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Geistliches Wachstum
von Wilhelm Stählin

LeerUm die Jahrhundertwende zählten die Bücher des frommen Schotten Henry Drummond zu den beliebtesten und verbreitetsten christlichen Erbauungsschriften und fanden auch in Deutschland außerordentlich viel dankbare Leser. Drummond, der eine Professur für Naturwissenschaft an einer theologischen Hochschule bekleidete, vereinigte in sich in seltenem Maße die Beobachtungsgabe und den unbestechlichen Wirklichkeitssinn, wie sie echte naturwissenschaftliche Bildung verleiht, mit tiefem geistlichen Verständnis der Bibel und des christlichen Lebens. Das Werk, das ihn vor anderen berühmt gemacht hat, ist der echte Ausdruck dieser seltenen Zusammenschau zweier Welten: Natural Law in the Spiritual World, das Naturgesetz in der Geisteswelt. In 12 Kapiteln weist Drummond die Analogie zwischen den Gesetzen der natürlichen Lebenserscheinungen und der inneren Gesetzmäßigkeit des geistlichen Lebens auf und gibt so, an einer Fülle der Natur abgelauschter Beobachtungen illustriert, eine Art Biologie des geistlichen Lebens.

LeerSolche Betrachtungsweise ist uns heute sehr fern gerückt und sie erscheint vielen ernsten Theologen als gänzlich verfehlt, irreführend und gefährlich. Ist es überhaupt erlaubt, von einem geistlichen L e b e n zu sprechen, da ja die Gnade nur der freie Spruch Gottes ist, der den sündigen Menschen um Christi willen annimmt? Ist es vollends erlaubt, mit den aus der Natur genommenen Bildern von einer Entwicklung, von Wachstum, Reifung und Fruchtbarkeit solches geistlichen Lebens zu reden, wenn doch der begnadete Sünder der Sünder bleibt, der wohl täglich von neuem unter die Zucht und den Gehorsam des heiligen Geistes sich beugen soll, aber eben gewiß nicht auf solchem Wege der Heiligung sich dem Ziel der Vollkommenheit allmählich annähern kann? Es ist nicht zu bestreiten, daß die Bekenntnisschriften der Reformation in ihrem Eifer, die Reinheit ihrer neu geschenkten Erkenntnis von der freien Gnade Gottes nicht zu trüben, von diesem Leben der Heiligung, von den Lebensgesetzen und Lebensformen dieses geistlichen Lebens wenig oder nichts gesagt haben. Umso mehr freilich haben die klassischen Erbauungsschriften auch unsrer Kirche, die das fromme Volk „die alten Tröster” genannt hat, „von der Notwendigkeit des göttlichen und heiligen Lebens”, „von der Übung der Gottseligkeit”, „von der gläubigen Seele heiligem Eifer”, „von der gläubigen Seele Wachstum” (so in Scrivers Seelenschatz) geredet.

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LeerSolche Redeweise hat ihr gutes Recht. Sie könnte sich sehr äußerlich darauf berufen, daß die Bibel selbst das Leben des Geistes in immer neuen Bildern aus dem natürlichen Leben und Wachstum beschreibt; aber es ist richtiger, umgekehrt zu sagen: Deswegen redet die Bibel in solchen Bildern, weil die Gabe Gottes in Christus eben nicht eine Idee, ein Gedanke oder ein Gedankengebäude ist, sondern ein Leben, daß sich in uns einsenken, uns durchdringen, in uns sich entfalten und wachsen und Frucht fragen will. „Das Leben ist erschienen”; es ist erschienen in dem, der spricht. „Ich bin das Leben”; „Ich lebe und ihr sollt auch leben”. Alles Leben ist immer ein Geheimnis und man kann von diesem Geheimnis des Lebens nicht anders reden, als daß man beschreibt, wie solches Leben entsteht, aus welcher Nahrung es sich speist, nach welchen Gesetzen es wächst, und in welchen Früchten es sein Entwicklungsziel erreicht und seine Gestalt vollendet. Keines unter allen Gleichnisbildern spielt in der Verkündigung Jesu selbst eine solche Rolle wie das Bild von dem Samen, den der göttliche Säemann auf den Acker der Menschenwelt streut, und der nun aufgeht und wächst, freilich auf verschiedenem Boden, unter verschiedenen Wachstumsbedingungen sehr verschieden sich entwickelt, hier kümmerlich und lebensunfähig, dort vielfältig und reich und fruchtbar.

