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von Gérard Siegwalt |
Karl Helmut Wagner (unter Mitarbeit von Karl-Heinz Morell ): Die Martins-Kirche in Niefern im Wandel der Zeit Band 2 der Ortsgeschichte Niefern-Öschelbronn), Goldstadtverlag, Pforzheim, 1998, 216 Seiten, DM 39.80 Niefern, bei Pforzheim, in Nordbaden. Von der Niefernburg handelte der erste Band, der 1988 erschienen ist: Wagner hat darin den Hauptteil über die Geschichte der Burg und ihre Bewohner erarbeitet. Hier, in diesem zweiten Band, geht es um die aus dem 15. Jahrhundert stammende gotische Kirche, die 1975 renoviert wurde. An ihrer Konzeption war Wagner, der eigentliche Autor dieses Bandes, neben den hauptamtlichen staatlichen Kunstberatern offensichtlich maßgeblich beteiligt, wie vor allem eine ganze Reihe von bau- und kunstgeschichtlichen Wiederherstellungen, die ihm zu verdanken sind und die dem Band beigegeben sind, erweisen. Am Ende des ersten Bandes heißt es im Nachwort des Mitherausgebers, daß »Karl Helmut Wagner dem (Buch über die Niefernburg) einen Lebensabschnitt gewidmet hat«. Dies wird noch mehr für diesen zweiten Band gelten, der dank der Mitarbeit eines Sachkundigen nun - bei 84 Lebensjahren - abgeschlossen werden konnte: der Band erscheint als ein durch lange Jahre gewachsenes Werk, ja als der Ertrag eines Lebens in den Erkenntnissen, die darin schriftlich niedergelegt sind und die mehr sind als Wissensstoff. Wissen und also Kenntnisse, das ist gewiß das erste, das man von solch einem Buch erwartet. Denn, wie gleich auf der 1. Seite als Motto, als Hinweis auf das, worauf es eigentlich ankommt, groß zu lesen ist: »Ich sehe nur, wovon ich weiß«. Damit ist das Wissen auf ein Sehen bezogen, es will das Sehen fördern, muß am Sehen geprüft werden und sich daran verifizieren. So ist das Kennzeichnende des längsten Teils, welcher der Baugeschichte der Kirche gewidmet ist, das beständige Hin und Her zwischen Wissen und Sehen, zwischen Sehen und Wissen: das eine bedingt das andere, weshalb der Band Schritt für Schritt vorgeht und reichlich mit guten Abbildungen versehen ist. Damit ist etwas über die Methodik nicht nur dieses Teils sondern des ganzen Bandes, aber zunächst einmal dieses Hauptteils gesagt: Wagner kennt wohl einschlägige Arbeiten und hier und dort über die Nieferner Kirche gegebene Hinweise. Hier wird mehr vorgelegt als Kenntnisse, nämlich auch Erkenntnisse. Kenntnisse haben es mit Wissen zu tun, Erkenntnisse mit verstehen. Man kann auch sagen: es geht hier nicht nur um eine historisch-kritische Arbeit, sondern um ein deutendes, also hermeneutisches Werk. Darum war von »Nachvollziehen« die Rede, denn das ist mit Deutung bezweckt. Deutung verlangt den Meister, Historie in allen Arten den Handwerker. Daß Wagner Handwerk hat, und zwar in reichem Maße, das kam schon zum Ausdruck. Daß er auch ein Meister ist, und daß wir deshalb bezüglich dieses Buches von einem Werk sprechen, das gilt es nun zu sagen.. Zwar hat das Buch, formal gesehen, zunächst etwas Anstößiges. Ich meine nicht eigentlich das manchmal Sprunghafte in der Darstellung: solche Gedankensprünge bedeuten für den Leser eine Schwierigkeit, doch sie gehören irgendwie zur schon erwähnten Methodik. Das Anstößige, das jedenfalls als anstößig von manchen empfunden werden wird, liegt noch tiefer, nämlich im Ineinander von Historie und Deutung, von handwerklich sauberer Arbeit und von meisterlichem Werk des Verstehens. Bei genauerem Zusehen ahnt man jedoch, daß es ohne dies Anstößige nicht ging, sondern daß es unumgänglich ist. Es beginnt bereits auf der I. Seite mit einer eindrucksvollen, feinen Bleistiftzeichnung vom Gesicht einer alten Nieferner Frau und endet auf der letzten Seite mit der Bleistiftzeichnung von einem Neugeborenen; beide Zeichnungen sind von Wagner. Hinzu kommen Abbildungen, Landschaftsbilder und auch Gemälde verschiedener Maler, u.a. Wagner selbst, die den Lebensraum um Niefern darstellen. Es scheint dabei manches nach einer Art von