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Aktuell wie eh und je
Das Berneuchener Buch als Dokument der Kirchenkritik
von Dietrich Stollberg

VERBALISTISCHE REDUKTION
SYMPTOME DES NOTSTANDS
ÜBERWINDUNG GEGENSTÄNDLICHEN DENKENS
ZEITBEDINGTHEIT

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LeerAlle paar Jahre ist Kirchenkritik fällig. Der Protestantismus ist als kirchenkritische Bewegung angetreten, Selbst- und Fremdkritik gehört zu seinem Wesen. Derzeit sind es Autoren wie Josuttis oder Kroeger, die dem Ausdruck verleihen. Praktische Theologie ist per se eine kirchenkritische Disziplin. Und, wäre die Sprache nicht ein wenig pathetisch-antiquiert, ich könnte es meinen Studierenden glatt als neuesten Schrei empfehlen: das Berneuchener Buch als kirchenkritisches Dokument von 1926. Alle Themen, die derzeit in der theologischen Debatte Aktualität beanspruchen dürfen, kommen darin schon vor: Individuum und Kollektiv, Austrittsbewegung und Amtshandlungen, Kirchenkritik und Gemeindeaufbau, Liturgie und Leiblichkeit, psychosoziale Empirie und transpsychologische Energetik, viva vox evangelii gegen Biblizismus und Fundamentalismus, starres Dogma und lebendiger Glaube, Konfessionalismus und Ökumenizität, Protestantismus und Katholizismus, Gesetzlichkeit und Freiheit, Volkskirche und Gemeindekirche, kirchliches Amt und Laienfrage, Pädagogisierung, Ethik und zweckfreier Gottesdienst, Rationalität, Mysterium, Mystik usw. usf. 1. Die Staatskirche hatte gerade aufgehört zu existieren, das Schiff der Volkskirche dümpelte so vor sich hin, da kamen einerseits die dialektische Theologie, andererseits die Berneuchener mit ihrem Programm.

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VERBALISTISCHE REDUKTION

LeerSchlüsselbegriffe sind »Gleichnishaftigkeit« und konkrete »Leiblichkeit«. Zwischen biblizistischem Fundamentalismus und relativistischem Liberalismus soll der Glaube seinen Weg durch eine Welt finden, die er als Gleichnis verstehen und so im Guten wie im Bösen als handfesten, weil körperhaften Hinweis auf das Reich Gottes erfahren kann. Man habe u.a. von (den damals noch jungen und progressiven) Zeitgenossen wie Paul Althaus, Karl Barth, Friedrich Brunstäd und Paul Tillich gelernt und wolle kein theologisches System, das ein für allemal Richtigkeit beanspruche, entwerfen, sondern lebendiges Zeugnis im Ringen um die Wahrheit abgeben: »jeder theologische Objektivismus, der die Offenbarung an einem bestimmten Punkt fixieren und durch den Hinweis auf diesen Punkt den Zeugnischarakter des Wortes sicherstellen möchte, ist in sich verfehlt und hebt die Wirklichkeit der Offenbarung auf« (92 ) »Nur das lebendige Wort, die gegenwärtige Gleichnisrede, im flutenden Leben geformt und gesprochen, nicht der Buchstabe der Schrift, ist die Waffe der Wahrheit . . . Damit ist der ganze Streit zwischen einer historisch-kritischen und einer biblizistischen Theologie wirklich überwunden . . . , durch die Einsicht in den Gleichnischarakter aller unserer Rede von Gott überwunden ... « (93)

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SYMPTOME DES NOTSTANDS

LeerGleich auf der ersten Seite (nach Vorwort und Einführung) werden Symptome des kirchlichen Notstandes aufgezählt: »Verteidigungsstellung gegenüber der sieghaft angreifenden römischen Kirche, Austrittsbewegung und Gleichgültigkeit gerade religiös lebendiger Kreise «, die »von dem Kampf um das Bekenntnis her ständig drohende innere Spaltung« und »politische Unsicherheit« der Kirche, »der Mangel an wirklicher Gemeinde, das problematische Verhältnis zu Schule und Lehrerschaft, die Hilflosigkeit gegenüber den schweren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, die Berufsnot des Pfarrerstandes . . . , die Unsicherheit ihrer gottesdienstlichen Formen und die Fragwürdigkeit der kirchlichen Amtshandlungen« (15).

