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„Siehe, wir gehen hinauf gen Jerusalem” verkündet die Kirche lange ehe der erste Frühlingsvollmond Ostern herausführt. Wenn die Fastenzeit beginnt, ist in manchem Jahr noch strenger Winter. Aber das Leben harrt schon unter Eis und Schnee, in der Stille der Winternacht sammeln sich die Kräfte, die zu Ostern zum neuen Tag des Lebens hervordringen. Aber ehe uns die Auferstehungsbotschaft das Neuwerden der Natur in seiner letzten Tiefe deutet, schreiten wir durch die Wochen der „Fasten”. Wie ein Schläfer in den mitternächtigen Stunden in tiefem Schlummer ruht, gegen Morgen aber beginnt seine Phantasie das Gaukelspiel bunter Träume, so ist im natürlichen Jahreslauf auf die gesammelte Stille des Mittwinters (die nur unsere Weihnachtsgeschäftigkeit, sehr zu Unrecht, zerreißt) eine Zeit gefolgt, der die Sammlung zur Arbeit und zur Ruhe in gleicher Weise fehlt, die zerflattert oder höchstens zu Scherz und Ausgelassenheit fähig ist (Karneval). Diesem natürlichen Verlauf der Dinge fällt auch schon der Abschluß der Epiphanienzeit überall da zum Opfer, wo der Wille zur geistlichen Lebensgestaltung nicht sehr stark entgegenwirkt. Die Aufgabe der Kirche gegenüber einem Lebenstrieb, wie er sich im Mummenschanz und in der ausgelassenen Geselligkeit der Faschingszeit äußert, muß ein andermal einer näheren Prüfung unterzogen werden; wir merken, daß hier weder die Verbrämung eines verantwortungslosen Trubels mit Wohltätigkeitszwecken, noch die puritanische Verbannung von Spiel und Scherz aus dem christlichen Leben das Richtige trifft. Wir wenden uns für dieses Mal der anderen Aufgabe zu, jene nächste Stufe im Erwachen des Jahres zu durchforschen, die seit alters die Fastenzeit, im Protestantismus auch weithin die Passionszeit heißt. Fastenzeit heißt dann Entschiedensein für das Hineinnehmen des Christusschicksals ins eigene Leben, heißt Bereitsein für Kampf und Leiden, heißt sich sammeln („konzentrieren” = den Mittelpunkt wiedergewinnen) unter dem Kreuz, um das Wunder der Auferstehung als eigenes Schicksal zu erfahren. „Hilf, daß wir kreuzigen durch Dein Kreuz Fleisch und Welt”. Das bedeutet nicht, daß man sich vierzig Tage lang in die Leidensgeschichte der Karwoche versenke oder gefühlig in ihr schwelge. Noch zu Johann Sebastian Bachs Zeiten wurde die Passion allein in der Karwoche gelesen und gesungen, wie es darum auch unsere Lesetafel vorsieht. Vielmehr ist der Weg Christi von der Stunde an, wo er unter der Todesankündigung steht, eben das, wessen wir bedürfen, um das Sich-Sammeln auf die Kampfesaufgabe eines todgeweihten Lebens zu lernen. Wenn einst in der alten Christenheit Taufbewerber und Büßer in dieser Zeit durch Fasten und Prüfungen bereitet wurden für die Verwirklichung der Ostergnade in ihrem Leben (also für Taufe und Wiederaufnahme zu Ostern), so ist dies der bleibende Sinn der Fastenzeit: „Ein jeglicher, der da kämpft, enthält sich alles Dings” (1. Korinth. 9,25). Kein Zweifel, daß unserer Zeit diese Zuspitzung des Lebens auf ein mit ganzem Herzen ergriffenes Ziel, daß unserer Kirche in all ihren Gliedern diese Sammlung auf eine den ganzen Menschen in sich hineinziehende Aufgabe hoch von Nöten ist. Welche Zugänge hat unsere Zeit zum „Fasten”? Die alten Fastenordnungen der Kirche sind bei uns in vier Jahrhunderten langsam zerfallen; als letzter Rest ist hie und da noch der nüchterne Abendmahlsgang bekannt. Die römische Kirche hat rechtlich, theoretisch, die Vorschriften aus dem Altertum aufrechterhalten, verkündigt aber Jahr für Jahr in den bischöflichen Fastenbriefen eine weitgehende „vorübergehende Aufhebung” dieser Ordnungen - ein Zeichen dafür, daß sie mit einer weitreichenden Verständnislosigkeit gerade gegenüber dieser Grundordnung altchristlichen Lebens rechnen muß. Aber es sind heute doch auch gewisse Voraussetzungen gegeben für ein neues Verständnis und eine neue Bereitschaft zum Fasten. All dies bringt an sich noch nicht das hervor, was im altchristlichen Sinne fasten heißt. Die lebensreformerische Enthaltung ist in der Regel verknüpft mit einer - verstandes- oder gefühlsmäßigen - Verwerfung derjenigen Gottesgabe, deren Verzicht man sich auferlegt hat. Die volkswirtschaftliche Erwägung führt selten bis zu einer entsprechenden Durchgestaltung des eigenen Privatlebens. Die unfreiwilligen Entbehrungen, wie die Wirtschaftskrise sie mit sich bringt, wecken meist alles