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Das Jesusgebet
Die Antwort auf eine akute Herausforderung
von Georg Günter Blum

LeerAngesichts einer Vielzahl in Westeuropa geübten Formen der Meditation aus dem Buddhismus, dem Hinduismus und dem Bereich der Tiefenpsychologie stellt sich mit immer größerer Dringlichkeit die Frage: Sind wir auf solche Methoden angewiesen? Gibt es nicht auch eine bewährte Form christlicher Meditation, die nicht nur aus der Betrachtung biblischer Worte und Symbole besteht, sondern vielmehr zur Kontemplation führt, zur übergegenständlichen Wahrnehmung des absoluten Grundes unserer Existenz? Und damit verbindet sich zugleich die andere Frage: Wie kann eine solche Alternative christlicher Frömmigkeit als Glaubensvollzug verstanden und theologisch verantwortet werden?

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DAS INNERE GEBET

LeerEinen original christlichen Weg der Versenkung finden wir noch heute in den Klöstern, den Skiten und Einsiedeleien des Athos. Daß die Übung des immerwährenden Herzensgebetes in dieser Mönchsrepublik keine ausgefallene monastische Spezialität ist, zeigt das jüngste Zeugnis dieser Spiritualität, das in Griechenland weit verbreitete, in mehreren Auflagen erschienene Buch des Athosmönches Theklitos Dionysiatis: Metaxy ouranou kai ges (Zwischen Himmel und Erde). Während dieses Buch außerhalb Griechenlands bisher unbekannt blieb, haben die zuerst 1865 in Kazan an der Wolga erschienen „Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers” in vielen Ländern eine weite Verbreitung gefunden. Bis in unsere Gegenwart sind sie in immer neuen Auflagen in deutscher Übersetzung erschienen. Ergänzt wurden diese Erzählungen 1911 aus dem Nachlaß des 1891 verstorbenen Starez Amvrosij von der Optina-Pustin-Einsiedelei, der für Dostojewskij das Vorbild abgab für die Gestalt des Starez Sossima der Brüder Karamasow und der auch auf Leo Tolstoj eine große Anziehungskraft ausübte.

LeerDie Frage, ob sich auch in der Überlieferung des christlichen Glaubens eine mit dem achtgliedrigen Pfad des klassischen Yoga und der Tiefenmeditation des Zen-Buddismus vergleichbare Übung der Versenkung findet, wird durch das Jesusgebet des russischen Bauern in diesen Erzählungen beantwortet. Durch die auf den Rhythmus des Ein- und Ausatmens, dann aber auch des Herzschlages abgestimmte dauernde Wiederholung des einen Satzes „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner” und schließlich nur des einen Wortes „Jesus” kommt es allmählich zur Ablösung von allen Begriffen, Vorstellungen und Bildern und schließlich zur absoluten Ruhe eines inneren Gebetes, bei dem die göttliche Gegenwart jenseits aller diskursiven Objektivierung erfahren wird. Im Gegensatz zu der vorwiegenden rational orientierten Christlichkeit des Westens ist der russische Pilger der Repräsentant eines ostkirchlichen Erfahrungsweges des Glaubens, der in einer bestimmten Methode der Kontemplation begründet ist.

LeerDas klassische Dokument dieser meditativen Gebetsübung ist die in diesen Erzählungen mehrfach erwähnte Philokalia, eine umfangreiche, mehr als 30 Autoren umfassende Anthologie. Diese Sammlung spiritueller Texte wurde erstmalig 1792 in Venedig ediert; sie war eine Gemeinschaftsarbeit des Bischofs Makarios von Korinth und des Athosmönches Mikodemos. Beide waren beseelt von dem Wunsch, die christliche Gebetstradition, angefangen von den Wüstenvätern bis zu ihrer Erneuerung im 14- Jahrhundert und ihrer vorläufigen Zusammenfassung in der Centurie der Mönche Kallistos und Ignatios, den Gläubigen wieder nahezubringen. Schon 1793 erschien in Moskau die von dem Mönch Paisij Velickovskij bearbeitete kirchenslavische Fassung dieses Werkes, das Dobrotoljubie, das einen nachhaltigen Erfolg erlebte und in der slavischen Welt eine Renaissance des religiösen Lebens auslöste. Bis heute prägt diese bedeutende Kompilation spiritueller Tradition die orthodoxe Frömmigkeit. 1877 erschien eine russische, nach dem letzten Krieg eine rumänische Übersetzung. Ebenso wurden in den letzten Jahren Neuauflagen des griechischen Originals des Werkes herausgegeben.

