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Die sichtbare und die unsichtbare Welt
von Frank Lilie

LeerBrauchen wir Engel? Unser auf Nützlichkeiten schielendes Denken macht auch vor dem Glauben nicht halt - und das, obwohl wir wissen, daß unser Glaube eigentlich zu gar nichts nütze ist, ja dies von seinem Wesen her auch nicht sein kann und nicht zu sein braucht. Unser Denken sagt also: Nein, wir brauchen sie nicht, die Engel. Wenn schon Glauben, dann ohne diese Boten zwischen Gott und uns. Und das protestantisch notorisch schlechte Gewissen fügt hinzu: Engel? Könnten die nicht die Einzigartigkeit der Mittlerschaft Jesu Christi gefährden?

LeerIn seinem Buch über den Erzengel Michael versucht Hans Baritsch eine ganz andere Antwort: Engel sind von Gott her zu verstehende Mächte, die uns erkennen lassen, wie er in der Geschichte, wie er also unter uns Menschen wirkt (47). Und in der Tat: Wenn wir über das Wie des Handelns Gottes reden, gehen uns rasch die Worte aus, denn wie soll das völlig Unanschauliche, das Gott ja für uns ist, anschaulich, spürbar konkret werden? So ist gefragt worden, seit es überhaupt ein theologisches Fragen gibt. Baritsch zeichnet die Geschichte der Engelsvorstellungen nach (31ff), die er bis nach Ägypten und Mesopotamien zurückverfolgt. sein Hauptaugenmerk gilt jedoch Michael, dem Erzengel und Schützer Israels, dem Beschützer der Kirche, dem Engel des Reiches und der Deutschen, dem Engel des Jüngsten Gerichtes. Was ist mit diesen Titeln gemeint? Und welche Wirklichkeiten, welche Erfahrungen stehen hinter ihnen (50ff)? An vielen Orten hat es solche Erfahrungen mit dem Erzengel gegeben. Baritsch sucht zu zeigen, daß sich weite Strecken des Christentums auch als Geschichte der Engelsbegegnungen und Engelsverehrung verstehen lassen könnten. In Kleinasien, Konstantinopel, Rom, auf dem Monte Gargano bei Sipontis in Italien, in West- und Zentraleuropa und dann besonders im Reich der Franken finden sich zahlreiche Michaelsstätten (55ff). Die gewiß bedeutendste und auch berühmteste ist der Mont St. Michel in der Normandie mit seinem Kloster und seiner Kirche, einem der wichtigsten Ziele der mittelalterlichen Pilgerfahrten. Dem Engelsberg und seiner Geschichte ist denn auch ein großer Teil des Buches gewidmet (85ff).

LeerBrauchen wir die Engel? Nun soll sie also doch gestellt werden, diese nach neuzeitlichem Pragmatismus riechende Frage. Vorsichtige Gemüter mögen sich durch Baritschs Ausführungen beruhigen lassen: Die Vorstellung von Engeln und selbst ihre Verehrung schaden dem Glauben zumindest nicht. Und, etwas mutiger geworden, verstehen wir dann vielleicht auch besser, daß die religiösen Erfahrungen des Christentums stets beides umfaßten, die sichtbare und die unsichtbare Welt: in »solcher an eine Stätte gebundenen Verehrung bleibt der Glaube an die Wirklichkeit Gottes und der Ihm dienenden Mächte und Menschen an Konkretes gebunden. So bleibt er davor bewahrt, sich in eine totale Abstraktion reiner Geistigkeit zu verflüchtigen« (25).

Quatember 1998, S. 117-118
© Frank Lilie

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-22
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