LeerDie apostolischen Briefe gebrauchen dieses Bild in einer doppelten Anwendung. Das geistliche Leben der einzelnen Christen, ihr Sein in Christo wird angeschaut als ein lebendiges Geschehnis, das sich in ihnen wachstümlich entfalten will: Die Christen sollen wachsen in der Gnade (2. Petr. 3, 18), in der Erkenntnis (Kol. 1, 11); ihr Glaube darf wachsen (2. Thess. 1, 3), und wenn sie willig geworden sind zu opfernder Liebe, so läßt eben darin Gott „das Gewächs ihrer Gerechtigkeit wachsen” (2. Kor. 9, 10). Dieses Leben mit Christo und aus Christo wird angeschaut und beschrieben wie ein neuer Lebenslauf, in dem es Kindheit und Jugend, Wachstum und Reife gibt. Die „eben geborenen Kinder” bedürfen der kindlichen Nahrung, „auf daß ihr durch dieselbe zunehmet” (1. Petr. 2, 2); aber es ist eine Schande, wenn die, die längst herangewachsen sein sollten, noch der Kinderspeise bedürfen, weil sie im geistlichen Leben kleine Kinder geblieben sind (Hebr. 5, 12-13; 1. Kor. 3, 1-3). Denn es ist Mahnung und Verheißung, daß die, die den zeugenden Samen der göttlichen Wahrheit empfangen haben, nun nicht Kinder bleiben sollen, sondern heranwachsen sollen „zu dem Maß des vollkommenen Alters Christi” (Eph. 4, 13-14). Das gleiche Bild der wird auch auf die Gesamtheit der Gläubigen, auf die Gemeinde angewendet. Der Leib Christi „wächst zu seiner selbst Besserung”; er wächst „in allen Stücken an dem, der das Haupt ist” (Eph. 4, 15.16); er soll und darf wachsen „zur göttlichen Größe” (Kol. 2, 19) und, in einer sehr kühnen Bildermischung, der Bau (der Kirche) „wächst zu einem heiligen Tempel” (Eph. 2, 21).

LeerAlle diese uns so sehr vertrauten Bilder aus dem Wachstum des pflanzlichen Lebens empfangen aber ihren großen und verpflichtenden Ernst daraus, daß wie im natürlichen so auch im geistlichen Leben die ganze Entwicklung auf einen Tag der Ernte zielt (Mark. 4, 26-29), wo die Spreu von dem Weizen geschieden wird. Der Weingärtner sucht Frucht an den Reben und verbrennt die Reben, die keine Frucht gebracht haben. Die Frucht allein ist der Erweis des Lebens; ein Wachstum, das sich wohl üppig entfaltet, aber nicht zur Frucht reift, ist ein verfehltes und sinnloses Wachstum. „Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit” (Gal. 5, 22).

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LeerGibt es ein geistliches Wachstum? Die Frage hat zwei Seiten. Man kann sehr grundsätzlich, theoretisch, theologisch darüber nachdenken, vielleicht auch darüber streiten, ob es zum Wesen des heiligen Geistes gehört, daß er als Lebensmacht in uns Menschen sich wachstümlich entfaltet. Und man kann sehr persönlich, sehr unerbittlich fragen und sich fragen lassen, ob es bei uns ein geistliches Wachstum gibt; ob wir aus den kindlichen Anfängen geistlichen Lebens allmählich herauswachsen, ob es weiter geht, ob wir etwas lernen, ob unser Glaube stärker, unsre Erkenntnis tiefer, unsre Liebe reiner, unser Gebet brünstiger wird, ob unser Herz befriedet, unser Wille geheiligt, unser ganzes Seelenleben geordnet und gereinigt wird, - oder ob wir ewig kleine Kinder bleiben, ob wir stecken geblieben sind und uns im Kreise drehen; oder ob gar unser inneres Leben wie eine Blume, der es an Sonne oder an Regen mangelt, verwelkt, verkümmert und vertrocknet.

