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Die Fehler der Brüder
Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, 19. Juni 1933,
in der Apostelkirche zu Münster
von Wilhelm Stählin

Liebe Gemeinde!

LeerWas ist es mit der „Christlichen Schar”, mit der wir uns auffordern lassen, Gott getrost mit Singen zu loben? Es ist wesentliches und unveräußerliches Stück unserer evangelischen Theologie, unserer Lehre von der Kirche, daß diese christliche Schar, die Kirche Gottes auf Erden, eine Kirche der Sünder ist; die Kirche, die Gemeinschaft der „Heiligen” Gottes auf Erden, eine Gemeinschaft sündiger Menschen.

LeerAber es ist ein Unterschied, ob man sozusagen auf der theologischen Ebene dieses Anliegen wahrt und vertritt und dafür sorgt, daß dieses Wissen um die Sündigkeit der Kirche und ihrer Glieder in der theologischen Besinnung und Rede nicht verleugnet oder vergessen wird, oder ob uns diese Sündhaftigkeit der christlichen Schar als lebendige Wirklichkeit auf den Leib rückt. Es kann für uns alle eine sehr erschütternde Erfahrung sein, wenn diese Wirklichkeit uns gewissermaßen auf dem Wege überfällt. Von zwei Seiten her kann das geschehen.

LeerEs geschieht, wenn wir eines Tages sehen und darauf achten müssen, daß die Menschen, mit denen zusammen wir in einer Kirche singen und beten, die Menschen, mit denen zusammen wir an der Feier des Heiligen Abendmahles teilnehmen und mit denen wir in mancherlei kirchlicher Arbeit verbunden sind, keine makellosen Ideal-Gestalten sind, sondern Sünder; und zwar nicht Menschen mit theoretischen Sünden, mit einer weiter nicht zu beachtenden allgemeinen Sündhaftigkeit, sondern mit einer sehr wirklichen, spürbaren und lästigen Sündhaftigkeit, Menschen mit feiner und grober Unredlichkeit, mit Lüsternheit, Hoffart oder was es sonst sein mag. Die Sünde der Heiligen Gottes rückt uns auf den Leib.

LeerOder es überfällt uns von der anderen Seite, was es bedeutet, daß wir mit eben diesen fragwürdigen und kümmerlichen Menschen zusammen wirklich Gott loben und zu seiner Ehre singen dürfen, mit eben diesen Menschen - und mit niemand anderem! - Gottes Werk in der Welt treiben, seine Kirche in der Welt bauen und eben in ihrer Gemeinschaft - mit wem sonst? - das Brot des Lebens brechen und aus dem Kelch des Heils trinken dürfen.

LeerWas sollen wir sagen zu diesen offenbaren Fehlern unserer christlichen Brüder? Wie sollen wir uns zu ihnen stellen? Die Frage ist so wichtig, daß ich geradezu sagen möchte: Die Sünde unserer Mitmenschen, die Sünde unserer christlichen Brüder, ist die tägliche Erprobung dafür, ob wir selbst wirklich christliche Menschen sind und wirklich in der echten Kirche stehen. Was heißt das?

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LeerVor allem anderen laßt mich das eine sagen: Das Christentum verwehrt uns keineswegs, die Fehler unserer Mitmenschen zu sehen und ein klares Urteil über sie zu haben und die Sünde als das zu benennen, was sie ist. Nein, das Christentum ist nicht wie ein Schwamm, der alles auslöscht, als wäre es nicht da; noch viel weniger gibt es uns die Erlaubnis zu einer Träumerei, die sich die Wirklichkeit des Lebens verbirgt und in zurecht gemachten Idealbildern schwelgt.

LeerEs gibt nicht wenige Christenmenschen, die möchten ihr Verhältnis zu ihren Mitmenschen immer davon abhängig machen, daß dieser andere eigentlich anders wäre, als er eben ist. „Ja, wenn er diesen Fehler nicht hätte, wenn er wenigstens an diesem einen Punkt ein anderer Mensch wäre, wie gern wollte ich dann ihm gegenüber alle christlichen Tugenden bewähren!” Aber, meine Freunde, diese Idealgestalten gibt es eben nicht, und wir müssen auch in der christlichen Gemeinde mit eben den fehlsamen Menschen zurecht kommen, die wir kennen!

