabgelassen, indem er den ungeheuren Entschluß der Schöpfung faßte? Und läßt er sich nicht täglich und stündlich wieder herab in seinem Erbarmen? Und ist nicht die Fleischwerdung seines Sohnes der große Höhepunkt - um es so paradox zu sagen - dieser Herablassung? Ist in Jesu nicht zuerst und zuletzt die Menschlichkeit Gottes, das Erbarmen Gottes Fleisch geworden? Erinnert nicht Matthäus mit diesem Wort katabántos an die ganze Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung, mit seinem erwählten Volk, mit all seinen Menschen, die zu ihrem Ziel kommt, wo sein eingeborener Sohn zu ihnen hinabsteigt, von der göttlichen Höhe des Gebotes Gottes, ihre Gebrechen zu heilen? Und so hätte uns hier Matthäus mit diesem Wort »hinabsteigend« gesagt, worin Gottes Wege zum Ziel kommen und zugleich worin der Mensch Jesus ungetrennt Gott gleich, selber Gott ist, der Sohn des Vaters, so hätten wir hier erfahren, was es heißt, in einer Person die menschliche und die göttliche Natur zu vereinigen? Wörtlichkeit hat die Betrachtung geleitet, dem Hinabsteigen, dem ersten Wort des achten Kapitels des Matthäusevangeliums haben wir uns anvertraut, mit jenem »grenzenlosen Vertrauen«, das allein der Heiligen Schrift gebührt und wie sie allein es gewährt. Wir haben, wenn man so will, den sensus litteralis, den buchstäblichen Sinn dieses Wortes betrachtet, dann den sensus allegoricus oder übertragenen Sinn, der uns zugleich in den Zusammenhang des Wortes, dem Hinabsteigen das Hinaufsteigen hinzufügend, führte, sind von ihm zum sensus moralis geleitet worden oder dazu, was er bedeutet, ein Wort der Schrift als Mahnung und Weisung zu empfangen, sind weiter gegangen zum sensus anagogiae oder zur Erhebung und Betrachtung der Taten Gottes, um schließlich bei dem, den Alten noch nicht bekannten sensus hermeneuticus einzukehren, bei uns selbst und unserem Versuch, dem unerschöpflichen Wort uns preiszugeben, Gott zu begegnen. Und dazu haben wir uns durch Luther ermutigen lassen, der uns aus eigenster Erfahrung wechselvoller Fahrt zuruft: »Zuerst übe dich an einem Psalm, ja an einem einzigen Vers eines Psalms! Du hast schon genügend Fortschritte gemacht, wenn du an einem Tag oder auch in einer Woche gelernt hast, einen Vers in deinem Inneren zu wirklichem Leben zu erwecken«. Quatember 1997, S. 216-224 © Horst Folkers |
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