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Woher? Wohin?
von Arno Pötzsch

LeerDer Staat hat von seinen Bürgern, soweit sie ein öffentliches Amt bekleiden, den Nachweis der arischen Abstammung gefordert, er schenkt ganz allgemein den Fragen der Abstammung, der Vererbung, der Familie seine Aufmerksamkeit und fördert die volkbildenden Kräfte. Wir wollen nicht um den Begriff der Rasse und des Arischen rechten, wir wollen einfach die Tatsache sehen, daß heute in unserm Volke weithin die bisher nur von einzelnen gestellte und beachtete Frage nach der Herkunft, nach den Ahnen, wach geworden ist, vielfach weit über das vom Staate Geforderte hinaus. In den Buchläden bieten zahlreiche Schriften („Woher stamme ich?”, „Wer war Ihr Großvater?”) ihre Hilfe für die ungewohnten Nachforschungen an. Da, wo die Frage nach den Vorfahren, nach dem Woher mit Ernst gestellt wird, kann die Beschäftigung mit dem Leben und den Daten der Ahnen zu einer ernsthaften und fruchtbaren Anrede werden.

LeerWer Familiengeschichte treibt, sieht sich zunächst eingespannt, eingeordnet in eine Kette von Gliedern. Das bedeutet den Bruch mit allem selbstgenügsamen Individualismus. Wir sind nicht allein, wir sind Glied. Es gibt kein Für-sich-sein, sondern nur ein Mit-einander-sein. Alle Absonderung und Vereinzelung ist künstlich und führt zur Lebensverfehlung. Leben besteht nur in Gemeinschaft. Es gibt kein Lossagen von den Bindungen an Familie und Volk. Wir bleiben unentrinnbar schicksalhaft an die gebunden, von denen wir stammen, und auch Not und Schuld vermögen die Bindung an das Gewachsene und Gewordene nicht aufzuheben. Unter diesen Gesichtspunkten sollten wir uns auch einmal die Geschlechtsregister der Bibel, in denen sich Familiengeschichte eines alten Volkes und das Bewußtsein der Gliedschaft und Verbundenheit spiegeln, ansehen.

LeerZum andern kann uns die Beschäftigung mit der Familiengeschichte zur Ehrfurcht anleiten. Andere haben vor uns gekämpft und gelitten, darum sollten wir billigerweise die Ahnen so ernst nehmen, wie wir selbst uns wichtig nehmen. Allzu leicht vergessen die Nachkommen, was sie den Vorfahren verdanken, die ihnen durch ihre Erfolge und Niederlagen, ihre Wahrheiten und Irrtümer die Wege gewiesen und oft bereitet und geebnet haben. Gar oft werden die Nachfahren gekrönt, während die Vorgänger geblutet hatten. Darum Ehrfurcht vor den Alten! Ehrfurcht vor den Ahnen!

LeerZur Ehrfurcht aber kommt der Dank! Wer sich in den Familien- und Geschlechterzusammenhang eingeordnet sieht, erkennt, daß er nichts aus sich selbst ist und hat, daß seine Fähigkeiten und Begabungen nicht sein Verdienst, sondern eben Gaben sind. Mit welchem Recht dürften wir uns überheblich dessen rühmen, was wir doch nur als Geschenk, als Gnade empfangen haben? Und was haben wir, das wir nicht empfangen hätten? Wir sind beschenkt von denen, die vor uns gewesen sind, vielleicht mit äußeren Gütern, vielleicht mit reichen Anlagen, die sie uns vererbt haben, vielleicht mit Lasten, die uns Aufgaben stellen. Auch ein schweres Erbe mag uns zur Dankbarkeit leiten!

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LeerDie Tatsache, daß wir Glieder einer Kette sind, legt uns aber weiter Verantwortung auf. Es öffnet sich dem Blick das ganze weite Gebiet der Vererbung und auch der Erbsünde. Wer trüge hier nicht schwer an der Last der Verantwortung? Wir wissen heute, daß der Mensch nicht als tabula rasa ins Leben eintritt. Wir wissen, daß wir unauslöschliche Zeichen in die Menschentafel eingraben, wenn wir einem Kinde das Leben geben. Wir wissen, daß wir als Eltern bauen und zerstören, segnen und mit Fluch beladen können. Wir sind verantwortlich dafür, daß wir unverdorben weitergeben, was wir empfangen haben. Aber auch abgesehen von der Vererbung macht uns die Beschäftigung mit der Familiengeschichte unsre Gliedschaft als Verantwortlichsein deutlich.

