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Die Arbeitslosennot als Frage an die Kirche
Ludwig Heitmann

LeerEs lag in der Natur der Sache, daß die Kirche im Angesichte der so jäh und in so unheimlichem Umfange über unser Volk und über die Welt hereinbrechenden Arbeitslosigkeit zunächst an den Punkten und mit den Mitteln zugriff, die ihrer gewiß schwachen, aber doch bereitliegenden Kraft zugänglich waren. Wo sie konnte, stellte sie zusätzliche Arbeit bereit, wehrte sie durch ihre gemeindliche Hilfe dem Hunger. In der Not des letzten Winters hat die Kirche ein großes Stück Arbeit geleistet. Darüber hinaus griff sie sofort das seelische Problem an: sie sammelte arbeitslose Menschen, namentlich jugendliche, in Erwerbslosenheimen, in Kursen, in Arbeitslagern. Sie stellte ihre Verkündigung stark auf die seelische Lage der Menschen ein, die zwangsläufig aus dem Arbeitsprozeß ausgeschaltet waren. In dem allen freilich blieb sie der Leichter, der sich neben das bis zum Sinken belastete Staatsschiff legte und bereitwillig den Teil der Ladung übernahm, den er bergen konnte.

LeerErst langsam griffen ihre Gedanken über diese nächstliegende Hilfe hinaus. Es bleibt der Verdienst kirchlicher Kreise, daß sie von Anfang an die Aufgabe der Siedlung ins Auge gefaßt und stark betont, ja auch praktisch in Angriff genommen haben. Gerade weil hier ungeheure Schwierigkeiten zu überwinden sind, kann nur eine Schau, sie mehr als das Nächstliegende und das sofort praktisch zu Verwirklichende sieht, so energisch nach dieser Seite hin zielen. Unter dem Zwange der wachsenden und in absehbarer Zeit gar nicht zu beseitigenden Not stellt sich auch der Staat mehr und mehr auf dies Problem ein, das freilich für ihn notgedrungen zu einer ungeheuer schwierigen und nur in kleinstem Umfange zu lösenden Finanzfrage wird.

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LeerSchon an diesem Punkte wird deutlich sichtbar, daß die Arbeitslosennot über die reine Wirtschaftsbetrachtung der Zeit hinausdrängt und nach Wirklichkeitskräften ruft, die jenseits der dem technischen Zeitalter geläufigen Berechnungen liegen. Die Siedlungsfrage ist ohne ein in der Tiefe gewandeltes Menschentum überhaupt nicht zu lösen. Schon die ersten Beobachtungen aus den der Umschulung auf die ländliche Siedlung dienenden Betrieben weisen in die Richtung, daß imgrunde der typische Großstädter, der individualisierte, geistig bewegliche, technisierte Mensch garnicht umgeschult werden kann, daß vielmehr die wirklich brauchbaren und hoffnunggebenden Elemente aus den noch dumpfen, naturgebundenen, geistig anspruchslosen, zähen Menschenschichten kommen, die es - glücklicherweise - auch in der Großstadt immer noch gibt. So käme es also schließlich auf eine Rückverpflanzung dieses durch den modernen Kulturprozeß noch nicht oder nur geringfügig gewandelten Menschentyps in die ursprüngliche Naturlage hinaus. Das freilich wäre alles andere als eine Lösung der gegenwärtigen Notlage, das wäre höchstens die „Rettung eines Restes”.

LeerHier bricht bereits die entscheidende Frage auf, ob es wirklich nur diese beiden Menschentypen gibt: den naturgebundenen und den technisierten. Die Kirche weiß um einen dritten Menschentyp, der weder das eine noch das andere ist, sondern der aus der Entwicklungskrisis des gesetzlich bestimmten (technisierten) Lebensstadiums in eine neue Wandlung getreten ist, die man als die „Rückkehr zum Kindsein” bezeichnen kann, einen Typ, der nicht wie die beiden anderen ein Produkt der Verhältnisse ist, sondern geworden durch ein Schicksal, das ihn über eben diese Verhältnisse hinausgeführt hat. Dieser Menschentyp ist wieder, ja viel besser geeignet, unter ganz einfache Lebensbedingungen zurückzukehren, weil in ihm unter der äußeren Anspruchslosigkeit eine ganz neue, tiefere Geistigkeit lebendig ist, die wieder unter dem Einfältigen, Naturhaften das Wesentliche schauen und gestalten kann.