LeerMan soll sich nicht auf das Christentum und seinen angeblichen Optimismus berufen, wenn man in einer Art Eigensinn oder, wenn ihr wollt, in einer romantischen Verliebtheit die Menschen idealisiert, und man soll sich dann nicht beklagen, wenn solche Irrtümer und Träumereien zuschanden werden. Es gibt Eltern, die sind in ihre Kinder verliebt, wenn nicht gar vernarrt, und meinen, ihre Kinder seien wirkliche Engelchen, und sehen nicht, daß auch in diesen engelhaften Kinderchen die Sünde ihren Boden hat; dann sind sie hernach auf das Grausamste enttäuscht, wenn an einem dieser Kinder ein Ausbruch unbegreiflicher Bosheit sie erschreckt.

LeerUnd es gibt Erzieher, die mit leidenschaftlicher Zähigkeit an dem Glauben festhalten, der Mensch sei gut, und es gelte nur all die Hemmungen aus dem Wege zu räumen, die die angeborene Gutheit hindern, sich in ihrer ganzen Schönheit zu entfalten; und sie beklagen sich dann - oder was noch viel schlimmer ist: sie wollen es nicht wahr haben, wenn die Urmacht des Bösen aufsteht gegen solche erträumte und erlogene Pädagogik und sie zuschanden werden läßt. Und es gibt Menschen, die lassen sich durch den Überschwang der Liebe zu einem anderen Menschen ein Idealbild der Vollkommenheit vorgaukeln und erleben dann in der täglichen Lebensgemeinschaft der Ehe mit schmerzlicher Enttäuschung, daß auch dieser heißgeliebte andere Mensch ein Mensch mit seinen Fehlern ist, mit Fehlern, die eine Last sind und als Last getragen werden müssen; und wie viele Ehen zerbrechen dann, wenn dieses Trugbild einer unwirklichen Vollkommenheit zerbrochen ist!

LeerGerade davor, gerade vor solchen Enttäuschungen möchte uns das Christentum bewahren. Es leitet uns an, nüchtern zu sehen, daß die Menschen, mit denen wir es zu tun haben, auch die liebsten anderen Menschen, unsere Glaubensgenossen und Mit-Glieder am Leibe Christi, fehlsame Menschen sind. Und man soll Fehler Fehler nennen, man soll die Sünde Sünde nennen. Viel größer als die Gefahr einer romantischen Verflachung und Idealisierung der Wirklichkeit ist freilich heute unter uns die umgekehrte Gefahr, daß wir uns an die Fehler der anderen (und die eigenen Fehler!) so gewöhnt haben, daß jedes sittliche Urteil an dieser Selbstverständlichkeit erlahmt.

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LeerEs gibt eine moralische Knochenerweichung, die sich verbirgt hinter der frommen Rede, wir Menschen seien ja allesamt Sünder, und die christliche Barmherzigkeit müsse das alles mit dem großen Mantel der Liebe bedecken. Oder man verschanzt sich hinter das Wort Schicksal, das alles erklärt und entschuldigt; es sei ein schlimmes Erbe, eine krankhafte Veranlagung, ein Zwang der Natur oder wie man es sonst benennen mag, und redet dann - scheinbar in großer Barmherzigkeit - nur noch von Schwächen, nicht mehr von Fehlern und gar nicht mehr von Sünde.