LeerPositiv werden ökumenische Zusammenschlüsse, evangelische Jugendarbeit (heute eher im Niedergang begriffen), eine »verheißungsvolle Neuorientierung des theologischen Denkens« (gedacht ist wohl an die Theologie der Krise,in der sich die großen deutschsprachigen Theologen des Jahrhunderts zunächst zusammengefunden hatten), »die neue Freiheit, die aus der Trennung zwischen Staat und Kirche heraufwächst«, neue Impulse für evangelische Erziehung, soziale Äußerungen der großen Kirchen, die liturgische Bewegung einschließlich des neuen Interesses an kirchlicher Kunst und (u.v.a. ) neues Interesse der Bevölkerung an Kirche und Frömmigkeit überhaupt (15 f.) hervorgehoben.

LeerTrotzdem habe die Kirche den »Schrei nach ursprünglichem Leben« und »nach neuer Sinngebung«, der sich vor allem in der Jugendbewegung artikulierte, nicht wirklich gehört und ernst genommen (19). Die evangelische Kirche habe leider keineswegs »immer die Gewissen an das ewige Wort von der Größe und Gnade Gottes gebunden und eben damit von jeder endlichen Größe befreit« (24). Gottes Wort sei nicht mit dem Wort der Kanzelrede oder irgendwelchen theologischen Inhalten identisch, sondern wie alles Leben selbst ein Gleichnis (90 u.ö.), eine Reduktion von Theologie und Kirche auf das gesprochene und geschriebene Wort sei deshalb nicht angemessen, »die stärkeren Versinnlichungen, Versinnbildlichungen des ewigen Wortes« im Sinne der »Zeichensprache des Kultus« seien schon von Martin Luther zu wenig ernst genommen worden (50), so daß man eine »Verkümmerung des Formwillens« im Protestantismus beklagen müsse.

LeerNicht nur die alten Formen und Farben des Gottesdienstes, sondern auch »die betonte Schmucklosigkeit der gottesdienstlichen Räume und Feiern « der reformierten Kirchen hätten »ein Zeugnis sein können für die letzte Freiheit der göttlichen Gnadenwirkung von aller und jeder menschlichen Form, wenn nicht alsbald diese Formlosigkeit selbst wieder zu einem negativen Formgesetz erstarrt wäre und zu einer Verständnislosigkeit für die Symbolkraft der Form überhaupt geführt hätte« (51)

LeerEs folgt ein Plädoyer für die »lebendige Gemeinde gegen eine behördenmäßig und bürokratisch geleitete Volkskirche 2 und für das sakramentale verbum visibile als Gleichnis der Gottesoffenbarung (54f.).

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ÜBERWINDUNG GEGENSTÄNDLICHEN DENKENS

LeerDie Kirchenkritik wird fortgesetzt, um dann in einem zweiten Hauptteil jedem konstatierten Mangel konkrete Besserungsvorschläge entgegenzusetzen. Zentral scheint mir das Anliegen der »überwindung des gegenständlichen Denkens« (80 ff.) Weder »das Wort« sei wörtlich zu nehmen noch jede andere religiöse Ausdrucksform. Es geht nicht um quasi digitale Übermittlung rational verstehbarer Informationen über Gott, Kirche usw., sondern um die lebendige Begegnung von ich und Du, die durch keinerlei Normativität präfiguriert und garantiert werden könne. (Martin Bubers Einfluß ist deutlich.) Es geht aber auch nicht nur um Psychologie: »Das Einswerden mit Gott ist kein psychologisches Ereignis, das durch liturgische Technik an einen bestimmten Punkt im Gottesdienst verwirklicht werden könnte, und kein Besitz, in dem der Mensch zu bestimmter Stunde zur Ruhe kommen könnte.« (110) 3.