LeerWir sind nicht als einzelne das Maß der Dinge, es geht nicht nur um unser persönliches Wohl und Wehe, sondern wir stehen als Glieder, das heißt aber immer dienen, in der Ordnung unserer Familie, unsres Geschlechts, durch das wir in unser Volk hineingewoben sind. Das Übergeordnete, das Ganze fordert uns, und wir sind ihm zum Dienst verpflichtet. Wenn wir an diesen Folgerungen und Forderungen vorbeisehen, dann betreiben wir Familiengeschichte allenfalls als gute Antiquare, als Historiker oder Museumsleiter, aber unfruchtbar für das Leben und darum vergeblich. Es ist nicht unsre Aufgabe, nur zu sammeln, was andre gelebt haben, sondern als lebendige Glieder tätig und leidend dem Leben verantwortlich zu dienen.

LeerDa lehrt uns nun freilich die Beschäftigung mit den Ahnen sogleich ein Weiteres: Demut. Wir nehmen uns und unsre Leistungen so wichtig, was aber bedeuten wir samt unsern Taten in der Folge der Generationen? Es ist schon eine alltägliche Geschichte, die Otto Bruder in dem Büchlein „Stimme der Erde” (Chr. Kaiser-Verlag München) vom Kai erzählt. Es nimmt sich recht klein aus, was da als Ergebnis des ach, so kurzen Menschenlebens bleibt. Wir haben gewiß kein Recht zum Rückzug und Verzicht von vornherein, aber es ist uns gut, wenn wir beizeiten Demut lernen. Gehen wir in unsrer Ahnenforschung einmal zwei oder drei Generationen zurück - viele können nicht einmal das -, so kann es geschehen, daß nichts, aber auch nichts mehr von den Kämpfen und Leiden unsrer Voreltern zeugt, nichts von ihrem Ansehen, das sie doch auch genossen, nichts von ihrem Ruhm, den unsre Altvordern so hoch hielten und priesen. Wir sind vielleicht schon froh, wenn es uns gelingt, die Geburts- und Sterbedaten unsrer Vorfahren zu erfahren. Wir bewahren die dürftigen Zahlen wie eine kostbare Hinterlassenschaft und wissen doch nichts von dem Leben, das einst diese Spanne Zeit erfüllte.

LeerMachen wir uns das einmal klar! Schon unsre Enkel wissen vielleicht nichts, nichts mehr von uns. Wir sind vergessen. Unser Leben ist wirklich aus. Auch die Erinnerung, das Andenken gehört zu unsrer vergänglichen Leiblichkeit und Irdischkeit, und es ist einmal aus damit, selbst wenn über den Gräbern ein „Ewig unvergessen” gesprochen oder geschrieben ward. So wenig liegt in der Kette der Geschlechter, bei aller Wichtigkeit und Anerkennung der Glieder, am einzelnen Glied. Sollten wir nicht demütiger werden, wenn wir uns in die Reihe der Geschlechter eingefügt sehen? Sollte uns nicht schon die Tatsache, daß wir abhängig, bedingt, begrenzt sind, daß wir nicht über uns hinaus können, demütig machen?

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LeerDas Tiefste aber, das uns die Beschäftigung mit den Vorfahren zum Bewußtsein bringen will, ist dieses: wir sind Geschöpf. Das haben wir mit unsern Ahnen gemein. Unsre Abkunft von ihnen ist noch nicht das Letzte; ein anderes ist, von dem wir alle kommen, und durch das wir alle sind. Wir sind nicht aus uns selber. Es ist nicht unsre Tat, daß wir sind, sondern es ist Wunder, daß wir sind, Immer neu wird die alte Kinder- und Menschheitsfrage nach dem Woher des eigenen und alles Lebens gestellt, und immer wieder steht der Menschengeist fragend, fassungslos, erschüttert vor der unergründlichen Tiefe des Rätsels Leben. Und wenn wir nach den Ahnen fragen, oder wenn wir von unsern Kindern gefragt werden: Woher bin ich denn?, dann drängen diese Fragen ganz von selbst über die nächsten Antworten, die eben letztlich keine sind, über die unzureichenden Hinweise auf Eltern und Voreltern hinaus auf ein letztes Woher, auf einen letzten Ursprung, von dem wir alle abhängig sind.