LeerMeine Freunde, die christliche Rede von der Sünde bedeutet auch dieses, daß wir auf solche bequeme Auswege verzichten und Sünde Sünde sein lassen. Wir sind dankbar dafür, daß hierin auch die ärztliche Psychotherapie, die ärztliche Seelenheilkunde, im Laufe der letzten Jahre umgelernt hat. Sie ist durchaus nicht mehr der Meinung, alle Sünde müsse oder dürfe als Krankheit weggedeutet werden; sie hat uns von ganz neuer Seite heute die Augen dafür geöffnet, daß sehr viele seelische Erkrankungen, sehr vieles, was man heute als „Nervosität” bezeichnet und damit verharmlost, sehr viel Lebensunfähigkeit und Fehlentwicklung aus Irrwegen des Menschen, aus seinem Versagen vor entscheidenden Aufgaben, aus seiner Absonderung von den tragenden Ordnungen und Gesetzen heraus kommt.

LeerGewissenhafte Ärzte wissen und sagen es heute - und wie viele Menschen lassen es sich lieber von den Ärzten sagen als von uns Theologen! -, daß man dem Menschen einen sehr schlechten Dienst erweist, wenn man ihm die Schuld, seine Schuld, als die Quelle seiner Leiden und seiner Not verdeckt und hinwegredet. Um unserer Brüder willen und um der Wahrheit willen: wir sollen die Fehler der anderen nicht übersehen oder ausstreichen, und wir sollen es nicht für christliche Barmherzigkeit halten, wenn wir einander die Erkenntnis schuldhafter Fehler ersparen wollen. Unsere Brüder sind sündige Menschen, und das Christentum bedeutet weder die Pflicht noch das Recht, ihre Fehler zu übersehen.

LeerFreilich, wir können das nicht aussprechen ohne eine gewisse Angst; ohne die Angst, daß der Blick auf die Fehler der Brüder zu einer Gefahr für uns selber wird. Die List des Teufels verführt uns immer wieder, unseren eigenen Ruhm zu suchen an den Fehlern der anderen. Es liegt so nahe und es ist so bequem, sich über sich selbst zu beruhigen und sich über alle eigenen Unzulänglichkeiten zu trösten durch den Blick auf die offenbaren Schwächen, Verfehlungen und Sünden der anderen. Wie leicht entschuldigen wir uns: die anderen sind noch viel ärger, sie treiben es noch viel schlimmer; warum soll ich mir ein Gewissen machen aus dem, was alle tun? Wie leicht geben wir unserem Selbstgefühl, wenn es einmal erschüttert ist, wieder neuen Auftrieb aus dem Vergleich mit den anderen, - und wir suchen uns dann schon die Rechten zu diesem Vergleich aus!

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LeerWir sind auch nicht ganz, wie wir sein sollten, aber da ist der und der, vor dem wir immer noch wohl bestehen können! Diese pharisäische Überheblichkeit wird dadurch nicht minder unerfreulich, daß sie sich in das geistliche und christliche Gewand kleidet. Es graut uns vor der lieblosen Hoffart, mit der eine christliche Wohlanständigkeit auf die „gefallenen” „Brüder” und „Schwestern” herunter schaut. Welche maßlose Überhebung und - Selbsttäuschung! kann herausklingen aus dem Ton, mit dem solche „bekehrten Gotteskinder” das Wort „Fall” und „gefallen” aussprechen! Und der Pharisäer bleibt darum nicht minder ein widerlicher Pharisäer, weil er mit frommem Augenaufschlag sagt: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die andern Leute.”

LeerHier sind die Fehler der andern zur schlimmsten Seelengefahr geworden. Davor bewahrt uns nur die gründliche Demut und der ehrliche Blick auf die eigenen Fehler. Wir wollen zwar heute nicht von diesen unsern eigenen Fehlern und der nötigen Selbsterkenntnis sprechen; aber es wäre ein arger Irrweg, wollten wir von den Fehlern der anderen reden ohne die ständige Erinnerung daran, daß wir selber keinen Ruhm vor Gott haben und ganz und gar aus der Gnade leben. Nur deswegen, weil uns selbst vergeben ist, nur deswegen, weil wir selbst, um mit Josef zu sprechen, „unter Gott sind”, können wir, ohne Schaden an uns selbst zu nehmen, den Blick auf die Fehler der anderen richten.

