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Kirche in unserer sich wandelnden Gesellschaft
Berneuchener Gespräch 1997
Arbeitskreis Gegenwartsfragen

LeerSorge und Verunsicherung durch die einschneidenden Veränderungen in unserer Gesellschaft, negativ besetzte Schlagworte wie Risiko-, Konsum-, Ellbogengesellschaft, zeigen die heute vorherrschende Stimmung an. Individualisierung und Pluralität sowie der Niedergang, ja der Verlust der überkommenen Werte, eine wachsende Kriminalität und Gewaltbereitschaft - zunehmend auch bei Jugendlichen - werden beklagt, eine Entsolidarisierung im Verhaltensmuster von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft befürchtet. Die Zahl der Menschen, die ohne Arbeit sind, steigt weiter, die Belastbarkeit unserer sozialen Sicherungssysteme scheint ihre Grenzen erreicht zu haben. Die Suche nach Sicherheit und Orientierung im persönlichen Leben wie auch im Zusammenleben der Gesellschaft wird drängender. Die Kirche und ihre Glieder sind Teil der Gesellschaft, sie sind mit verantwortlich für die zukünftige Gestaltung unserer Welt.

LeerWelche Aufgaben wachsen den Kirchen in dieser Situation zu? Das war das Thema einer Tagung der Evangelischen Michaelsbruderschaft in der Reihe der Berneuchener Gespräche, die vom 2. bis 5. Oktober 1997 in ihrem Einkehrhaus Kloster Kirchberg bei Sulz /Neckar stattfand. Das aktuelle Thema Kirche in unserer sich wandelnden Gesellschaft - im Spannungsfeld zwischen Spiritualität und Weltverantwortung, gegenwärtig an vielen Stellen diskutiert, ließ 65 Teilnehmer aus allen Teilen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz anreisen. Der intensive Meinungsaustausch war eingebunden in den Rhythmus der kirchlichen Stundengebete nach der Ordnung des Berneuchener Hauses Kloster Kirchberg. Die herrliche Lage der Klosteranlage und ihre großzügige bauliche Gestaltung trug viel zu einem guten Gesprächsklima bei. Die Michaelsbruderschaft nimmt mit diesen Gesprächen ihre Verpflichtung wahr, am Bau der Kirche der Zukunft mitzuwirken. Sie möchte ihre liturgischen und geistlichen Erfahrungen in die Verwirklichung von Kirche einbringen und erlebbar machen.

LeerWie steht es heute mit dem Verhältnis von Kirche und Gesellschaft, mit dem traditionellen Konzept "Volkskirche"? Grundlage der Diskussionen bildeten drei Referate. Im Vortrag zum Themenkomplex "Kirche - Bild und Leitbild" legte der Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack (Frankfurt/O.) statistisch fundierte Einsichten zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation und zu den dadurch bedingten Transformationsprozessen in der Evangelischen Kirche dar. Danach hält der Trend der Verkleinerung der Mitgliederzahl seit den 70er Jahren (in der DDR schon seit den 50er Jahren) weiter an. Die Kirchen werden zwar noch von der überwiegenden Mehrheit als Institution akzeptiert, etwa zur Erfüllung ihrer konventionellen Aufgaben wie Gottesdienst und Diakonie sowie zur Erhaltung vorgegebener Werte. Zu den evangelischen Gliedkirchen in Westdeutschland gehören gegenwärtig etwa 36 % der Bevölkerung, etwa 40 % sind katholisch. In Ostdeutschland sind dagegen nur etwa 24 % evangelisch und 5 % katholisch. Die aktive Beteiligung am kirchlichen Leben ist jedoch in Ost und Welt gering. Nur etwa 5 % der Mitglieder geben an, regelmäßig einen Gottesdienst zu besuchen.

LeerWo die kirchliche Bindung abreißt, schwinde nach den Erhebungen in der Regel auch der Bezug zur Religion. Daher ist Skepsis geboten, wenn trotz allem eine weit verbreitete Religiosität konstatiert wird. Es läßt sich nicht nachweisen, daß Menschen, die aus der Kirche austreten, in nennenswerter Zahl und auf Dauer in andere Religionsgemeinschaften eintreten. Der Referent zog die Schlußfolgerung, daß heute die Pluralisierung der Angebote und die Individualisierung des Lebens den modernen Menschen überall zwinge, auszuwählen und sich zu entscheiden. Die religiösen Fragen könne man aber offenlassen, Entscheidungen seien nicht erforderlich, religiöse Indifferenz bringe keine Nachteile.