LeerDas Eine ist wirklich keine Frage; und das andere ist wirklich d i e. Frage. In dem Buche von Henry Drummond findet sich auch ein Abschnitt über Wachstum. Da werden als Analogie aus dem Pflanzenleben vor allem zwei Merkmale echten Wachstums herausgestellt: Es geschieht von selbst, und es geschieht geheimnisvoll. Man kann Wachstum nicht machen, und man kann Wachstum darum auch nicht befehlen. Die Natur hat das Geheimnis des Wachstums in ihrer eigenen Hand behalten. Darum geschieht auch geistliches Wachstum nicht durch moralische Anstrengung. Wohl aber kann und soll man dem Organismus des geistlichen Lebens die Kräfte und Nährstoffe zuführen, deren er zu seinem Wachstum bedarf. So wie der Schiffsmann den Wind nicht machen, wohl aber seine Segel so setzen kann, daß der Wind das Schiff treibt, so kann der Mensch keine geistliche Kraft erzeugen, aber er kann sich der Gott-geschenkten Kraft der Gnade öffnen, und erschließen, sodaß sie an ihm wirksam wird. Soweit Drummond.

LeerAber nun ganz praktisch: Gibt es Kräfte, aus denen sich unser Leben mit Christo speist, so wie unser leiblicher Organismus aus Speise und Trank sich aufbaut? Kräfte, denen wir uns öffnen, die wir auf uns wirken lassen können? Die Sprache der alten Dogmatik redet von Wort und Sakrament als den Gnadenmitteln des heiligen Geistes. Recht verstanden ist damit von der Speise geredet, durch die unser geistliches Leben gefördert werden, wachsen und gedeihen kann. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir still zu stehen scheinen, wenn unser innerliches Leben verkümmert oder von Krankheiten befallen wird, - wenn wir versäumen es zu nähren mit der Speise, die ihm zugedacht ist. Das bloße Kirchengehen, das Predigthören, oder das Bibellesen als ein gewohnheitsmäßiges frommes Werk tuts freilich nicht. Es kommt ganz und gar an auf jenes stille besinnliche unermüdliche Hören, auf jenes Betrachten und sich Versenken; was wir Meditation nennen, ist nichts anderes als eine Hilfe und Übung, die Seele zu solchem verweilenden und gehör-samen Hinhören zu erziehen. Dazu gehört Zeit. Es bekommt dem geistlichen Leben noch viel weniger gut als dem Körper, wenn die Speise hastig hinuntergeschlungen wird, weil man keine Zeit hat. Das geistliche Leben sehr vieler Menschen kann einfach deswegen nicht gedeihen und nicht vorwärts kommen, weil sie sich nie Zeit lassen, nie Zeit nehmen, still zu werden, zu warten und sich in eine Sache ernsthaft zu versenken. Wir alle, ohne Ausnahme, sind in einer entsetzlichen Gefahr, vor lauter Wichtigkeiten und Nichtigkeiten keine Zeit zu haben. Wer den Menschen alle Zeit nimmt und ihnen keine Zeit läßt zur Stille, mordet ihre Seelen und steht gewiß im Dienst des Teufels, „der uns den Namen Gottes nicht heiligen lassen will”. Aber man darf sich um seiner Seligkeit willen nicht die Zeit nehmen lassen!

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LeerEs kommt freilich nicht auf die Stille allein an - es gibt auch eine ganz leere und unfruchtbare, ja gefährliche Stille, in denen wir den bösen Mächten verfallen -, sondern darauf, daß wir in solcher Stille uns wirklich ganz und gar erfüllen lassen mit dem Wort des lebendigen Gottes, heilige Bilder sich einsenken lassen in unsre tiefsten Tiefen. Regelmäßiges und ausdauerndes Lesen, Suchen und Forschen in der heiligen Schrift, Ordnung und Übung des Gebets, auch wenn wir immer wieder über die ersten Worte eines Gebetes nicht hinausdringen; unsre Lieder, vor allem dann, wenn sie uns nach Wort und Weise ganz vertraut und zu eigen geworden sind.- all diese und ähnliche geistliche Übungen, wie wir sie immer wieder denen, die mit Ernst Christen sein wollen, aufs dringendste empfehlen und anraten, sind die eigentliche Nahrung des geistlichen Lebens, und ohne sie muß das geistliche Leben verhungern, verschmachten, verkümmern statt zu wachsen. Vor allem anderen aber hat Gottes Gnade seiner Kirche das heilige Sakrament des Altars gegeben, daß das Leben ihrer Glieder sich immer wieder erneuere, er-hole, und wie das Kind aus dem lieben täglichen Brot, hier die Kraft seines Wachstums empfange.