Geheimwissen zu klingen, und dies stößt sich in der Tat mit unserem in der Moderne dominierenden »gegenständlichen« Denken, das nur objektiv gesichertes Wissen fordert. Aber besteht die Alternative zu Recht: entweder Wissenschaft oder mystische Esoterik? Wagner weist auf das zwar nicht Falsche aber doch Einseitige des gegenständlichen Denkens hin, das am Ganzheitlichen vorbeigeht und das sich, wenn es die Oberhand gewinnt, zerstörerisch für Mensch und Umwelt und für den Gottesbezug auswirkt. Denn, so könnte er mit manchem Theologen sagen, Gott hat es mit der Ganzheit zu tun. An anderem Ort habe ich die besondere Art des Denkens von Wagner im Sinn von Edmund Husserl, dem Philosophen, als »Wesensschau« gekennzeichnet1; er selbst spricht von »anschauendem Denken« (S. 213). Das ist kein Geheimwissen, sondern das ist Symboldenken, wie es einst im Berneuchener Buch als Überwindung des nur gegenständlichen Denkens gefordert war und das darin besteht, daß »Immanenz und Transzendenz, Gegebenes und Verheißendes, Modernes und elementar Ursprüngliches-Archetypisches, Sichtbares und Unsichtbares zusammentreffen und über ihren Unterschied hinweg miteinander gegeben sind; Es ist ein ganzheitliches und als solches ein heiles Denken, das Heilungskraft in sich trägt.«2 Das Symboldenken erkennt, mit Paul Tillich zu reden, die Eigengesetzlichkeit (Autonomie) des gegenständlichen Denkens durchaus an, aber es verwahrt sich gegen die Absolutsetzung dieser sonst zur Tyrannei (Heteronomie) werdenden und somit (im eigentlichen, legitimen Sinn) relativen Autonomie durch ihre Beziehung zu Gott, also durch die sie tragende Theonomie. Wagner kommt von Wilhelm Stählin her, aber auch von seinen Lehrern der Graphik, die der gleichen Geistesausrichtung angehören, Herrmann Kätelhön und Rudolf Koch. Dem sogenannten anschauenden Denken geht es um Partizipation: nur durch Teilhabe wird gegenständliches Denken »aufgehoben« und somit von seiner Einseitigkeit erlöst, nur Partizipation domestiziert, zähmt im Sinn der Schöpfung und der Menschlichkeit die Domination, das Beherrschen. Wagner sagt, ihre Dreigliederung (Vorhof, Schiff = das Heilige, Chor = das Allerheiligste) ist »Weg-Gestalt der Kirche« (S. 113 f.). Das Gesagte erfordert eine letzte, geistesgeschichtliche Einordnung. Freilich ist Wagner ein Autodidakt, nicht ein ausgewiesener Akademiker. Ist jedoch seine Bildung schon erstaunlich, so ist sein natürliches »Genie«, ich möchte sagen: sein ihn kennzeichnendes Gespür für das Wesen der Dinge noch erstaunlicher. Mit diesem Gespür steht er, ihm durchaus selber bewußt, in einer Linie mit vielen bedeutenden Geistern der Weltgeschichte. Ich nenne nur einige: die Griechen Pythagoras, für den das Wesen der Wirklichkeit die Zahl ist, und Plato mit seiner »Sicht« der der sichtbaren Welt vorgegebenen unsichtbaren Welt der »Ideen«; den Verfasser des biblischen Buches der Weisheit (11,20): Gott hat die Welt »nach Maß, Zahl und Gewicht« erschaffen; ferner den Abt Wilhelm von Hirsau, der darum wußte, daß Harmonie nicht nur in der Musik entsteht, sondern in allem Gestalten, in der Baukunst, der Plastik, der Malerei und der Ornamentik (S. 147). Zu nennen wäre auch Johannes Kepler und seine Einsicht, daß »die unserem menschlichen Geist eingeborenen ‚Urbilder’ uns die Erkenntnis der Vollkommenheit und Harmonie einer von Gott geschaffenen Welt erlauben« (S. 133). In unserer Zeit muß man vor allem Hans Mayer und seine Lehre von der Harmonik der Welt anführen. Das vorliegende Buch verlangt in seinen verschiedenen Teilen nach kritischen Besprechungen; es verlangt auch nach kritischer Würdigung. Um letztere ging es hier vor allem. Kein akademischer Titel ziert Wagner. Er braucht ihn nicht. Das Buch, als Ertrag von solider handwerklicher historischer Arbeit und als Werk eines sehenden, schauenden Geistes, spricht letztlich für sich selbst, gewiß für viele und für lange. Anmerkungen:
Quatember 1998, S. 178-182 |
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