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GEISTLICHE ERFAHRUNGEN

LeerDie Geschichte dieser Spiritualität, deren Zeugnisse in der Philokalia gesammelt sind, müßte erst noch geschrieben werden. Sie beginnt mit den „Sprüchen der Vater”, die keine theologischen Reflexionen wiedergeben, sondern geistliche Erfahrungen berichten. Diese stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der hesychia, jener Ruhe der Seele, durch die der heilige Geist, „das himmlische Feuer der Gottheit” offenbart, wie es Makarios/Symeon in seinen „Geistlichen Homilien”ausdrückt. Als Mittel zur Erreichung dieses Zieles werden schon in den Vätersprüchen Stoßgebete empfohlen, und in der koptischen Fassung der Homilien finden sich erste Andeutungen einer Atemtechnik.

LeerEntbehrt diese Übung des inneren Gebetes noch jeglicher theologischer Reflexion, so versuchte im 4. Jahrhundert Euagrios Pontikos, ein Zeitgenosse des Makarios/Symeon, auf der Grundlage der Theologie des Origenes christliche Spiritualität vom „nous” her zu begründen, dem nach dem Verständnis seines Meisters mit Gott konnaturalen Geist des Menschen. Dieser erhebt sich aus der „praxis”, dem Kampf um die Leidenschaftslosigkeit und dem Bereich der „theoria physike”, der geistlichen Schau der Natur und der Geschichte zur „theologia”, die nichts anderes ist als die Schau Gottes. Wenn der Geist durch Läuterung und höchste Vereinfachung seinen ihm wesensgemäßen Zustand findet, kann es geschehen, daß bei diesem „reinen Gebet” das Licht der Trinität in ihm aufleuchtet als momentane Vorausnahme einer allerletzten Einheit des Erkannten mit dem Erkennenden, wie er sie endgültig nach der Befreiung von allem Körperhaften erfahren wird.

LeerSpäter schildert noch einmal Johannes Klimakos (579-649) ausführlich die praktische Seite dieses Weges zur Vereinigung mit Gott. In seiner Paradiesesleiter beschreibt er in 30 Stufen die sittliche Läuterung und die Loslösung des Gläubigen von der sinnlich und begrifflich erfaßbaren Außenwelt. Der Gipfel wird erst dann erreicht, wenn das Denken zur völligen Ruhe gekommen ist. Der Hesychast „der Stille”, widmet sich dem inneren Gebet, indem er seinen Geist sammelt auf die Monologie, die Anrufung des bloßen Namens Jesu. Dabei soll dieses „Gedenken an Jesus” eins werden mit dem Atem, damit das Auge des Herzens sich öffnet dem unendlichen Licht.

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GLAUBE UND DENKEN

LeerDaß dieser Weg der Vereinigung mit Gott nicht am Denken vorbei, sondern durch das denkende Erkennen hindurch, aber dann gänzlich über es hinaus führt, hatte schon im 4. Jahrhundert mit großer Klarheit Gregor von Nyssa ausgesprochen. So heißt es zum Beispiel in seinem Kommentar zum Hohen Lied:

LeerDie Seele jedoch, nachdem sie vielgeschäftigen Denkens jene ganze überirdische Welt durchwandert und auch unter den Geistigen und Unkörperlichen den Erdürsteten nicht wiedererkannt, verläßt nun alles Gefundene und erkennt den Gesuchten so, daß sie allein im Nichtwissen dessen, was Er ist, begreift, daß Er ist und daß jeder Ihn durchgreifende Begriff dem Hinzustrebenden ein Hindernis da Findens ist” (von Balthasar 65)

LeerIn seinem Leben des Mose beschreibt Gregorios, wie gerade im Wolkendunkel auf dem Berge Sinai die wahre Gottesbegegnung geschieht.

