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von Rudolf Spieker |
Wenn heute gefragt wird, ob das Auftreten von Orden und Bruderschaften auf dem Boden der Kirche nicht Anzeichen einer in Verfall geratenen Kirche ist, so ist das unbedingt zu bejahen, und zwar nicht bloß für den Raum der mittelalterlichen Kirche! Die Notwendigkeit, sich auf evangelischem Boden bruderschaftlich zusammenzuschließen, hat sich daraus ergeben, daß unsere Kirche durch das Zeitschicksal an die Wende geführt wurde, an welcher ihre Unkraft und Schwäche offenbar geworden ist. Die Kirche hat nicht erkannt, daß diese Zeit, welche alle Kräfte um der politischen Neugestaltung willen an die Außenfront des Lebens fordert und bindet, gerade nach dem Gegenpol ruft: der Zusammenfassung echter geistlicher Kräfte in der Tiefe, da, wo die Wurzeln liegen, von wo das Leben gespeist wird. Statt den eigentlichen Dienst zu begreifen, zu dem die Kirche durch das Volksschicksal gerufen ist, gab sich die Kirche in vermeintlicher Weltoffenheit dem äußeren Zeitgeschehen allzu urteilslos hin. Das ist nicht erst seit gestern und heute so. Seit zwei Jahrhunderten hat sich die Kirche in ihrem theologischen Denken und in ihren Lebensformen dem zeitlichen Vordergrund angepaßt, sie hat ihre gottesdienstlichen Ordnungen verfallen lassen, sie hat keine eigene kirchliche Gestalt mehr entwickelt. Die Unbekümmertheit, ja Freudigkeit, mit welcher die Kirche sich in unseren Tagen der Technik bediente, zeigt deutlich, daß sie kein Gespür mehr hatte für die Besonderheit ihres Auftrages an die Welt. Kein Wunder, daß es dieser Kirche nicht gegeben war, diejenigen geistlichen Erfahrungen und Einsichten über den Kultus, die Seelsorge, das kirchliche Liebeswerk und die der Kirche gemäße Verfassung zu erwerben, deren sie bedurft hätte, um in der Stunde, in der sie gefordert wurde, wirklich als Kirche auf den Plan zu treten. Insbesondere war die Kirche des Luthertums einer verhängnisvollen Selbsttäuschung anheimgefallen. Während sie noch - der Sache nach mit Recht - die zentrale Bedeutung des „Wortes Gottes” behauptete, bemerkte sie nicht, daß das Wort ihrer Verkündigung an den Rand des Lebens hinausgedrängt worden war und nicht mehr die Mächtigkeit und Durchschlagskraft besaß, um die evangelischen Grundwahrheiten in den ganzen Lebensumkreis hinauszutragen. In dieser kirchlichen Not helfen nicht mehr richtige theologische Erkenntnisse, kritische Einsichten, theoretische Vorschläge für die Neugestaltung. An solchem allem hat es in dem ersten Jahrzehnt nach dem Kriege nicht gefehlt. Aber so lange nicht der Vorstoß gewagt wird in das Gebiet der kirchlichen Verwirklichung, bleibt man in der theoretischen Diskussion. - Einer der Neuansätze, die im Raum der evangelischen Kirche nach dem Kriege zu bemerken sind, ist die von Berneuchen ausgehende Bewegung. Diese Bewegung wurde aus einem fast zehnjährigen, wechselvollen Wege an den Punkt geführt, wo - trotz mancher Vorschläge zur kirchlichen Neugestaltung und ihrer praktischen Erprobung auf Freizeiten und in Gemeinden - die Gefahr in Sicht kam, daß sie im Literarischen stecken bleibe. Es stellte sich heraus, daß eine solche Bewegung nicht bloß eines tragenden Kerns und einer Führungsschicht bedarf, sondern daß sie auch hindrängt auf eine leibhafte Gestalt, in welcher feste Bindung der Glieder aneinander, Verantwortlichkeit voreinander und vollkommene Einsatzbereitschaft aller gegeben ist. Solche