BLICK IN DIE ZUKUNFT

LeerDer Leiter der Studien- und Planungsgruppe der EKD, Oberkirchenrat Rüdiger Schloz (Hannover), zeigte Tendenzen für die Zukunft auf. Danach braucht die Kirche in dieser Krisensituation ein Leitbild, sie muß ihre Kompetenz darlegen und die Motivation ihrer Mitarbeiter wie auch aller ihrer Mitglieder erkennbar machen. Ein solches Leitbild darf nicht aufgesetzt sein, es muß darum gestritten werden. Als Skizze wurden dazu zwölf Sätze, die das "Leitbild Kirche 2020 " sein könnten, vorgelegt und eingehend diskutiert. im Vordergrund soll dabei die Lebenshilfe stehen, die die Kirche in allen Situationen - freudigen, schweren und schmerzhaften - den Menschen bietet. Dieser Aufgabe wäre insbesondere die liebevolle Sorgfalt der Kirche zu widmen. Sie müsse dazu Raum für Stille und Besinnung, Begegnung und Dialog, Feier und Aktion bieten, Pluralität bejahen und sich dem Meinungsstreit, auch zur politischen Urteilsbildung und zur Pflege und Erneuerung der tragenden gesellschaftlichen Grundüberzeugungen, stellen.

LeerBischof Dr. Hartmut Löwe, Bevollmächtigter der EKD bei der Bundesregierung in Bonn, sprach zum Themenkomplex Kirche und Gesellschaft unter der Überschrift "Welche Kirche wollen wir?" Wir seien wohlberaten, nicht nur Beobachter unserer Gegenwart zu sein, sondern sollten mit Herz und Verstand tapfer für die Kirche eintreten und auf dem Markt der Möglichkeiten das Besondere und Unverwechselbare der christlichen Botschaft anbieten. Er nannte eine Reihe von Wünschen, die er für die Kirche der Zukunft und ihr Erscheinungsbild in der Gesellschaft hat. Eine offene Kirche für das Volk wünsche er sich, eingebunden in Last und Segen unserer kirchlichen Tradition, kräftig verwurzelt in der langen Geschichte unseres Volkes, die ihre in Weltverantwortung stehenden Glieder kritisch begleitet, in der die Weltkinder im kirchlichen Ehrenamt viel zu sagen haben und die sich dem Geist Gottes öffnet, so daß wir spirituell nicht verkümmern müssen. Welche und wie viele der Wünsche Wirklichkeit werden, so schloß er, wäre weniger wichtig als die Leidenschaft, etwas zu wollen, sich für eine erneuerte Kirche einzusetzen.

LeerIn drei Gruppengesprächen wurde zum Thema "Kirche in einer pluralistischen Gesellschaft" gearbeitet. Einführungen gaben Kurzvorträge über "Modell Volkskirche" (Prof. Ernst-Christian Gerhold, Graz), "Kirche als Minderheit mit Zukunft" (Pröpstin i. R. Dorothee Mücksch, Aschersleben) und "Ökumene als Zukunft der Kirche" (Prof. D. Dr. Hans-Christoph Schmidt-Lauber, Wien). Zum Thema "Erwartungen an die Kirche von morgen " arbeiteten Gesprächsgruppen nach einleitenden Vorträgen zu den Themen ,,Leiturgia - Spiritualität und Feier des Gottesdienstes" (Pfr. em. Johann-Friedrich Moes, Münster), "Martyria - Möglichkeiten verantwortlicher Glaubensrede heute " (Prof. Dr. Heinz Grosch, Aichwald) und "Diakonia - neue Formen der Diakonie" (Prof. Dr. Ulfrid Kleinert, Dresden). Ein Podiumsgespräch war dem Thema " Unsere Hoffnung für Kirche und Gesellschaft" am letzten Abend gewidmet.

LeerBereichert wurde die Tagung durch einen Beitrag zum liturgischen Singen und zur Kirchenmusik als einem integralen Bestandteil gottesdienstlichen Feierns und kirchlicher Arbeit. Kantorin Beate Krupke, Berlin, machte die kirchenmusikalische Tradition aus der langen jüdisch-christlichen Geschichte (Psalmen, Gregorianik, neue liturgische Formen) anschaulich. Beispiele aus ihrer Tätigkeit und das Angebot zum Mitsingen ließ ihre Darlegungen emotional erlebbar werden. Sie gab damit gleichzeitig die Einstimmung zu dem festlichen Gottesdienst am Sonntag, in den die Teilnehmer als Gemeinde in verschiedenster Weise beteiligt und einbezogen waren. Hier war die Spiritualität spürbar, die oft bei Diskussionen über den zukünftigen Weg unserer Kirche eingefordert wird.

LeerRückblickend kann dieses Gespräch in Kloster Kirchberg als ein Baustein zur Erneuerung unserer Kirche gelten. Eine Weiterarbeit in dieser Richtung scheint nützlich und notwendig zu sein. Am Ende der Tagung wurde von vielen Teilnehmern der Wunsch laut, die Thematik des Berneuchener Gespräches weiterzuführen, zusammen mit eigenen Gedanken und Beiträgen. Dazu wären Gemeinden und kirchliche Kreise geeignet, zu denen man Zugang hat und denen man sich verbunden fühlt. Der Arbeitskreis Gegenwartsfragen der Michaelsbruderschaft möchte dazu beitragen, indem er die Vorträge und die Gespräche in den Gruppen für eine Veröffentlichung vorbereitet.

Quatember 1998, S. 97-100

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-22
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