LeerDenn darin liegt die eigentliche Erkenntnis des Gesuchten, darin das Sehen im Nichtsehen, daß der Gesuchte alle Erkenntnis übersteigt, wie durch Finsternis durch seine Unbegreiflichkeit auf allen Seiten abgeschlossen” (Blum 92).

LeerEtwa 100 Jahre später ist auch für Dionysios Areopagites Mose der Prototyp des Suchers, dem Gott via negationis in der Dunkelheit der Wolke des Berges Sinai begegnet. In der Mystischen Theologie heißt es von Mose:

LeerUnd dann machte er sich los von allem, was gesehen werden kann und sieht und sinkt hinein in das wahre mystische Dunkel des Unerkennens, in dem er sein inneres Auge aller erkennenden Auffassung verschließt, und tritt ein in das ganz Unfaßbare und ganz Unsichtbare, ganz dem angehörend, der jenseits von allem ist und niemand mehr angehörend, weder sich noch einem anderen, geeint mit seinem Höchsten auf höchste Weise, mit dem völlig Unerkennbaren durch das Stillstehen aller Erkenntnis übergeistig erkennend dadurch, daß er nichts erkennt” (Ivanka 93),

LeerEs ist deutlich, daß diese prägnante Formulierung der negativen Theologie, - die im Gegensatz zur kataphatischen, der zusprechenden Theologie, alle positiven Attribute Gott abspricht -, in ihrer letzten Intention auf die Vereinigung mit Gott zielt, weil sie sich der meditativen Kraft des inneren Gebetes verdankt. Auch Ausführungen in seinem größeren Werk zur negativen Theologie „über die Namen Gottes” lassen auf diesen Sachverhalt schließen.

LeerWie schon vor ihm Gregorios von Nyssa und Euagrios Pontikos weist auch Dionysios Areopagites darauf hin, daß dieses Übersteigen aller Erkenntnis in einem Akt der Liebe geschieht. Die zentrale Rolle der Liebeshingabe beim Jesusgebet wurde im 5. Jahrhundert besonders von Diadochos von Photike in seiner Centurie zur geistlichen Vollkommenheit herausgestellt: „Allein die Liebe vereint die Seele mit Gottes Kräften, indem sie mit ihrem inneren Sinn den Unsichtbaren sucht” (Kap.1; Frank 49).

LeerTheologie ist für Diadochos Weisheit, die auf die Erfahrung der liebenden Vereinigung mit Gott zurückgeht, und diese Erfahrung entsteht durch das unablässige Anrufen des Namens Jesu. Dadurch wird, wie es heißt, „dieser Name im geistigen Gedächtnis festgehalten und in die Glut des Herzens eingeprägt” (ebd. 59; Frank 81).

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ENTDECKUNG DER CHRISTUS-WIRKLICHKEIT

LeerDiadochos gehört zu den Wegbereitern des Hesychasmus, zu dessen Kronzeugen auf seinem Weg in das Mittelalter im 7. Jahrhundert Hesychios vom Dornbusch-Kloster am Sinai und Isaak von Ninive und um die Jahrtausendwende Symeon der „Neue Theologe” zu zählen sind. Symeon ist das wichtigste Bindeglied zwischen der Spiritualität der Alten Kirche und ihrer hochbyzantischen Ausprägung im 14. Jahrhundert. Für sein Verständnis von Theologie spielt das Jesusgebet eine zentrale Rolle. Höchste Stufe der Theologie ist nämlich für ihn die in der meditativen Versenkung erfahrene Schau Gottes als übersinnliche Vision des Taborlichtes. Die vergottete Menschheit Christi erstrahlt als Offenbarung des Geistes in der Seelentiefe des Menschen. Diese Erfahrung wird in antinomischer Begrifflichkeit zum Ausdruck gebracht:

LeerEs ist ein wahrhaft göttliches Feuer ... unerschaffen und unsichtbar, ohne Anfang und unstofflich, in allem ganz unveränderlich und zugleich unbegrenzt, unauslöschlich, unsterblich, ohne Grenzen irgendeiner Art, jenseits aller Kreaturen, der materiellen und immateriellen, der irdischen und himmlischen” (Hym 30, 1.10f)