LeerSollte uns nicht vielmehr im Blick auf die Fehler der andern der Blick geschärft werden für die unheimlichen Schleichwege der Sünde in uns selbst! Kann uns nicht gerade in der konkreten Erfahrung fremder Sündhaftigkeit zugleich das Auge aufgehen dafür, wie unentwirrbar verflochten Gutes und Böses, Göttliches und Teuflisches in uns selber ist! „Und wehe, wer es einen Tag vergißt, wie sehr er dunklen Mächten gleich gehört, wenn er nicht unablässig wacht und ringt”. Ich glaube, es war Kingsley, der sagte, er habe noch von keinem Verbrechen gehört, zu dem er nicht Anlage und Möglichkeit auch in sich selber entdeckt habe.

LeerEine Erfahrung, die in der Fürsorgearbeit immer wieder gemacht wird, ist mir immer besonders wichtig gewesen: liebe und feine, wohlbehütete Menschen, die etwa in die Arbeit an gefährdeten Mädchen gekommen sind, vermochten dort gerade nicht mehr sich zu erheben über diese ihre „gefallenen” Schwestern, sie empfanden, daß sie in ihrer behüteten Wohlanständigkeit keineswegs besser seien als die anderen, die auf einen so viel gefährlicheren Weg und in so viel stärkere Versuchungen geführt worden sind. Wer wäre nicht gefährdet? Wer wäre so behütet und sicher, daß er von den Versuchungen der anderen gar nicht berührt würde? Wer da stehet, der sehe wohl zu, daß er nicht falle! Nein, wenn wir die Fehler unserer Brüder sehen, sehen müssen, die einzig mögliche Antwort, die wir als Christenmenschen darauf geben können und geben dürfen, ist das Gebet und die Bitte: Laßt uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist!

LeerAber nun steht da in den beiden Versen unseres Textes ein Wort, das heute besonders in den Mittelpunkt unserer Betrachtung gerückt werden soll:


Einer trage des andern Last.

LeerIch weiß wohl, daß dies Wort sich gar nicht nur auf die Fehler der andern bezieht. Es gibt mancherlei Last, die die Menschen neben uns zu tragen haben, Krankheit und Armut, Not und Sorge und allerlei äußere und innere Lebensschwierigkeit; und wir sollen unser Christentum auch darin beweisen, daß wir diese Lasten unserer Brüder und Schwestern mit auf unser Herz nehmen und tragen helfen. Aber wir gehen heute diesem Gedanken nicht weiter nach. Das, was da im griechischen Wortlaut dasteht, kann auch so verstanden werden: tragt einander als die Last, die ihr einander seid! Es bleibt uns die Erfahrung nicht erspart, daß wir selber für andere eine Last werden mit unserer Unerzogenheit und Unbeherrschtheit, mit unserem ganzen unerlösten Wesen, und daß auch die anderen Menschen für uns, auch ohne es zu wissen oder gar zu wollen, zu einer solchen Last werden. Auch wertvolle und verehrungswürdige Menschen, auch die nächsten und liebsten Menschen können zu einer Last werden, einfach darum, weil sie Menschen sind, mit aller irdischen Fehlsamkeit und Schuld behaftet. Und dann ist es immer die große Gefahr, daß wir einander eben nicht mehr ertragen.

LeerWer wüßte nicht auch aus seinem unmittelbaren Lebenskreis, vielleicht aus dem Kreis der Allernächsten, einen Menschen, bei dem es uns schier nicht möglich dünkt, ihn zu ertragen, weil seine ganze Art, seine Nähe, sein Dasein, uns unsagbar „belastet”! Und wenn wir uns dann von solchen doch nicht lösen, sie nicht ans unserem Leben, aus unserem Alltag ausschalten können, dann schleicht sich in unser Herz der heimliche oder offenbare Haß gegen diese „unerträglichen” Menschen. Wenn wir dann nicht in unseren Gedanken zu Mördern werden wollen an diesen anderen Menschen, dann müssen wir lernen sie zu ertragen. Jedes menschliche Zusammenleben fordert das von uns, daß wir lernen und uns darin üben, die anderen zu ertragen in ihrem Anderssein, in ihren Seltsamkeiten, und schließlich auch in ihren Fehlern. Wir schämen uns, uns einzugestehen, wie schwer es uns wird, einen Menschen fremder Rasse, einen Menschen anderen Glaubens oder auch nur einen Menschen mit einer politischen Überzeugung, die wir für verkehrt halten, neben uns zu ertragen. Aber eben das müssen wir lernen, auch um unseres Volkes und seiner Zukunft willen.