Nötigung hat dazu geführt, daß zu Michaelis 1931 in Marburg Männer des Berneuchener Kreises, Pfarrer und Laien, sich zur „Evangelischen Michaels-Bruderschaft” (MB) zusammenschlossen. Das Ziel, das damit gesteckt war, hat ihr Leiter später, nach zweijährigem Bestehen, damit aufgezeigt, daß er „Bruderschaft als d i e Aufgabe in dem Ringen dieser Zeit um Neuwerdung” darstellte, nämlich „Bruderschaft, die nicht beruht auf gemeinsamen theologischen oder politischen Ansichten, oder auf gemeinsamen frommen Erlebnissen, sondern auf dem Gehorsam gegen den Ruf Gottes, der uns in die öffentliche Verantwortung hineinstellt, der uns aus unserem privaten Dasein herausholt und in eine Front einreiht, die um das Werben von Kirche kämpft. Sodaß Bruderschaft wächst als Gemeinschaft im Gebet und Sakrament, als Ordnung und Formung der Menschen in der Zucht der Wahrheit, als Gemeinschaft konkreter seelsorgerlicher Verantwortung ... Wenn Bruderschaft einen echten Sinn hat, dann ist sie Gemeinschaft derer, die geöffnet sind und bereit sind für Wiedergeburt, Wandlung, Erneuerung und Heiligung ihres Lebens. So ist Bruderschaft höchstes konkretes Gefordertsein: du folge mir nach.” Gewiß hat die Bruderschaft ihren Gliedern mit dem Verzicht auf einheitliche Kirchenpolitik vorübergehend eine schwere Last zu tragen zugemutet. Die Einheit konnte daran zerbrechen - dann nämlich, wenn sich die Grundlagen der Bruderschaft selber als nicht echt erwiesen! Aber die Brüder, welche im Verlaufe des Kampfes glaubten, in entgegengesetzten Fronten fechten zu müssen, blieben aneinander gebunden - wahrlich nicht nur durch die Idee eines ritterlichen Kampfes, welche zu allen Zeiten die gegeneinander Kämpfenden sich zugleich als zusammengehörig hat erkennen lassen; auch nicht durch das Bewußtsein der Schuld, an der alle zu tragen haben, sofern an diesen kirchenpolitischen Kämpfen die tiefe Zerrüttung und Entkirchlichung des Protestantismus zutage tritt; sondern vor allem durch die Entdeckung des echten Michaelskampfes. Die Front d i e s e s Kampfes läuft anders, als sie die Welt sieht. Sie läuft quer durch die kirchlichen Fronten, ja quer durch uns selber. Es ist der Kampf gegen unser Fleisch und Blut, gegen alle menschliche Ehrsucht und menschliches Machtverlangen, gegen alles, was sich auflehnt gegen den alleinigen Anspruch Gottes, der Kampf, in welchem jeder Gedanke gefangen genommen wird „unter den Gehorsam Christi”. Es ist der MB in mehrjährigem Zusammenleben erst recht aufgegangen, gegen was für hintergründige Mächte der Kampf geht. Es sind die Mächte, welche uns verfinstern und blind machen für die Wirklichkeit Gottes, welche uns die heilige Nüchternheit der Wahrheitserkenntnis rauben und uns in ungestillte Lebensgier und selbstzerstörende Leidenschaften hineinreißen. So hat sie uns der Apostel im Epheserbrief beschrieben, und zwar an der Stelle, wo er die Verfinsterung des alten Menschen und die Neugeburt des Lebens gegenüberstellt (Kap. 4, 17-24). An dieser Stelle wird deutlich, daß nichts so stark in die finsteren Hintergründe des menschlichen Lebens hinableuchtet wie die Wirklichkeit Christi, und zwar diese nicht als ein frommer Gedanke, sondern als eine gegenwärtige Realität, welche uns von ihrer Wirkungsmacht überzeugt. Darum gewinnt das „Sein in Christo” für uns ganz entscheidende Bedeutung. Die Bruderschaft verpflichtet ihre Glieder, sich täglich zum rechten Hören des Wortes durch Stille und Gebet