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O Jesulein zart, das Kripplein ist hart
von Walter Blankenburg

O Jesulein zart, das Kripplein ist hart

1. „O Jesulein zart, das Kripplein ist hart
LeerO Jesulein zart, wie liegst du so hart.
Ach schlaf, ach tu die Äugelein zu,
LeerSchlaf und gib uns die ewige Ruh.
O Jesulein zart, wie liegst du so hart.
LeerO Jesulein zart, das Kripplein ist hart.”
2. „Schlaf, Jesulein, wohl. Nichts hindern soll:
LeerOchs, Esel und Schaf sein alle entschlaf.
Schlaf, Kind, schlaf, tu Dein Äugelein zu,
Leerschlaf und gib uns die ewige Ruh.
Ochs, Esel und Schaf sein alle entschlaf.
LeerNichts hindern soll, schlaf, Jesulein, wohl.”
3. „Dir Seraphin singt und Cherubin klingt;
Leerviel Engel im Stall, die wie gen Dich all.
Schlaf, Kind, schlaf, tu die Äugelein zu,
Leerschlaf und gib uns die ewige Ruh.
Dir Seraphin singt und Cherubin klingt;
Leerviel Engel im Stall, die wiegen Dich all.”
4. Seid stille, ihr Wind, laßt schlafen das Kind.
LeerAll Brausen sei fern, es ruhen will gern.
„Schlaf, Kind, und tu die Äugelein zu,
Leerschlaf und gib uns die ewige Ruh.”
Ihr Stürme, halt' ein, das Rauschen laßt sein.
LeerSeid stille, ihr Wind, laßt schlafen das Kind.
5. Nichts mehr sich bewegt, kein Mäuslein sich regt.
LeerZu schlafen beginnt das herzige Kind.
„Schlaf denn und tu Dein Äugelein zu,
Leerschlaf und gib uns die ewige Ruh.
Nichts mehr man dann singt, kein Stimmlein erklingt.
LeerSchlaf, Jesulein zart von göttlicher Art.”

LeerUnter den Weihnachtsliedern unserer Väter nehmen die Hirten- und Wiegenlieder einen besonderen Raum ein. Das hat seinen Grund ganz gewiß nicht lediglich in deren hervorragend gemüthaften, phantasievollen Veranlagung, in ihrem Sinn für schöne Begleiterscheinungen und kleine Einzelzüge des Lebens. Vielmehr sind die Hirten, wie sie auf dem Felde vom göttlichen Licht überwältigt werden und im Stall zu Bethlehem in wahrer Demut das Christuskind anschauen, und auch die Mutter Maria, die den Heiland versunken wiegt, Sinnbilder rechter christlicher Anbetung und Gottesverehrung.

LeerEin solches Volkslied wie das vorstehende erschließt sich uns nur, wenn wir uns mit der Mutter Maria in den Anblick der Krippe versenken. Ihre Augen ruhen auf dem Heilandskinde. Was ist das für ein Anblick, was für ein Gegensatz! Das himmlische Kind in einer solch erbärmlichen Krippe! Es ist zart, viel zu fein für das grobe Lager. Und das ist ja kein Zufall; hier liegt nicht lediglich ein unglückliches Zusammentreffen verschiedener, außergewöhnlicher Umstände vor. Nein, so mußte es kommen und konnte gar nicht anders sein. Die harte Krippe in dem armseligen Stall ist weiter nichts als ein Gleichnis für die Welt und die Menschen. Ja, die Welt und das Herz der Menschen sind eine harte Krippe. So wie die Bibel ihrem Leser nichts vorenthält an Schilderungen menschlicher Schwächen, Schuld und Sünde und die Welt so brutal und leidvoll zeigt, wie sie ist, so hat Luther auch von der Bibel gesagt: „Schlecht und geringe Windeln sind es, aber teuer ist der Schatz, Christus, der darin liegt”.