LeerDie existentielle Wahrheit ist vielmehr körperlicher und energetischer Art. »Alles, was über liturgische Form im einzelnen und was über Leibhaftigkeit, Körperkultur und Lebensform überhaupt zu sagen ist, ist nur eine weitere Ausführung dieser Linie.« (111). Noch deutlicher wird der an heutiger Fachliteratur geschulte Leser an Manfred Josuttis erinnert, wenn das Stehen im Gottesdienst Knien, Wendungen, Schreiten, Hände, Kleidung, Brot und Wein, »den Leib im Wasserbad reinigen und erfrischen, Essen und Trinken«, brennende Kerzen als »ein Gleichnis« zur Sprache kommen 4. Gottesdienst hat nur Sinn, wenn klar ist, daß er »den Gleichnischarakter alles Lebens offenbart« (112). »Jede Darstellung des Heiligen steht unter den Formgesetzen aller Darstellung, d.h. unter den Gesetzen der Kunst.« (ebd.) 5 »Kunst ist im evangelischen Gottesdienst nicht nur etwas Hinzukommendes und Hinzugefügtes, sondern die Form der Darstellung überhaupt, die sich von dem ‚eigentlichen’ Gottesdienst überhaupt nicht scheiden läßt . . . « (113). Es geht um die symbolische Darstellung des Lebenssinns, und dadurch wird »das Leben selbst geweiht und geheiligt« (120).

LeerSehr kritisch nimmt das Buch die Debatte der letzten 20 Jahre um den Gemeindeaufbau 6 vorweg: »Keine Gemeindebildung auf Erden ist verwirklichtes Reich Gottes.« (124 ). Weder Gesellschaftsformen noch Staatsordnungen dürfen von der Kirche einfach übernommen werden, »wie es auch die neuen Kirchenverfassungen fast ausschließlich getan haben« (125), gerade da, wo sie mehrheitsdemokratisch und bürokratisch nach Machtprinzipien und Proporzgesetzen funktionieren. Auch die Diakonie stehe in Gefahr, weltförmig zu werden und »zur bloßen Wohlfahrtspflege zu entarten« (ebd.), wo sie vergißt, daß sie zentral Gleichnis und Zeugnis der »in Christus erschienenen Gottesliebe« sei.

LeerBrandaktuell die Infragestellung des Theologenmonopols auf das geistliche Amt: Damit müsse »gebrochen werden « (125). Es sei klar, »daß niemals der Theologe an sich ein ‚Geistlicher’ ist « (126). Man brauche andere Kriterien für die Auslese der geistlichen Leitung; der»untragbare Rest der Überschätzung des Pfarrers « (127) sei abzubauen, und Menschen seien in die Leitung zu berufen, die unter spirituellen Gesichtspunkten und nicht, weil sie Theologie studiert haben, ausgewählt werden müßten. (Nicht nur hier hat man von den Anglikanern gelernt.) Die Parochie wird in Frage gestellt (129), die Tagungswut angeprangert (alternative Exerzitien) und das Bischofsamt relativiert: Ein »Kreis solidarischer Führer« solle den »lutherischen Bischofsgedanken und die reformierte Synodalverfassung« als Leistungsteam einer Kirche integrieren (131 f.).

LeerMit exemplarischen Konkretionen auf dem Gebiet der Ethik (Sexualität, Volk, Arbeit) schließt das Werk. Der Gottesdienst 7 habe das Arbeitsleben weder zu verklären noch durch Abwechslung und Erholung zu entlasten, sondern weise als zweckfreies Spiel auf jene ewige Zukunft hin, in welcher der Mensch von aller Fron der Zweckrationalität - und wären es soziale oder gar missionarische Zwecke - befreit sein wird.

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ZEITBEDINGTHEIT

LeerIn manchen Einzelheiten (z. B. hinsichtlich der Wiederbelebung der Beichte) wird man heute vielleicht anders urteilen als 1926. Und manches hat sich tatsächlich positiv verändert, z. B. die Zunahme der Hochschätzung des Abendmahls sowie eine langsam wachsende Unbefangenheit gegenüber der Formen- und Farbenfreude im Gottesdienst. Auch der Aufschwung der Pastoralpsychologie nach dem Zweiten Weltkrieg geht nicht zuletzt auf »Berneuchener« zurück (etwa Allwohn, Haendler, Köberle, A.D. Müller und Uhsadel). Paul Tillichs Theologie ist ohne »Berneuchen« schwer denkbar. Aber die Hauptfragen sind geblieben, und die unverzichtbare Unterscheidung zwischen gleichnishafter (analoger) und positivistischer (digitaler) Wahrnehmung von Wirklichkeit fällt nach wie vor innerhalb wie außerhalb der Theologie enorm schwer. Im Grunde wird jede Generation auf neue Weise ein ähnliches »Leiden an der Kirche« 8 erfahren, ihren Zorn als Impuls der Veränderung einsetzen und ein Stück Enttäuschung verkraften müssen. Die »Berneuchener«wußten das: »Der Wert eines Werkes bemißt sich nicht nach aufweisbaren geschichtlichen Wirkungen oder nach der Lebensdauer seiner Gestaltungen, sondern allein danach, ob es aus dem Glauben heraus geschehen ist und dadurch zu einem eindringlichen Zeugnis wird, das für eine ganz bestimmte Situation das in Christus gesprochene Gotteswort verkündigt.« (71)