zu bereiten. Sie stellt sich in eine Ordnung der betenden Kirche, deren Gebet niemals verstummen darf. Sie hält sich wach, jeden Tag den Ruf Gottes zu hören. Die Brüder lesen täglich die Heilige Schrift, nicht nach Willkür, auch nicht nach einem ihr aufgegebenen Studienplan, sondern so, wie sie ihnen nach der Ordnung des Kirchenjahres gegeben wird. (2) Sie versuchen bei solchem Lesen das Wort allem verstandesmäßigen Zergliedern zu entnehmen. Sie üben sich, auch im Hören die Wahrheit zu „schauen”. Sie bitten darum, daß sie am Morgen aus der Lesung die Sendung in den Tag und am Abend die Zuteilung der göttlichen Gnade empfangen. Bei solchem Lesen ist ihnen die Bibel nicht mehr ein Buch zu Studienzwecken, sondern sie ist gewissermaßen das irdische Element für das göttliche Wort, welches sie nicht bloß hören und lesen, sondern gleich einem Lebensbrot essen. Es ist der MB als einer leibhaften Verwirklichung der Kirche selbstverständlich, daß in ihr eine geordnete Seelsorge der Brüder untereinander geübt wird. Das ist um so nötiger, als die Bruderschaft eine bestimmte Haltung und geistliche Zucht des ganzen Menschen fordert, welche nur da verwirklicht wird, wo Menschen einander bis ins Innerste Hilfe leisten. Wo ernsthaft Seelsorge geübt wird, ist man gezwungen, darüber nachzudenken, welche tatsächlichen Hilfen und seelsorgerlichen Ratschläge dem Hilfesuchenden erteilt werden müssen, und es stellt sich heraus, daß wir Evangelischen auf diesem Felde noch ganz in den Anfängen sind. - Es erscheint insbesondere als ein schwerer Notstand, daß die evangelische Kirche die Möglichkeit der Einzelbeichte so gut wie ganz verloren hat. Und doch hat schon ein so unverdächtiger Zeuge wie der ältere Blumhardt uns davon berichtet, wie bei seinen Gemeindegliedern der evangelische Trost, so insgemein erteilt, nicht haften wollte, sondern die Leute von ihm „nach seinem Amte” vergeben haben wollten. Er hat dann die förmliche Verkündigung der Vergebung der Sünden unter Handauflegung vollzogen als etwas, das er sich „nach der Augsburgischen Konfession (C.A. XXV) und dem Katechismus, sowie nach den Testamentsworten Jesu gar nicht anders als dem evangelischen Amte zuständig denken konnte.” (3) Anders wird auch in der MB nicht über das kirchliche Recht der Einzelbeichte und der Spendung der Vergebung im Namen der Kirche gedacht. Ebenso drängt Luthers Sakramentsauffassung, nämlich die Verleiblichung Christi im Sakrament, dahin, daß um diesen Mittelpunkt sich alles Leben der Kirche gruppiere und gleichsam wie in wachsenden Ringen darum lege, also daß auch Verfassung und Verwaltung der Kirche noch eine Bezeugung von der Gegenwart Christi in der irdischen Welt sind. Die lutherischen Kirchen ermangeln lediglich der Konsequenz, weil sie nicht gewagt haben, aus diesem Ansatz auch die äußere Gestalt der Kirche zu entwickeln. - Mit dieser zentralen Stellung, die hier dem Sakrament des Altars zugewiesen wird, wird dem Gedanken nicht zu nahe getreten, daß die Kirche nur durch das „Wort” begründet und erhalten werde. Denn das „Wort”, aus dem sie lebt, ist eben nicht das nominalistisch verengte, in Buchstaben gefaßte Wort, sondern das Work, welches Gott bei der Schöpfung sprach, welches allen Dingen zugrunde liegt, welches Fleisch ward in Christus, durch welches wir aus dem Tode in s Leben gerufen und geistlich erhalten werden. Man lese einmal Luthers Weihnachtspredigt über Joh. 1 aus der Wartburg-Postille 1522 