LeerWenn es sich nur um das menschliche Gemeinschaftsleben handelte, dann könnten wir dabei stehen bleiben, daß wir diese Zumutung - sie ist freilich schwer genug! - vor uns hinstellen: wir müssen lernen, uns zu den Unbequemen zu bequemen, die Unleidlichen zu leiden und die Unerträglichen zu ertragen. Aber als Christen können wir dabei nicht stehen bleiben. Denn dieses Ertragen kann vielleicht ganz ohne Herz und Seele sein, mühselig und verdrossen, so wie man eine Last trägt, unter der man fast zusammenbricht. Was hat es mit christlicher Liebe zu tun, wenn wir einen Menschen nur gerade „ertragen”, so wie man eine Last schleppt, bei der man den Augenblick herbeisehnt, wo man sie endlich wegwerfen darf?

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LeerEs heißt nicht „ertraget einander”, sondern „traget einander”! Tragen heißt den andern wirklich auf das eigene Herz nehmen und mit dem eigenen Herzen ihn halten. Nicht nur den idealen und liebenswerten Menschen, sondern den wirklichen und konkreten Menschen mit seinen offenbaren Fehlern sollen wir tragen; tragen, so wie eine gesunde, kräftige Pflanze mit stolzem Wuchs Blätter und Blüten trägt; so, wie eine Mutter ihr Kind trägt; so, wie ein König seine Krone: eine Last, die aber zugleich unabtrennbar verbunden ist mit Würde und Bestimmung des eigenen Lebens. Es gibt Gegenden in Deutschland, wo die Frauen schwere Lasten auf ihrem Kopfe fragen, und es ist wohl manchem schon aufgegangen, was für einen königlich sicheren Gang und welche stolze aufrechte Haltung die Frauen durch solche Lasten bekommen können. Nehmt das als ein Gleichnis! Oder wie ein Schiff erst durch die Last seiner Ladung den Tiefgang bekommt, der seiner Fahrt Ruhe und Stetigkeit verleiht, so reift des Menschen Wert und Würde, wenn er mit willigem Herzen den Bruder mit seinen Fehlern nicht nur erträgt, sondern trägt.

LeerAber nun ist dieses Tragen nicht etwa nur eine höhere Stufe des Ertragens. Es ist nicht so, als ob man zuerst lernen könnte, einen unerträglichen Menschen wenigstens zu ertragen und man dann dazu emporsteigen könnte, ihn zu tragen. Sondern, es ist ein ganz anderer, ganz neuer Weg, den wir damit betreten. Wir stellen uns gleichsam auf einen anderen Boden, wenn wir anfangen einen Menschen zu tragen. Wir fragen nicht mehr, wie er auf uns wirkt, und wie wir es fertig bringen, ihn trotz seiner Fehler, trotz seiner unleidlichen und unerträglichen Eigenschaften dennoch zu „leiden” und zu ertragen; sondern wir fragen, was wir ihm schuldig sind, wie wir ihm helfen und sein Leben fördern können.

LeerEs ist eben nicht mehr das passive „Leiden” oder Ertragen, sondern ein aktives Tun und Helfen, wenn auch zunächst ganz in der Stille der Gedanken. Einen Menschen tragen heißt vor allem, ihn auch „auf betendem Herzen tragen”. Und nun kann es geschehen, daß es der einzig mögliche Weg ist, einen Menschen zu „ertragen”, daß man anfängt ihn zu tragen. Es gibt Ehen, in denen Mann und Frau einander nicht mehr ertragen können, und wo es nun wirklich nur die zwei Möglichkeiten gibt, entweder, daß sie auseinander laufen, oder daß sie lernen einander zu tragen. Und wie vielen Menschen ist das der einzige Weg ins Freie, daß sie eben nicht nur mit Widerstreben, sozusagen mit zusammengebissenen Zähnen einander ertragen, sondern sich auf diesen ganz anderen Boden begeben, wo sie einander mit liebendem und betendem Herzen tragen.

