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Leitsätze über Innere Mission
von Wilhelm Thomas

LeerSeit Erscheinen der „Jahresbriefe” möchten wir gern ein Wort zu den Vorgängen in der Inneren Mission Deutschlands sagen, zu den Erschütterungen, die durch einige mit ihr in Verbindung stehende wirtschaftliche Unternehmungen über sie gekommen sind. Die Ungeklärtheit der Lage hat uns immer wieder davon abgehalten. Aber vielleicht darf heute schon ein Wort mehr grundsätzlicher Art gesagt werden im Anschluß an das zu Laurentiustag Gesagte. Wir hoffen, daß bis zum nächsten Brief auch eine Stellungnahme zu den in den Berliner Prozessen verhandelten Vorgängen möglich ist.

Leer1. Die Innere Mission sollte nach der Meinung Wicherns den Versuch der deutschen evangelischen Kirche darstellen, angesichts der Gefahr ihres Erstarrungstodes eine lebendige Form ihrer selbst aus sich herauszusetzen, eine Form, in der sie den Aufgaben der Zeit gewachsen, in der sie befähigt wäre, wieder sie selbst zu sein. Aber man sah zu jener Zeit in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Verkümmerung des christlichen Gemeindelebens nur in ihrem Versagen gegenüber einzelnen sozialen Schäden und Weltanschauungsnöten der Zeit und glaubte ihr begegnen zu können in dem Werk einer vereinsmäßig organisierten Diakonie und Apologetik („Evangelisation”), das  n e b e n  der Kirche aufgebaut wurde.

Leer2. Dennoch hat dieser Versuch das kirchliche Leben gefördert. Die ursprünglich neben den erstarrten kirchlichen Organismus gesetzten Organisationen der Inneren Mission fangen heute an, anerkannte Organismen des kirchlichen Gesamtkörpers zu werden. Dadurch werden der Kirche wesentliche Lebensfunktionen wiedergeschenkt, die durch die Vereinsform der Inneren Mission zunächst gerade bedroht waren. Die Kirchengemeinden sind heute durch die von der Inneren Mission geschulten Kräfte (Diakone, Diakonissen, Fachpfarrer) in der Lage, ihr Leben über das rein Gottesdienstliche hinaus in Wohlfahrts- und Krankenpflege, Jugendführung und Weltanschauungskampf zu betätigen.

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Leer3. Wenn der Versuch  g a n z  hätte gelingen sollen, so hätte die Erneuerungsbewegung  a l l e  Seiten des kirchlichen Lebens ergreifen müssen. Die Notwendigkeit dazu hatte ein Wichern durchaus verspürt: in seiner Rede auf dem Wittenberger Kirchentag 1848 sagte er: „Es bedarf einer Reformation, vielmehr einer Regeneration aller unsrer innersten Zustände”. Stattdessen brachte die innere Mission einen einseitigen Vorstoß in die Profanität, in die Weltgestaltung und ließ es fehlen an der ebenso nötigen, ja wegen der Einseitigkeit dieses Vorstoßes doppelt nötigen gleichzeitigen Verankerung des christlichen Lebens im Gottesdienstlich-Sakramentalen. Es war nur eine Folgeerscheinung dieser Einseitigkeit, daß von einer Erneuerung der kirchlichen Verfassung ins Geistliche hinein nicht die Rede war: die Innere Mission ergänzte nur die profane Regierungsform der Kirche, den Behördenapparat, durch zwei nicht weniger profane: den Vereinsvorstand und den wirtschaftlichen Unternehmer. Nicht als ob das Gottesdienstliche in der Inneren Mission irgendwo ausgeschaltet worden wäre; aber es führte in der Regel nicht über das kultische Leben des Neupietismus hinaus: die an den bewußten Willen gerichtete Predigt (vor allem auch in gedruckter Form: Schriftenkolportage, Sonntagsblätter), Pflege des sog. geistlichen Liedes und Pflege des freien Gebetes, das war der Kern des gottesdienstlichen Lebens, wie es die Träger der Inneren Mission lebten und ihrem Werk eingliederten.

LeerEs soll freilich nicht übersehen werden, daß es gerade in der Anfangszeit auch Symptome eines Versuchs gab, die Aufgabe ganz umfassend anzugreifen. Das „Gesang- und Gebetbuch” des Rauhen Hauses (Hamburg 1846) beginnt mit einer Anleitung zur Psalmodie im 8. Psalmton römisch, vierstimmig mit Cantus firmus im Tenor: hier meldet sich so etwas wie ein entferntes Ahnen um den objektiven Wert und die seelische Tiefenwirkung eines durchaus nicht emotional-voluntaristisch (gefühlig-willentlich) gemeinten Gottesdienstlebens. Sehr viel deutlicher hat um diese Dinge Wilhelm Löhe in Neuendettelsau gewußt, der Schöpfer der „Gesellschaft für äußere und innere Mission im Sinne der lutherischen Kirche”. Hier ist eine sakramentale Frömmigkeit zur Grundlage allen Wirkens nach außen hin gemacht, wie sie sonst im 19. Jahrhundert sogar im Luthertum selten ist. Aber all das hat das Gepräge der Inneren Mission nicht wesentlich bestimmt. Gewiß wäre es ein Unrecht, wenn man behaupten wollte, die Innere Mission sei in der Lebendigkeit des gottesdienstlichen Lebens hinter der parochial verfaßten Landeskirche zurückgestanden; aber es wäre eben notwendig gewesen, daß ein kirchlicher Organismus, der sich so stark ins Werk in die sozialpolitische und weltanschauliche Öffentlichkeit hinauswagte, umso mehr zugleich sein gottesdienstliches Leben vertieft hätte gerade in das Kontemplative und Sakramentale hinein.