LeerDarum kann eine Mutter noch immer nichts Größeres und Besseres tun, als ihr Kind, das sie gebiert, aus der Hand Gottes zu empfangen. Wir haben nicht das letzte Wort über uns; es wird über uns gesprochen; ein anderer ist es, der es über uns spricht. Wir sind einem Strome hingegeben, der ohne unser Wollen und Begreifen fließt. Wir rufen uns nicht ins Dasein, wir werden gerufen und finden uns vor. Wir leben nicht aus einem Willen zum Leben, sondern weil wir in das Leben hineingesandt, hineingeschickt sind, weil es uns als Schicksal aufgetragen worden ist. Unser Leben ist Antwort, Gehorsam. Der Rufer, der uns ruft und befiehlt zu leben, steht jenseits unseres Lebens, alles Lebens. Er ist der letzte, alles tragende Grund, dem Verstande unerfindlich, dem Glauben spürbar nahe, das Leben durchwaltend, Gott.

LeerAber neben die Frage Woher? tritt mit gleicher Dringlichkeit die Frage Wohin?, die andere der beiden Menschheitsfragen, auf denen alle Philosophie beruht. Wohin führte das Leben derer, die vor uns waren, wohin zielt unser eigenes Leben, welches ist der unermeßliche Abgrund, der unersättlich das strömende Leben verschlingt? Da steht nun, als unentrinnbare Tatsache, am Ende alles Lebens der Tod. Diese Herbsttage lehren es uns wie die Gräber, an denen wir stehen, und deren Reihen im Laufe unsres Lebens immer länger werden; unausweichlich lehren es uns die Namen und Daten all derer, die wir unsere Vorfahren nennen und die dahin gegangen sind, jung oder alt, vielleicht „verdorben, gestorben”.

LeerDer Tod muß gesehen werden, der Tod in seiner ganzen Furchtbarkeit, der Tod, gegen den sich leidenschaftlich und doch vergeblich das Leben empört, der Tod, der nicht nur müdes, verwelkendes Leben entschlafen läßt, sondern der es in seiner Blüte und Kraft zerbricht, der das herrlich Gestaltete fällt und würgt, bis es ganz seine Züge trägt und zum Bilde des Grauens und der Vernichtung geworden ist. Der Tod muß gesehen werden nicht nur als das, was hier und da, wenn auch in erschreckender Häufigkeit, geschieht, sondern als das, was ist. Der Tod ist Zustand, er ist die Eigenschaft der geschaffenen Dinge, er ist das Wesen der Welt. Alles, was ist, ist vom Tode bedroht, ist ihm verfallen, trägt in sich den Tod, welch schöner Schein ihn auch verkleiden und verbergen mag. Das ist der Tod.

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LeerEr ist so furchtbar, daß unser Herz ihn nicht fassen kann, ob wir ihm auch hier und da mit Schrecken und Entsetzen begegnen. Wir verkleinern ihn, um ihn ertragen zu können. Aber er bleibt, der er ist, der Tod, der Feind des Lebens, der Feind Gottes. Das ist er nach der nüchternen, hellsichtigen Schau der Bibel, und wir tun gut, die Bibel darin ganz ernst zu nehmen und uns nicht durch Illusionen, Trugbilder, in eine falsche Sicherheit und Geborgenheit, die keine ist, zu flüchten. Der Tod will als Tod gesehen und anerkannt sein. Unser Leben, ob wir es richtig leben oder nicht, hängt davon ab, ob wir den Tod richtig oder falsch einbeziehen. Unser Leben ist so gewichtig, als wir dem Tod Gewicht darin lassen. Das sub specie aeternitatis vivere (Im Schein der Ewigkeit leben) schließt auf jeden Fall das sub specie mortis vivere (Im Schatten des Todes leben) in sich ein. Eine Lebensschau, der diese Blickrichtung fehlt, verfehlt ihr Ziel. In uns und um uns und vor uns der Tod; vor uns das Ende des Lebens, ob heute oder morgen, doch gewiß - das will unverschleiert gesehen sein. Damit ist nun freilich die Frage nach dem Wohin noch nicht beantwortet. Sie wäre auch mit dem Hinweis auf die Nachkommen, in denen wir weiterleben, nicht beantwortet, sondern nur hinausgeschoben.