LeerDie gnadenhafte Teilhabe am ungeschaffenen Licht ist weder ein bloß geistiger noch ein bloß sinnlicher Vorgang. Es handelt sich vielmehr um das Hinaustreten de Menschen in seiner psychosomatischen Ganzheit aus dem Bereich des Kreatürlichen: „Denn Er ist”, sagt Symenon, „außerhalb von allen Kreaturen. Er wird aber greifbar in ungreifbarer Weise in dieser unaussprechlichen Vereinigung” (Hym 30, 137f).

LeerIn demselben Hymnus umschreibt Symeon diese Erfahrung mit folgenden Worten: „Durch Natur bin ich Mensch, durch Gnade bin ich Gott. Siehe, von welcher Gnade ich spreche, nämlich der Vereinigung mit Ihm in fühlbarer und erkennbarer Weise, wesentlich und pneumatisch...” (Hym 30, 457f). Mit Symeon ist dies das ekstatische Widerfahrnis der in jedem Christen kraft seiner Taufe potentiell gegenwärtigen unerschaffenen Wirklichkeit des verklärten und auferstandenen Christus.

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METHODEN DES GEBETS

LeerDiese Wiederentdeckung der „Taufenergie”, diese Erfahrung des unerschaffenen Lichtes, ist fortan das höchste Ziel des Gebetes der Ruhe. Im Zeitraum von etwa 1250 - 1350 scheint es zu einer weitgehenden Abklärung der Methode dieses Gebetes unter den byzantischen Theologen gekommen zu sein. Besonders zu nennen sind hier Nikephoros Athonites mit seiner berühmten Abhandlung Über die Nüchternheit und die Bewahrung des Herzens, dann ein sonst nicht bekannter Symeon als Verfasser der Methode des heiligen Gebetes und der Aufmnerksamkeit und Gregorios Sinaites, dessen unruhiges Wanderleben ihn vom Berg Sinai zum Athos führte, wo er dem Herzensgebet zu einem entscheidenden Durchbruch verhalf Gemeinsam ist diesen Athosmönchen ihre Relativierung des gedanklich-inhaltlichen Gebetes. Wichtig ist allein, daß beim Beten der Geist in das Herz geführt wird. Der Beter vereinigt seinen Geist n mit der Seele, er verläßt sein diskursives Denken und gelangt so zur wahren Personmitte des Menschen. Die Suche nach der „Energie des Herzens” wird erleichtert durch die von Nikephoros beschriebene Synchronisierung des Atems mit der inneren Anrufung des Namens Jesu und einer bestimmten Körperhaltung, die wie der Lotus-Sitz der Zen-Meditation der inneren Konzentration dienen soll. Symeon beschreibt genau diese Haltung: Das Kinn ruht auf der Brust und der Blick ist auf den Nabel gerichtet.

LeerDiese Psychotechnik des inneren Gebetes wurde schließlich der Anlaß zu einer tiefgreifenden Auseinandersetzung. Barlaam, ein aus Kalabrien stammender Theologe und Vertreter des lateinischen Thomismus, karikiert Anhänger des Jesusgebetes als Ornphalopsg choi, als Nabelseelen. Er spottet über ihren Versuch, mit dem Atem den Geist durch die Nase in einen bestimmten Körperteil führen zu wollen. Angesichts dieses Angriffes erwächst den Hesychasten in dem Athosmönch und späteren Erzbischof von Thessalonike Gregorios Palamas ein Verteidiger größten theologischen Formats. Die einzelnen Phasen des Streites mit Barlaam und dann mi Nikephoros Gregoras und Gregorios Akindynos und die mit ihnen verbundenen politischen Verwicklung brauchen in diesem Zusammenhang nicht weiter verfolgt zu werden. Wichtig für die weitere Geschichte christlicher Spiritualität ist aber, daß Gregorios Palamas in seinem Hauptwerk, den Triaden zur Verteidigung der heiligen Hesychasten, gegenüber der ausschließlich rationalen Argumentationsweise Barlaams und seiner Freunde eine Theologie der geistlichen Erfahrung entwickelt, für die nicht die aristotelische Syllogistik, also das schlußfolgernde Denken, sondern in erster Linie die Antinomie das adäquate Mittel theologischer Aussagen darstellt.