Anmerkungen:


1: Vgl. die seit einiger Zeit wieder aufgelebte Debatte einerseits um Metapher und Hermeneutik (z.B. P. Ricoeur / E.Jüngel, Metapher, München 1974), zu der eigentlich alles wesentliche schon durch W. Stählin gesagt ist (z.B. Symbolon, 3 Bde., Stuttgart 1958 ff.; ders., Wort und Bild, Hören und Sehen, München 1963; ders., Auch darin hat die Bibel recht. Sage, Legende, Märchen und Mythos in der Bibel, Stuttgart (3) 1996), andererseits die »Wiederentdeckung des Leibes« (P. M. Pflüger (Hg.), Fellbach 1981), dazu schon W. Stählin, Vom Sinn des Leibes, Oldenburg 1931; vgl. v. Vf. Art. Leiblichkeit, in: W. Böcker u.a. (Hg.), Hdb. d. relig. Erziehung. Bd. 1. Düsseldorf 1987, 119-126; neuerdings: M. Klessmann / I. Liebau (Hg.), Leiblichkeit, 1997 (siehe die Literaturhinweise)
2: Vgl. M. Josuttis 1997, M. Kroeger 1997, R. Preul 1997 (siehe die Literaturhinweise)
3: M. Josuttis betont immer wieder, daß die Begegnung mit dem Heiligen nicht psychologisch zu fassen sei.
4: Der Weg in das Leben (siehe die Literaturhinweise) durchgehend
5: Dazu u.v.a. A. Grözinger, Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh 1995; H. M. Gutmann, »Variationen am Klavier und an theologisch dogmatischer Tastatur. Ein Beitrag zum Verhältnis von Ästhetik und Theologie«, in: Kunst und Religion. Jahrbuch der Religionspädagogik 13, Neukirchen-Vluyn 1996, 109-125; H. Schwebel »,Kunst und Religion zwischen Moderne und Postmoderne«, ebd. 47-70; weitere Beiträge zum Thema in diesem Band!
6: Vgl. Möller1987 ff. (siehe die Literaturhinweise)
7: Vgl. Josuttis 1991, Stollberg 1993, Wenz 1995 (siehe die Literaturhinweise!)
8: H. Thielicke, Leiden an der Kirche, Hamburg 1965; vgl. v. Vf., Pastoralpsychologie und Kirchenkritik (siehe die Literaturhinweise)

Literaturhinweise:

Berneuchener Konferenz (Hg.), Das Berneuchener Buch, Hamburg 1926/Darmstadt 1978
Josuttis, Manfred, Der Weg in das Leben, München 1991
ders., ‚Unsere Volkskirche’ und die Gemeinde der Heiligen, Gütersloh 1997
Kiessmann, M./ Liebau, I. (Hg.), Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes. Körper, Leib, Praktische Theologie. Göttingen 1997
Kroeger, M., Die Notwendigkeit der unakzeptablen Kirche, München 1997
Möller, Christian, Gemeindeaufbau, 2 Bde., Göttingen 1987 ff.
Meyer-Blanck, Michael, Inszenierung des Evangeliums, Göttingen 1997
Preul, Rainer, Kirchentheorie: Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin 1997
Stollberg, Dietrich, Liturgische Praxis, Göttingen 1993
ders., »,Pastoralpsychologie und Kirchenkritik«, in: DGfP-Info 2/97, 3-29, München (DGfP) 1997; vgl. International Journal of Practical Theology, Vol ll, Berlin 1998, 2.
Wenz, H., Körpersprache im Gottesdienst, Leipzig 1995

Quatember 1988, S. 82-90

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-22
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