andere eher als die Bereitschaft zu willigem Entsagen. Erst da, wo alles dies zusammenkommt, der Instinkt für das Natürliche, das Wissen um die Zusammenhänge der Wirtschaft und ein persönliches Aufsichnehmen und Tragen der schicksalsmäßigen Lage, erst da kann die Kenntnis der alten kirchlichen Fastenordnungen zu Ansätzen einer neuen, evangelischen Fastenzucht führen. Einige Beispiele sind in der letzten Zeit bekannt geworden. In Dresden hält die evangelische Kirche jedes Jahr in der Adventszeit eine besondere Fastenwoche zugunsten der Arbeitslosen. In Kronstadt haben die Siebenbürger Sachsen durch einstimmigen Beschluß der Kirchenvertretung die vier alten Bußtage wieder eingeführt, die ja aus den vier altkirchlichen Fastenzeiten, Quatember genannt, entstanden sind; an ihnen sollen sich alle Glieder der Gemeinde des Trinkens und Rauchens völlig enthalten oder sich sonst Entbehrungen auferlegen, um für die große Volksnot opfern zu können. Wo solche gemeinsamen Beschlüsse nicht vorliegen, haben wir es natürlich wesentlich schwerer. Dennoch wollen wir in diesem Jahr nicht auf einen warten, der es uns vorschreibt oder vormacht, sondern (jeder an seinem Orte) uns besinnen, welche Einschränkungen gerade von uns im Frühjahr 1932 gefordert werden. Vielleicht gelingt es doch auch hie und da Gemeinden, sich angesichts des Ernstes der Lage zu einheitlichen Entschlüssen aufzuraffen. Vielleicht aber gehörst du schon zu denen, die ungleich größere Opfer tragen als die Welt um sie her. Dann will dir diese Zeit dazu helfen, den Segen deiner Enthaltung zu sehen und wirklich werden zu lassen, will dich bewahren, daß du nicht angesteckt werdest von dem „Fasten der Heuchler”, das heißt, von der Bitterkeit des unfreudigen, weil unfreiwilligen Verzichtes, die so viele Opfer der Kriegszeit wertlos gemacht hat und auch jetzt noch die Gefahr unseres „Fastens” ist. Haben wir einmal grundsätzlich Stellung gefunden zu dem, was Fastenzeit sein soll und von uns will, dann erschließt sich uns auch die Ordnung ihrer einzelnen Wochen. Der Taufbewerber sollte einst in dieser Zeit gewappnet werden zur Absage an die dämonischen Mächte dieser Welt; der Büßer sollte gefeit gemacht werden gegen ihre Versuchungen, denen er aufs neue erlegen war; die ganze Gemeinde sollte aufgerufen werden zum Widerstand gegen die Teufel, die nur ausfahren durch „Gebet und Fasten” (vgl. die Lesung am Aschermittwoch!). Deshalb beginnt auch für uns die Fastenzeit (nach einem Vorspiel von vier Werktagen) mit dem Sonntag der Versuchung, der uns Christus zeigt als den Überwinder des Satans (Invokavit). Die Reminiszere-Woche spricht von dem Gehorsam, der aus dem Hören kommt. Das Evangelium des Sonntags Okuli (Mittfasten) ist eine Vordeutung auf den Ostersieg Christi; im übrigen stehen diese Woche und die nächste unter dem Bilde des brüderlichen, opferbereiten Dienstes. Weil der Sonntag eine Feier der Auferstehung Christi ist, auch in der Fastenzeit, so bringt Lätare wieder ein Evangelium der Vorfreude auf Ostern: es zeigt uns das Opfer Christi im Bilde des heiligen Mahles seiner Gemeinde. Auch an Judika ein Sonntags-Evangelium der Vordeutung auf das Osterfest; im übrigen beginnt mit dieser Woche das eigentliche Passionsgedächtnis, das sich dann in der Karwoche vollendet. Von der besonderen Bedeutung dieser Passionszeit im engeren Sinn des Wortes ist hier nicht zu handeln; es fehlt auch hier nicht an Vorahnungen der Auferstehungsfreude: das Hosianna des Palmsonntags und das Gedächtnis des Herrenmahls am Gründonnerstag müssen so verstanden werden. Sind wir den Weg der Kirche durch die Fastenzeit innerlich mitgegangen, so wird auch unser Passionsgedächtnis dadurch in seiner Art weitgehend bestimmt sein: wir werden keine Freude finden an wortreichem Schwelgen in den Leiden Christi, sondern wissen, daß es „stille Woche” ist, die jede Spur des eigenen Ruhmes, wie er aus unserem „Fasten” entsprungen sein könnte, austilgt durch die Erkenntnis des mea culpa, mea maxima culpa. Denn hier, unterm Kreuz, stehen die Nöte der Welt nicht mehr vor uns als Anlässe zu frisch-fröhlichem Entsagungskampf, sondern als das im menschlichen Willen verwurzelte Böse; hier findet auch das bestgemeinte Ringen um eine schöpfungsgemäße Lebensordnung seine Grenze, und Gott allein hat das Wort. Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1931/32, S. 39-42 |
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