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LeerDer Sache nach geht es in diesem Streit zutiefst um die Frage nach der Möglichkeit einer Vereinigung des Menschen mit Gott. Für die philosophische Betrachtungsweise Barlaams kann es aufgrund des Kausalitätsprinzips neben dem unzugänglichen göttlichen Wesen nur noch geschaffene Wirkungen geben. Eine unmittelbare Kommunion mit Gott ist deshalb unmöglich, denn in keiner religiösen Erfahrung wird die Grenze des geschaffenen zum absoluten Sein überschritten. Beim Taborlicht kann es sich demnach nur um eine metereologische Erscheinung handeln, um ein materielles Symbol der göttlichen Gnade. Auch für Gregorios Planes gibt es ehe absolute Grenze zwischen Geschaffenen und Ungeschaffenen, zwischen dem Wesen Gottes und allen Geschöpfen; abgelehnt wird die platonische Lehre einer Konnaturalität zwischen Geistigem und Göttlichen. Deshalb konstatiert er apophatisch: „Die überwesentliche Natur Gottes kann weder ausgesprochen, noch gedacht, noch gesehen werden” und an anderer Stelle, „Wenn Gott eine Natur ist, dann ist alles andere keine Natur, ja er ist nicht, wenn alle anderen Wesen sind” (Kapitel 78). Gleichwohl gibt es für den Verteidiger des Hesychasmus nicht nur metaphorisch, sondern durchaus realistisch eine Union des ganzen Menschen mit Leib und Seele mit dem gegenwärtigen Gott. In einer Predigt führt er aus:

LeerMit Gott eins werden ist in Wahrheit unmöglich, wenn wir uns nicht außerhalb unser selbst, oder besser gesagt über uns selbst stellen; wir müssen alles verlassen, was der Sinnenwelt angehört und uns auch über unsere Gedanken, Schlußfolgerungen und jegliches Wissen und selbst über unsere Vernunft hinausheben, ganz der Wirkung des geistigen Gefühls hingeben ... alsdann erlangen wir jenes Nichterkennen, das alles Erkennen oder, was das gleiche ist, jede Art von Philosophie übersteigt” (Wassilij 33). In derselben Predigt heißt es dann weiter: „Hesychia ist Stillesein des Geistes und der Welt, Vergessen des Niedrigen, geheimnisvolles Erkennen des Höheren, das Hingeben der Gedanken für etwas Besseres als sie selbst sind. Das ist das wahre Tun, das Aufsteigen zum wahren Sehen und Schauen Gottes ... die Schau ist die Furcht einer gesunden Seele, durch sie wird der Mensch vergöttlicht, nicht dadurch, daß er vom Verstand oder der sichtbaren Welt mit Hilfe einer mutmaßlichen Analogie aufsteigt .... sondern durch einen Aufstieg im wahren Schweigen ... Und so schauen die, die ihr Herz durch solch eine heilige hesychia gereinigt und sich auf unaussprechliche Weise mit dem alles Denken und Erkennen übersteigenden Lichte vereinigt haben, Gott in sich wie in einem Spiegel” (ebd. 33)

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ANTEIL AN DER ENERGIE

LeerWie ist aber angesichts der absoluten Transzendenz Gottes eine solche Erfahrung denkbar? Gregorios deutet die Unio mystica mit Hilfe des patristischen Begriffes der göttlichen Energie. Weder mit dem Wesen noch mit einer Person Gottes ist eine unmittelbare Vereinigung möglich. Es ist vielmehr die vom göttlichen Wesen zu unterscheidende Energie, die eine Kommunion mit Gott ermöglicht, ohne daß damit der absolute Unterschied zwischen Geschaffen- und Ungeschaffensein aufgehoben würde. Wesen und Energie sind nicht zwei Teile des trinitarischen Gottes, vielmehr zwei verschiedene Seinsweisen, die seine Weltüberlegenheit wie auch seine gnädige Zuwendung zum Menschen charakterisieren. Als Selbstmitteilung Gottes vermittelt die göttliche Energie die Teilhabe am göttlichen Licht. Dieses ist keineswegs nur eine Metapher, sondern Inbegriff jener Verwandlung, die Jesus auf dem Berge Tabor erlebte und die auch jedem Gläubigen zuteil werden kann.