LeerEs gehört zu den schmerzlichsten und erschütterndsten Erfahrungen, daß wir vielleicht, obwohl wir treulich alle solchen Hilfen gebrauchen, dennoch nicht weiterkommen. Wir ertappen uns über genau der gleichen ungeistlichen Gesinnung; es wird uns schwer Liebe zu üben; wir werden vom Zorn übermannt; die Sorgen überfluten unser Herz; und statt daß wir endlich „ein Mann werden in Christo” bleiben wir Kinder, die über die Anfangsgründe dieser Schule nicht hinauskommen und rasch vergessen und verlernen, was sie eben empfangen haben. Solches Gefühl ist gewiß nicht immer eine selbstquälerische Täuschung; es kann schon wirklich so mit uns stehen, und wir sollen uns dann über solche Erfahrung nicht beruhigen und gewiß nicht mit irgend einem Sprüchlein von der allgemeinen Sündhaftigkeit oder gar mit der dogmatischen Formel simul justus, simul peccator (der gerechtfertigte Christ bleibt gleichzeitig ein Sünder) hinwegtrösten. Sondern wir sollen vielmehr uns ernstlich fragen, was das geistliche Wachstum bei uns hindert. So wie irgend eine schleichende Krankheit das gesunde Wachstum eines Körpers hemmen kann, so kann der Strom des Lebens in uns durch gang bestimmte Hindernisse aufgehalten werden, sodaß er sich nicht durch unser ganzes Sein ergießen kann. Es gibt bestimmte Lieblingsfehler, denen wir nie wirklich den Kampf angesagt oder denen wir jedenfalls nicht „bis aufs Blut widerstanden” haben, und die nun wie ein unheimliches Ungeziefer alles Wachstum lähmen und zerstören. Nur gründliche Selbstbesinnung und oft, sehr oft, nur das unerbittliche Wort eines erfahrenen Seelsorgers kann dieses verborgene Übel aufdecken. Christian Morgenstern hat diese Not erschütternd beschrieben:
Das ist der Ast in deinem Holz,
an dem der Hobel hängt und hängt,
dein Stolz,
der immer wieder dich
in seine steifen Stiefel zwängt.

Er hält dich fest: Da stehst du starr:
dürr knistend-widerspenstig Holz:
ein Stolz-
verstotzter Stock, ein sich
selbst widriger Hanswurst und Narr.
LeerEs ist mehr als ein Beispiel, wenn hier vom Stolz die Rede ist. Denn dieser Stolz, diese unaustilgbare Selbstliebe (die sich in Bescheidenheit, Selbstvorwürfen, ja Verzweiflung gefährlich genug verbergen kann), das ist ja die metaphysische Ursünde; der ungebrochene Widerstand gegen Gott und damit die eigentliche Lähmung alles geistlichen Wachstums.

LeerDenn alles geistliche Leben ist ja nicht mehr unser natürliches Leben, sondern eben das Leben Christi in uns. Und dieses Christusleben in uns kann sich nicht entfalten, kann nicht wachsen und reifen, anders als durch ein Sterben des „natürlichen” Menschen, des „alten Adam” hindurch. Dieser alte Adam ist keineswegs die Summe aller unsrer Bosheiten, Fehler und Laster; sondern es ist dieses eitle Ich, das sich selbst mit aller seiner Kümmerlichkeit und Not festhalten will; und nur wo dieses Ich in täglichem Opfer in den Tod gegeben, hingegeben wird an Gott, in den Schmelzofen des göttlichen Geistes hineingeworfen, an Christus hingegeben wird, daß er es wandle, da und nur da kann das geistliche Leben wachsen. Nur da kann das eigensinnige Kind reifen zu rechtem Mannestum und Frauentum in Christus, wachsen „zur göttlichen Größe”.

LeerUnd es ist das unausdenkbare Mysterium des christlichen Lebens, daß wir eben da, wo wir uns nicht mehr dagegen wehren „abzunehmen”, daß wir eben da wirklich wachsen und reifen dürfen, und daß dann unser Leben als Rebe an dem göttlichen Weinstock Frucht tragen darf.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1934, S. 108-113

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-24
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