LeerDieser Menschentyp ist von entscheidender Bedeutung nicht nur für das Siedlungsproblem, sondern für die Arbeitslosenfrage überhaupt, ja für die schwere Lebenskrisis, die sich in der Überspitzung der Technik, in der Wirtschaftslähmung, in der sozialen Zersetzung und in allen andern hoffnungslos erscheinenden Zeitsymptomen auswirkt. Denn alle diese Symptome sind nicht etwa Übergangserscheinungen, sondern Zeichen des „Endes”. Die Wirtschaftsführer, die leitenden Techniker, die weiterschauenden Kaufleute, auch einige einsichtige Staatsmänner sind sich darüber längst im Klaren. Die großen Massen freilich, besonders die verschiedenen Schichten des Bürgertums, halten krampfhaft an dem sich längst überschlagenden und weithin bereits leerlaufenden Leistungssystem fest. Sie schicken unentwegt ihre Kinder in Laufbahnen hinein, die im Nichts enden müssen. Hier steht die Kirche vor der sehr ernsten Frage, ob sie Verantwortung und Mut genug besitzt, ihre Lebensbotschaft entschlossen in denn Todeslauf der Zeit hineinzurufen. Das Arbeitslosenproblem, das durchschlagendste Todessymptom unserer Zeit, ist heute auf technische Weise nicht mehr zu lösen, denn es bedeutet den Bankrott einer Lebenshaltung, die sich in Technik und Wirtschaft des Renaissancemenschen ihren sichtbarsten, heute zerfallenden Ausdruck geschaffen hatte. Es ist Hinweis auf das Ende und kann darum Wegbereiter der Lebensbotschaft werden.

Linie

LeerDie Kirche freilich sitzt noch so tief in dem Glauben an die „Macht des Menschen”, und damit an die Wirtschaftsmethoden und den technischen Rausch (Rundfunk!) einer untergehenden Epoche, daß sie ihren Auftrag der Zeitnot gegenüber überhaupt noch kaum sieht. Den „Fluch des Gesetzes” durch die Botschaft von der neuen Schöpfung in Christus zu bannen und zu lösen, ist der ihr vom Ursprung her gegebene Auftrag. Wo daher echte Kirche lebendig gewesen ist, hat sie um ihre Botschaft - freilich in ungezählten Schattierungen - immer jenen Menschentyp gerufen und gesammelt, von dem wir oben sprachen. Sie muß sich von dem Wahne befreien, als ob ihre Aufgabe darin bestände, einen technischen Beitrag zur Lösung der Arbeitslosennot zu liefern. Sie wird gewiß im einzelnen die vor ihrer Tür liegende Not lindern, aber ihr Grundauftrag bleibt dieser: den Gehorsam gegen die Botschaft zu erfüllen und diese zu verkündigen, d. h. echte Kirche zu sein. In der Kirche stehen heißt: sich der neuen Schöpfung öffnen, die in Christus gegeben ist. Die Neuschöpfung des Geistes sprengt die Fesseln des Gesetzes, d. h. für unsere Lage das auf den einzelnen eingestellte Leistungssystem, die Rekordsucht, die Wirtschaftsknechtschaft und drängt hin auf die Einfalt, die Gemeinschaftsgebundenheit, den Dienst, das Opfer. Echte Kirche ist daher immer Siedlung, die sich herausgerufen weiß, die die verschiedensten Formen annehmen kann, vom Kloster bis zur Großstadtgemeinde, von der Familie bis zur Bruderschaft.

LeerDiese aus einem gewandelten Menschentum naturhaft gewachsene Siedlung ist keine Generallösung des Arbeitslosenproblems. Zu lösen ist dieses überhaupt nicht. Es ist vielmehr der heute nicht mehr mißzuverstehende Hinweis auf die Verlorenheit einer Welt, in der der Mensch und seine Höchstleistung das Maß aller Dinge ist; es ist Symbol des Untergangs. Daß aber über dem Untergang eine Hoffnung auf eine andere Welt leuchtet, dafür kann die echte Siedlung für Augen, die für die neue Welt geöffnet sind, ein Hinweis werden.

LeerMan kann auch einen neuen Menschentyp nicht künstlich oder planmäßig züchten, ebenso wenig wie man Quäker oder Brüdergemeinden oder bündische Jugend züchten kann. Dieser wird geboren, aber nicht gezogen. Aber wo er geboren ist, soll er sagen, daß er da ist, soll er es verkünden in einer siedlungsmäßigen Lebenshaltung, die viele Menschen mit Wenigem leiblich-seelisch-geistig satt machen kann.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1932, S. 126-129

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-24
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