LeerWer an der göttlichen Energie Anteil hat, wird gleichsam selbst zum Licht; er ist mit dem Lichte geeint und übersteigt so nicht nur die körperlichen Sinne, sondern auch alles, was durch den Verstand erkannt werden kann. Denn jene, die reines Herzens sind, schauen Gott, der in ihnen wohnt und sich ihnen als Licht offenbart” (Wassilij 87).

Leer1351 wurde die Überzeugung von der den drei Personen Gottes gemeinsamen Energie, die sich den Menschen mitteilt von einer Synode in Konstantinopel als verbindliches Dogma anerkannt Es ist jedoch nicht diese theologische Lehre, die bis in unsere Gegenwart die Frömmigkeit der orthodoxen Kirchen geprägt hat, sondern die immer neue lebendige Erfahrung mit dieser Energie des dreieinigen Gottes. Der Bericht des Richters Motowilow von seiner Begegnung mit Seraphim von Sarow (1831) ist eines der zahlreichen authentischen Selbstzeugnisse ostkirchlicher Spiritualität. Bei der Frage nach der Wirklichkeit Gottes in unserem Leben kommt Seraphim auf die Gnade des heiligen Geistes zu sprechen; sie ist das Licht, das Menschen erleuchtet wie Mose auf dem Berge Sinai und Jesus auf dem Berge Tabor.

LeerAls Motowilow seinen Zweifel an dieser Auskunft äußert und um eine weitere Erklärung bittet, faßt ihn Seraphim an der Hand und sagt eindringlich: „Wir beide, Väterchen, sind jetzt im Heiligen Geist! Warum siehst du mich nicht an?” und Motowilow berichtet nun weiter:

LeerIch antwortete: Ich kann euch nicht anblicken, Vater, aus euren Augen leuchten Blitze, euer Gesicht ist heller als die Sonne geworden und meine Augen brennen vor Schmerz!” „Habt keine Furcht!” sagte Vater Seraphim, „Ihr selbst seid jetzt leuchtend geworden wie ich. Nun seid ihr selber in der Fülle des Heiligen Geistes, sonst könntet ihr mich so nicht schauen!

LeerIn einzigartiger Weise gelingt es Motowilow, das Unsagbare in Sprache zu fassen, das gestaltlose unsichtbare Licht, in dessen Glanz beide gehüllt sind, der Schauende und der Geschaute, zu umschreiben:

LeerAuf diese Worte hin blickte ich in sein Gesicht, und ein großer ehrfürchtiger Schauer überkam mich: Mitten in einer Sonne, wie im hellsten Glanz der Mittagsstrahlen, das Antlitz des mit ihnen sprechenden Menschen. Sie gewahren die Bewegung seiner Lippen, den Ausdruck seiner Augen, Sie hören seine Stimme, Sie fühlen, daß jemand mit seinen Händen ihre Schulter hält. Sie sehen aber nicht diese Hände, Sie sehen nicht sich selbst, auch nicht seine Gestalt - einzig nur den blendenden Schein, der von ihm ausgeht, sich rings um ihn verbreitet und mit seinem hellen Glanz den Schnee auf der kleinen Lichtung beleuchtet ... Unmöglich läßt sich der Zustand beschreiben, in dem ich mich in diesem Augenblick befand” (Smolitsch 214-215).

LeerIn einer Schrift seines Nachlasses, schildert Seraphim in aller Kürze den Weg, der dazu führt, das Licht Christi im Herzen zu empfangen. An erster Stelle nennt er den innigen Glauben an den Gekreuzigten, dann die Reinigung der Seele durch Werke der Buße und Nächstenliebe, dann die Lösung von der äußeren Welt der Dinge und schließlich die Versenkung des Verstandes in das Herz und die unablässige Anrufung des Namens Jesu (Smolitsch 226-227).