daraufhin durch und überzeuge sich, in welcher Fülle und umfassenden Weite hier das „Wort” verstanden ist: „Dermaßen allhier Gott Sein Wort so von sich spricht, daß Seine ganze Gottheit dem Wort folget und von Natur im Wort bleibet und wesentlich ist... Hier bringt das Wort das ganze Wesen mit sich und ist ebenso voller Gott als der, des Bild oder Wort es ist.” (5) Wie tief Luther noch in der gesamtkirchlichen Überlieferung steht, wird bei seiner Begehung des Kirchenjahres deutlich. Wir kehren hier also nur zu einem verloren gegangenen Erbe zurück, wenn wir in der Ordnung des Kirchenjahres wieder Gedenktage und Feste zu Ehren bringen, die dem heutigen evangelischen Kirchenvolk fremd sind. Daß wir dabei auch die r ö m i s c h e Tradition befragen, wo sie ein gesamtkirchliches Erbe treu bewahrt hat, daß wir uns von ihr beschämen lassen, wenn wir wahrnehmen müssen, in welchem Reichtum die Heilige Schrift, vor allem auch das Alte Testament und die Psalmen, dort bei der Begehung des Kirchenjahres uns entgegentritt, daß wir uns durch die Lesungen der Väter darauf stoßen lassen, welche Seiten des Schriftverständnisses wir übersehen haben - aus all dem machen wir kein Hehl. Von diesen Voraussetzungen aus hat sich für die MB die Berührung mit den lutherischen Kirchen des Nordens ungesucht und ganz von innen heraus ergeben. Die Brücke ist dadurch geschlagen worden, daß diesseits und jenseits der Ostsee der Gedanke der Kirche erwacht ist und daß Menschen, die solchen Anteil am Leben der Kirche einander abspürten, miteinander ins Gespräch kamen und entdeckten, daß sie auf dem gleichen Wege seien, ja sogar auf dem Wege bruderschaftlicher Bindung, auf welchen sie durch kirchliche Not und Vereinsamung gedrängt waren. Dieser Austausch mit dem Luthertum des Nordens (in welchen auf deutschem Boden auch die Hochkirchliche Bewegung und vom Ausland vor allem die Anglikanische Kirche, aber auch das Luthertum im Südostraum Europas mit einbezogen ist) findet nicht auf großen ökumenischen Veranstaltungen statt, sondern in der schlichten Form der menschlichen Begegnung und in Tagen gemeinsamen Lebens. Es ist schwer zu beschreiben, welche Stärkung es für uns Deutsche mitten in den Spannungen des Kirchenkampfes war, uns mit diesen Brüdern aus stammverwandten Völkern in der Gemeinsamkeit des Glaubens zu finden. Umgekehrt bezeugen diese uns, daß sie von dieser neugeschenkten Gemeinschaft des Glaubens nicht mehr zurücktreten wollen, wie es Pfarrer Dr. G. Rosendal in Osby nach der letzten Tagung der MB in Ratzeburg in einem rückschauenden Bericht zum Ausdruck gebracht hat.(7) „Wir können keinen Augenblick daran denken, uns von unseren Brüdern jenseits der Ostsee zu isolieren. Sie sind unsere Brüder, mehr als dem Namen nach. Wir sind durch ein unauflösliches Band mit ihnen verbunden. Haben wir nicht zusammen gebetet, gemeinsam auf das Wort gelauscht und Gemeinschaft gefunden durch den Herrn selbst im Altarsakrament? Die deutsche Kirche leidet! Heißt es nicht, wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit?... Und wenn nun der Schreiber dieser Zeilen in stiller Stunde, in tiefer Ergriffenheit sich fragt: wo warst du? in welchem Lande? So antwortet sein Herz: du warst nicht unter einem fremden Volke, du warst unter den Brüdern, du warst in der Kirche Christi.” Anmerkungen
Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1935, S. 141-149 |
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