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Hoch-Plattdeutsches Diptychon
von Gerhard Bartning

LeerSchon lange ist's nicht mehr originell, über die Atomisierung, die Zerstäubung der Sprache und des Sprachzusammenhangs in gewissen Zweigen zeitgenössischer Lyrik zu trauern und zu schelten. Doch nicht nur originell, sondern schlichtweg mutig war's, im Jahre 1996 einen Band vorzulegen, dessen jeweils linke Seite hochdeutsche, die rechte die genau entsprechende plattdeutsche Fassung des jeweiligen Gedichts vorstellt; - noch mutiger, wenn es da überhaupt eine Steigerung gibt, diesen Gedichten die strenge Form der japanischen Haikus und Tankas zu geben. Diesen doppelten Mut hat Heinrich Kahl bewiesen in dem zweiten Band seines lyrischen Werks, den er mit Gollen Hahn. Plattdeutsche Gedichte. Hochdeutsche Übertragungen überschrieben hat und 1996 erscheinen ließ; den ersten Band Küsel (d.h. »Kreisel«, GB) hatte er in derselben Anordnung 1991 bei Hiltrud Tiedemann drucken lassen.

LeerUm in diese Art der dichtenden Betrachtung unseres Lebens und seiner Elemente und Momente hineinzufinden, empfiehlt sich, die allerletzte Seite aufzuschlagen und die Gliederung aufzunehmen und zu bedenken: »Bi Huus - Dörch de Jahren - Op Reisen - Märken-Balladen - För de Kinner.« Schon daraus erhellt, daß ein weiter Bogen geschlagen wird: Im Kernbereich, der Mitte unseres Lebens-Orts entspringt gleichsam der Lebensweg, bewegt sich durch die zeitlichen Rhythmen unseres Lebens (Tage, Monate, Kirchenjahr, die Elemente und die »Steernstünnen«) wie durch die Räume und Landschaften, die sich der Autor erschlossen hat und die ihm bedeutsam geworden sind. Doch diese Bedeutsamkeit wird dem Leser keineswegs aufgenötigt. Der Dichter hat die Geduld, auf den Nachhall zu warten, der in Verstand und Gemüt des Lesenden dem geschriebenen (und nachzusprechenden!) Wort als Antwort folgen mag - nein, er vertraut der Kraft, Zartheit und Sinnigkeit dessen, was ihm selbst zugefallen, um das er selbst auch gerungen und was er von vornherein auf sein Gegenüber hin »komponiert« hat. Ja, ich empfinde alle Gedichte, auch die, die nicht der strengen ostasiatischen Form-Tradition gehorchen, als kleine, in sich geschlossene, zur einübenden und betrachtenden Wiederholung einladende musikalische Kompositionen.

LeerDasselbe gilt für die so wenig »modeme«, fast episch breite Strophenkette »Glandalough«. Der Haltung tiefer, ja frommer Dankbarkeit gegenüber dem Geschenk des eigenen wachen und so aufmerksamen Daseins, des Gewachsenen, Wachsenden (Physis, Natur heißt ja das Aufwachsende, das in diesen sehr konkreten, sehr deutlich gezeichneten Miniaturen - auch der Komet Hyakutarhe kommt zu Ehren! - auch und vor allem als »creatura« transparent wird) und des vom Menschen geschaffenen Schönen wird sich kaum ein Leser entziehen. (Nur eine Schulmeistersfrage kann ich mir nicht verkneifen: Im Abschnitt »Twölf Maanden 93« entspricht dem »Sichelmond« ein »afnehm'n« Mond in der plattdeutschen Fassung - als westlich-abendlicher Mond dürfte er wohl in der Zunahme begriffen sein?) Durch beide Bücher schwingt jene gütige und weise Art von Humor, die bei reiferen Kindern nicht minder als bei der Altersstufe des Rezensenten ankommen wird (vgl. den Abschnitt »Märken«).

LeerSo wünsche ich beiden Büchern, sie möchten in möglichst viele und möglichst dankbare Häuser, Kämmerlein und Studierstuben Eingang finden und damit dem Autor Lust und Mut machen, mit seiner Gabe auch fortan nicht hinterm Berg zu halten!

Quatember 1998, S. 115-116
© Gerhard Bartning

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-22
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