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EIN WEG DER KONTEMPLATION DES WESTENS

LeerSo gibt es auf die am Anfang gestellte Frage eine klare Antwort: Nicht nur im Hinduismus und Buddhismus, sondern auch im Christentum ist eine Form der Meditation entstanden, die über eine bloße gegenständliche Betrachtung hinausführt. Eine theologisch begründete Methode einer solchen Kontemplation hat sich allerdings nur in der Ostkirche entwickelt. Zwar kennen große Mystiker des Abendlandes wie Hugo und Richard von St. Viktor und Bonaventura verschiedene Stufen der Betrachtung, die schließlich zur Vereinigung mit Gott führen, aber ebensowenig wie bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse findet sich bei ihnen eine für jeden Christen praktikable Methode für die Übung der Kontemplation. Dies ist auch nicht der Fall bei Johannes vom Kreuz, obwohl er in bisher unübertroffener Weise den Weg der inneren Versenkung psychologisch analysiert und theologisch deutet.

LeerNur in der Wolke des Nichtwissens, der Schrift eines anonymen englischen Autors des 14. Jahrhunderts, finden sich eine Reihe von Hinweisen für die Übung der übergegenständlichen Meditation. Die Neuentdeckung und weite Verbreitung dieses Buches in den letzten Jahrzehnten zeigt daß seine praktische Orientierung einem echten Bedürfnis unserer Zeit entspricht. - Umso mehr legt es sich nahe bei der Suche nach einem bewährten und auch praktisch vollziehbaren Weg der Kontemplation auf das Jesusgebet zurückzugreifen. Es verbindet uns mit einer bis in das 4. Jahrhundert reichenden Tradition christlichen Betens; es führt uns aus der Enge der eigenen Konfession und über die Grenzen römisch-katholischer Frömmigkeit in die Weite ostkirchlicher Spiritualität; dieses Gebet des Herzens öffnet uns den Weg zum tiefsten Geheimnis unseres Glaubens:

LeerIch lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir.” (Gal 2,20).

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Benutzte und empfehlenswerte Literatur

Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, herausgegeben und eingeleitet von Emmanuel Jungclaussen, Freiburg. 16. Auf., 1987.
Byzantinische Mystik. Ein Textbuch aus der Philokalia, ausgewählt und übersetzt von Klaus Dahme Bd. I u. II Salzburg 1989/95.
Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabeticum genannt, eingeleitet und übersetzt von Bonifaz Miller, Freiburg 1965.
Gabriel Bunge, Euagrios Pontikos oder der Mönch. Hundert Kapitel über das geistliche Leben Köln 1989.
Johnnes Klimakos Die Leiter zum Paradies, Heppenheim 1987, übersetzt von Franz von Sales, 1. Aufl., Landshut 1834.
Gregor von Nyssa, Der versiegelte Quell. Auslegung des Hohen Liedes übersetzt und eingeleitet von H. U. von Balthasar, Eisiedeln 1984.
Gregor von Nyssa, Der Aufstieg des Moses, übersetzt und eingeleitet von Manfred Blum, Freiburg 1963.
Dionysius Areopagita, Von den Namen zum Unnennbaren, Auswahl und Einleitung von Endre von Ivanka Einsiedeln 1989.
Diadochus von Photike, Gespür für Gott. Hundert Kapitel über die geistliche Vollkommenheit, eingeführt und übersetzt von K. Suso Frank Einsiedeln 1982.
Syméon le Nouveau Théologien, Hymnes 16-40 ed. Koder/Neyrand, Paris 1971 (SC 174).
Grégoire Palamas, Défense des Saints Hésychastes, Introduction, texte critique et traduction par Jean Meyendorff, Louvain 1959.Mönch Wassilij, Die asketische und theologische Lehre des hl. Gregorios Palamas (1296-1359), Würzburg 1939.
Igor Smolitsch, Leben und Lehre der Starzen, Köln/Olten 1952.
Die Wolke des Nichtwissens, übertragen und engeleitet von Wolfgang Rickle, Einsiedeln 1980.

Quatember 1999, S. 68-77
© Georg Günter Blum

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-23
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