LeerVon diesem ganz anderen Weg sagt Paulus in unserem Text: „Wenn ihr einer den andern als Last traget, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen”. Dieses „Gesetz Christi” ist aber nicht ein neues Sittengesetz, eine Erweiterung oder Vertiefung der alten 10 Gebote, sondern es ist eine völlige Neuordnung des Lebens, in der Christus vorangegangen ist und in die er die Seinen hineinzieht. Denn eben das ist das Geheimnis Christi, daß er andere Menschen nicht nur ertragen (konnte er sie denn ertragen?), sondern getragen hat, daß er die Welt mit ihrer Sünde „getragen” hat auf seinem Herzen und schließlich als die Kreuzeslast auf seinem Leib.

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LeerDas ist der Inhalt aller unserer Passionslieder von dem Leiden Christi, daß er der „Hohepriester” ist, der die Sünden der Welt „auf seinem Leib hinauf trägt zum Kreuz”. In eben diese tragende Liebe will Christus die Seinen hineinziehen; das ist der eigentliche Sinn des allgemeinen Priestertums, nicht, daß wir nach keinem anderen Menschen als unserem Priester zu fragen haben, sondern daß wir einander den höchsten Dienst dieses priesterlichen Tragens leisten sollen und dürfen. Dieses neue „Gesetz Christi” wartet darauf, daß wir es mit unserm Leben „erfüllen”, erfüllen mit dem warmen Blutstrom menschlicher Wirklichkeit.

LeerUnd doch ist auch das noch nicht das Letzte. „So jemand von einem Fehler übereilt würde, so helft ihm wieder zurecht!” Einander zurecht helfen ist mehr als einander ertragen, und alles Tragen, alles echte christliche Tragen, brennt von dem Wunsch und dem Verlangen, dem andern zurecht zu helfen. Denn in diesem Tragen ist ja die Christus-Ordnung verwirklicht, das heißt die Ordnung der Gottesliebe, die den Menschen gerade nicht läßt, wie er ist, sondern die ihm zurecht hilft, indem sie ihn wandelt. „Helft ihm zurecht, ihr, die ihr geistlich seid!”

LeerDas also ist das eigentliche Kennzeichen des „geistlichen” Lebens, des Lebens im Geist, daß von ihm eine Kraft ausgeht, dem irrenden Bruder zurecht zu helfen. Es ist ein Jammer, daß auch in unserer Kirche das Wort „die Geistlichen” mißbraucht ist als Bezeichnung eines besonderen Berufes; „geistlich” sollen wir alle sein, und ob wir wahrhaft „Geistliche” sind, zeigt sich daran, ob wir einander zurecht helfen. Nicht ob wir einander zurecht helfen wollen - ach, das möchten wir wohl oft! - sondern ob von uns die Kraft ausgeht, die als Hilfe hineinwirkt in das andere Leben. Die Moralpredigt schafft es nicht, sondern allein der „sanftmütige” Geist, das heißt, die große innere Ruhe und Sicherheit, die ganz von dem Geist Gottes regiert und geläutert ist.