LeerMan kann wirklich nicht sagen, zur Befriedigung der gottesdienstlichen Bedürfnisse sei doch die landeskirchliche Parochialgemeinde dagewesen. Dem Verwaltungskörper des Staatskirchentums fehlte es ja an der Kraft wirklich sakramentaler Gottesdienstgestaltung genau so sehr wie an der Kraft einer Durchdringung des profanen Werklebens. Nehmen wir ein Beispiel an dem beides zugleich sichtbar wird. Wo haben die deutschen Kirchen etwas Durchgreifendes unternommen, um dem im Großstadttrubel gehetzten Menschen mitten im werktag Minuten der Andacht in günstig gelegenen Kapellen zu geben? Und warum hat, wenn es von der Kirche aus nicht geschah, nicht die Innere Mission die Aufgabe aufgegriffen? Sie hätte es ohne Zweifel getan, wenn sie die Bedeutung und die Möglichkeit dieses Dienstes erkannt hätte; aber sie hat ihn nicht erkannt, weil sie im gottesdienstlichen Leben eigentlich nur den Willensimpuls von Person zu Person, nicht die Kraft überpersönlicher, die Hintergründe des Lebens durchdringender kirchlicher Sitte erkannte und schätzte.

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LeerMan kann also kurz sagen: wenn die Innere Mission heute von Gefahren umdroht ist, denen sie sich nicht überall gewachsen zeigt, so deshalb, weil sie sich zu weit vorgewagt hat ins Werk, in die Welt, in die Profanität. Nicht als ob dieser Vorstoß nicht unternommen werden mußte, aber er durfte nicht gewagt werden ohne die Sicherung eines gottesdienstlichen Rückhaltes, der gegen die Dämonien nervöser Geschäftigkeit, erfolgssüchtigen Leistungsstrebens und wirtschaftlichen Kraftrausches wirkliche, den Menschen in seiner Tiefe formende und tragende Gegenmächte aufzubieten wüßte.

Leer4. Was soll geschehen? Es ist an sich völlig gleichgültig, ob die Innere Mission wieder von der Kirche aufgesogen wird oder die Kirche von der Inneren Mission; umso gleichgültiger, als auf keinen Fall die Parochialgemeinde als einzige Grundlage der Erneuerung der Kirche ausreicht, sondern daneben die Anstaltsgemeinde und die Freizeitgemeinde als Träger gesteigerten gottesdienstlichen Lebens unentbehrlich sein werden. Vielmehr kommt es einzig und allein darauf an, daß die polare Spannung zwischen Werk und Gebetsleben, willensbewußtem Angriff auf die profane Welt und zweckfrei besinnlichem, sakramentalem Kultus in allen Stücken des christlichen Lebens als Notwendigkeit gespürt und als Wirklichkeit gestaltet werde. Jede Zelle kirchlichen Lebens muß an den Grundlebensfunktionen des Leibes Christi in ihrer Weise teilhaben: an der Mission, an der Verkündigung, an der Seelsorge, am sozialen Liebeswerk, am Weltanschauungskampf, am gottesdienstlichen Gebet, am Sakrament. Daß dieses Ziel erreicht werde, dazu brauchen die Kirchen - besonders die Kirchenleitungen, die Gemeinden sind hierin schon weiter fortgeschritten - ganz andere Bereitschaft und Kraft in die profane Wirklichkeit der Welt hineinzuwirken durch das Zeugnis der Liebestat und des bekennenden Wortes. Dazu braucht die Kirche aber auch in allen ihren Erscheinungsformen, als landeskirchliche Leitung und Parochialgemeinde, als Werk der Diakonie und als geistiges Ringen um die Zukunft der Christenheit, Bereitschaft und Kraft zu einem Gebets- und Sakramentsleben, das Feiertag und Alltag umspannt und den Menschen jenseits seines (weltlichen oder geistlichen) Werkes verankert. Dazu braucht alles geistliche Leben und Wirken endlich eine Leitung und Führung, nicht in den Formen des Vereinslebens, noch in den Formen kaufmännischer oder bürokratischer Verwaltung, sondern durch den priesterlichen Dienst solcher Menschen, die aus dem Versenktsein in das Gottesdienstleben der Kirche Kraft und Vollmacht zum Amt der Leitung schöpfen.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1932, S. 129-131

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-24
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