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Der Christ im Wahlkampf
von Karl Bernhard Ritter

LeerDie Beobachtung der schweren politischen Kämpfe, in die sich unser Volk in diesem Frühjahr verstrickt fand, hatte etwas eigentümlich Erregendes. Das erste Gefühl, das sich aufdrängte, war: hier wird nicht mehr diskutiert, ein Für und Wider politischer Maßnahmen erörtert, im Kampf nach Wegen gesucht zur Erfüllung bestimmter Gegenwartsaufgaben des Staates. Soweit politische Redner im Wahlkampf sich noch um eine derartige Auseinandersetzung mit dem Gegner bemühten, hatten sie kein Publikum. Die Parteien, die ihrer ganzen Herkunft und Zielsetzung nach auf diese Art des politischen Kampfes angewiesen waren und allein in ihm ihre Daseinsberechtigung erweisen konnten, sind durch das Wahlergebnis zur Bedeutungslosigkeit verurteilt worden. Übrig geblieben sind die Gruppen, die sich selbst als „Weltanschauungs”parteien oder Bewegungen verstehen. Aber dieser Ausdruck ist unzulänglich. Hinter diesen Weltanschauungen birgt sich ein Glaube religiöser Art, säkularisierte Religion. Daher die tiefe Leidenschaftlichkeit des Kampfes, daher der Absolutheitsanspruch der Fronten, in denen sich kommunistischer und nationalistischer Erlösungsglaube Erlösungsglaube gegenüberstanden , zwischen denen sich nur die durch ihre bisherige Geschichte zu festgefügter Organisation geschweißte sozialdemokratische Partei, die Gruppe also des humanitären Sozialismus, und die Partei des römischen Katholizismus behaupten konnten. Abgesehen vom Zentrum gibt es also nur noch „sozialistische” Parteien. Die Vertreter des politischen und wirtschaftlichen Individualismus sind ausgeschaltet worden, sie sind auch da, wo sie unter der nationalen Parole auftraten, kein Machtfaktor geblieben.

LeerDas katholische Zentrum hat sich gehalten. Der Protestantismus dagegen ist mit einer erschütternden Widerstandslosigkeit dem Säkularisationsprozeß verfallen. Der katholischen Partei fehlt daher der Gegenspieler: eine Gruppe, die, von evangelischem Glauben getragen und in ihrem politischen Urteil geformt, auf protestantischer Seite dem Anheimfallen der religiösen Gläubigkeit an politische Wunschziele wehren könnte. Das muß festgestellt werden auch dann, wenn man - mit Recht - eine „christliche Politik” um der Scheidung der Sphären des Reiches Gottes und des Staates willen ablehnt. Denn gerade die Durchsetzung dieser Scheidung und damit die Möglichkeit, in der Politik dem Urteil des christlichen Gewissens Raum zu schaffen, wäre ja die Aufgabe einer solchen Gruppe. Im Protestantismus ist das Christentum zur ohnmächtigen Privatangelegenheit geworden. In den Raum, in dem heute letzte Hingabe und Leidenschaft eingesetzt werden, in den politischen Raum, wirkt diese Privatreligion nicht mehr hinein. Das heißt aber: mit dem wirtschaftlichen und politischen ist auch der religiöse Individualismus an seinem Ende angelangt. Als eine die politischen Lebensäußerungen unseres Volkes bestimmende Macht erwies sich das Christentum da, wo es Kirche ist und in seinem Kirchesein leibhafte Wirklichkeit hat, nicht aber da, wo es zur Ideologie geworden ist, zur theologischen Randbemerkung am Rande des Lebens.

LeerFür die innere Schwäche des protestantischen Christentums gegenüber dem Unbedingtheitsanspruchs des politischen Willens hat der Wahlkampf auch im einzelnen erschreckende Beweise gebracht, im Verhalten von Dienern der Kirche, die sich plötzlich in hemmungslose Diener einer politischen Bewegung verwandelten und in einem politischen Glauben ihr Herz entdeckten, und in dem Fanatismus „kirchlicher” Kreise, die über den politischen Gegensatz jede auch nur menschliche, geschweige denn christliche Gemeinschaft mit dem politischen Gegner unbedenklich zerbrechen ließen.

LeerMit dem pseudoreligiösen Charakter der politischen Kämpfe hängt auch die Dämonie zusammen, die sich in diesen politischen Kämpfen stärker als je vorher auswirkte, die Dämonie eines politischen Willens, der sich bewußt und unbewußt aller Mittel bedient, um sich die Masse „hörig” zu machen. Ist das Ziel „heilig”, dann erscheint freilich jedes Mittel durch dieses Ziel geheiligt, denn wo sollte die Instanz gefunden werden, die dann noch zwischen Gut und Böse scheidet?! Wenn ein Berichterstatter von Rußland erzählt, daß dort die Entscheidung des Kollektivs jede persönliche Gewissensentscheidung ausschaltet - was das Kollektiv beschließt, ist gut, was es verwirft, ist böse - so konnte man praktisch diese Haltung auch bei uns, und zwar auf allen Seiten, beobachten.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1932, S. 125-126

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-24
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