LeerWie geschieht das, daß einer dem andern zurecht hilft? Zweierlei ist hier vor allem nötig. Wir kommen „zurecht” nur an einem Menschen, der selbst unbestechlich und unbeirrbar ist; an ihm mehr noch als an seinen Worten findet das Gewissen seinen klaren Spruch, und das Lügennetz, in das wir uns vielleicht verstrickt haben, zerreißt vor der lauteren Klarheit, wie der Nebel vergeht vor der klaren Sonne. Was für eine Hilfe bedeutet es für junge Menschen, die in großen Anfechtungen der Sinnlichkeit sind, wenn sie in die Umgebung von Menschen kommen, die einfach nicht berührt werden von den Künsten und Listen der Verführung! Welche Verantwortung haben junge Mädchen gegenüber den jungen Männern, mit denen sie zusammenkommen, und welcher Segen kann von ihnen ausgehen, wenn die jungen Männer an ihnen eine unbestechliche und unantastbare Reinheit finden! Es ist bei Versuchungen anderer Art im Wesen nicht anders. So, wie im Gebirge an steilen Hängen oder auf Gletschern nur der eine Hilfe für seine Kameraden ist, der selber einen festen Stand hat, von dem aus er die Gefährten halten kann, so kann auch auf den steilen und gefährlichen Wegen des Lebens nur der „zurecht helfen”, der selbst fest steht.

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LeerAber so wie im Gebirge der eine mit dem andern durch ein gutes Seil verbunden sein muß, so muß der Feste und Starke im Leben mit dem andern durch eine unwandelbare und unzerstörbare Liebe verbunden sein. Wir werden gewiß niemandem zurecht helfen, über den wir uns hoffärtig erheben, statt die Hand brüderlich in die seine zu legen und gleichsam zu sagen: Mein Bruder, wir stehen zusammen und wir helfen einander auf dem Wege. Es heißt von Christus im Hebräerbrief: Er schämte sich nicht, uns Brüder zu heißen. Ohne diese brüderliche Demut kann keiner dem andern zurecht helfen.

LeerMan soll nicht unterschätzen die konkreten Hilfen, die darüber hinaus gegeben werden können. Geistliche Erkenntnis und Erfahrung kann verborgene Zusammenhänge aufdecken, weiß um seelische Gesetze und kann darum raten, wo das bloße herzliche Wohlmeinen versagt. Man soll das nicht unterschätzen und verachten, was Weisheit und Erfahrung an praktischem Rat und praktischer Hilfe leisten können. Aber auch die reichste Erfahrung bleibt ohnmächtig, ja sie wird ein gefährlich zweischneidiges Instrument, wenn nicht dahinter und darüber hinaus wirksam ist die eigene Charakterfestigkeit und Lauterkeit und die demütige Liebe.

LeerDas ist das „Gesetz Christi” und der Taterweis geistlichen Lebens, daß wir im Dunkeln und in der Verwirrung der Zeit wie helle, klare Lichter werden, an denen sich andere auf den Irrfahrten ihres Lebens zurecht finden können. Und wie wird es einmal sein, wenn die Menschen vor dem Thron Gottes stehen und sagen, wie es ihnen ergangen ist? Werden sie sagen müssen: ich war ein sündiger Mensch, aber die Leute um mich her haben nur über mich gelacht und haben mich mit Scherzworten beruhigt, es sei nicht so schlimm, und ich sei nicht ärger als die anderen auch; und ich wußte doch, wie tief meine Not ist!

LeerOder werden sie sagen: - Herr, die Christenmenschen haben allezeit ein strenges Urteil über mich gehabt; sie haben mir wohl ins Gewissen geredet und haben Kirchenzucht an mir geübt; aber sie haben mir nicht geholfen und haben mir nicht helfen können, weil ihr Urteil ganz ohne Liebe war!? Oder werden da auch andere sein, die sagen: Herr, ich danke dir, daß du mir wirkliche Christenmenschen über meinen Weg geschickt hast; sie haben mich nicht entschuldigt, aber sie haben mich auch nicht verdammt; sie haben mich nicht gerechtfertigt, aber sie haben mich auch nicht fallen lassen; ich war ihnen eine Last, das weiß ich, aber sie haben mich getragen in Geduld und haben für mich gebetet. So haben sie mir das Evangelium verkündet. An diesen Menschen habe ich gelernt zu glauben, daß es eine Liebe gibt, die uns trägt. Ich danke dir, Herr, für diese deine Boten; sie haben mir zurecht geholfen und haben das Gesetz Christi erfüllt.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1932/33, S. 140-148

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-01-26
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