LeerDie Frage nach dem Wohin ist allem Leben und einfach mit der Tatsache des Lebens durch alles Leben gestellt, heute und in aller Zukunft wie in fernster Vergangenheit. Du, der du lebst und weil du lebst, bist Frage, bist in das All hinausgeschrieene Frage. Und die Frage nach dem Wohin ist zugleich die Frage nach dem Sinn, nach dem Sinn des Lebens. und wie bei der Frage nach dem Woher gibt es auch hier keine Antwort vom Menschen aus. Es ist dem Zugriff des Menschen entnommen, das Ziel zu bestimmen. Es ist ihm gesetzt, ebenso wie ihm sein Ursprung und Ausgang, wie ihm das Leben gesetzt ist. Der Mensch ist nicht das Ziel seiner selbst; er ist des Zieles nicht mächtig.

LeerAlles Leben hat sein Ziel, wie es seinen letzten Grund hat. Alle Ziele, die Menschen denken und erstreben können, werden überboten von einem letzten Ziel. In ihm münden, unentrinnbar, aber auch unbeirrbar, alle Wege im Himmel und auf Erden. Gott ist das Ziel. Damit schließt sich der Kreis: der letzte Grund aller Dinge, Gott, ist auch ihr letztes Ziel. Das ist die ernste, aber auch sieghafte, todüberlegene Hoffnung und Gewißheit des Christenlebens, uns hier und jetzt geworden durch unsern Herrn Jesus Christus. Ihm verdanken wir es, daß wir auf der schwindelnden Höhe und in der abgründigen Tiefe der Frage nach dem Woher und Wohin - es ist die Gottesfrage selbst - nicht verzweifeln und in dem Abgrund der Sinnlosigkeit versinken müssen. Gott, Grund und Ziel alles Lebens, in Christus anschaubar geworden, kann uns auch in Nacht und Tod nicht mehr völlig entschwinden. Wir sind getragen, geborgen. Wir dürfen in den schlichten, kindhaft vertrauenden Worten des Justinus Kerner bekennen:„
Weiß nicht, woher ich bin gekommen,
weiß nicht, wohin ich werd genommen,
doch weiß ich fest, daß ob mir ist
eine Liebe, die mich nicht vergißt.
LeerWas Gottes Geschöpfe als Leben und Sterben sehen und erfahren, dürfen sie eingespannt und eingeordnet sehen in den denkbar weitesten, den alles umfassenden Zusammenhang, in Gott. In Not und Tod, in Lust und Leid, in der Welt, in der wir Angst haben, ist uns gesagt: Vor Geburt und Mutterschoß schon Gott, nach Tod und Grab noch immer Gott, zwischen Geburt und Tod immer Gott! Am Ende der Tage, am Ende des Lebens, am Ende der Welt noch immer Gott! In solchem wagenden, kühnen Glauben begeht die christliche Kirche, die kämpfende und leidende mit der vollendeten Gemeinde verbunden, das Ende ihres Jahres. Das Leben behält den Sieg, weil Gott Leben ist. Das Kirchenjahr geht zu Ende, aber im christlichen Jahreslauf fällt in das Sterben schon ein Strahl vom Lichte der Weihnacht, in der das Leben geboren ward. Darum auch kann sich christlicher Glaube in dem Paradoxon aussprechen:
Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen.
Mitten wir im Tod vom Leben sind umfangen.
Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1932/33, S. 154-159

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-01-26
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