LeerUnd nun eine zweifache Bitte der stillen Sängerin: Möchte das Kindlein hier dennoch eine Ruhestätte finden und möchte es uns dadurch Anteil geben an der himmlischen Ruhe! Möchten wir etwas spüren und erfahren dürfen von dem Geheimnis und dem Wunder göttlichen Friedens mitten in der dunklen, kalten und stürmischen, in der gehetzten, lauten und ruhelosen Welt. Das ist die Bitte, die in der Mitte des Liedes steht und dann immer wiederkehrt; es ist die wichtigste Bitte des Lebens. Wie entzückt und schwärmerisch gebrauchen wir Menschen manches Mal das Wort „himmlische Ruhe” und tun es doch gedankenlos und wissen gar nicht, was es im vollen Sinne bedeutet. An diesem Lied können wir es ahnend begreifen.

LeerUnd wie der Gesang der wiegenden Mutter ihr Kind allmählich in den Schlaf singen soll, so vollzieht sich hier in der Ruhe und Abgeschiedenheit der Weihnacht das Wunder, daß das Christuskind in der Verborgenheit der schlafenden Welt selbst Ruhe findet, jenseits alles Lärmes und Getriebes, aber freilich bei der wachenden, die Stille suchenden und für Ruhe sorgenden, alle Störung abweisenden, dienenden Mutter. Wo die Welt stille geworden ist, wo der Mensch zum Schweigen kommt, da beginnt er ein Ohr für die Töne des Himmels zu haben, da hört er die Engel singen.
„Ochs, Esel und Schaf
sein alle entschlaf.”
LeerJa, das Wunder steigert sich: der Himmel begibt sich auf Erden. Der enge Raum ist erfüllt von den Cherubim und Seraphim.
„Viel Engel im Stall
die wiegen dich all.”
LeerIn dieser Verborgenheit der heiligen Nacht hat Gott die Welt gefunden, hat er das geschäftige, den Menschen verherrlichende Stimmengewirr der Welt verdrängt und die finstere Nacht erfüllt mit dem „Soli deo gloria”. Und wer wie die Mutter Maria solche Stille nicht scheut und sie nicht flieht, ihr auch nicht aus dem Wege geht, wer bei der Unrast dieser Welt nicht allein Ablenkung, Zerstreuung und Erholung, sondern wirkliche - und was heißt das anders, als auf Gott gerichtete - Stille und Besinnung sucht, dem drängt sich der Ruf auf:
„Ach schlaf, ach tu die Äugelein zu,
Schlaf und gib uns die ewige Ruh.”
LeerImmer deutlicher wird es der wiegenden Mutter, wie fein, zart und wunderbar die himmlische Ruhe ist, wie ganz anders als die Lebhaftigkeit der Kreatur. Aber weil das Kindlein doch dieser Welt himmlische Ruhe spenden will („schlafen will gern”), darum möchte doch alle Kreatur verstummen, damit dieses Geschenk nicht verloren gehe. Auch die Stürme und das Brausen in der Natur sind ja nur Erinnerung und Mahnung daran, daß wir in einer kämpfenden und tobenden Welt leben, die so himmelweit verschieden ist von der göttlichen Geborgenheit und die wir allein durch den Sohn in dieser Zeit bemeistern und hernach für die Ewigkeit überwinden können.

LeerUnd das Wunder erfüllt sich: In der heiligen Nacht hat sich der Himmel auf die Erde herniedergesenkt:
„Nichts mehr sich bewegt,
kein Mäuslein sich regt,
zu schlafen beginnt das herzige Kind.”
LeerSo heißt es dann schließlich: „Schlaf denn”, d. h. schlaf weiter, jetzt wird es ganz stille. Auch die himmlischen Heerscharen verstummen vor dem einen König; es ist wirklich ein göttlicher Schlaf, der der Welt beschieden wird.

LeerWir spüren, daß dies ein Lied voller Hintergründigkeit ist. Sie bleibt uns verschlossen, wenn wir nur das Liebliche an ihm erfassen. Wir wissen es ja von den Bildern unserer Vorväter, wie sie es vermocht haben, sich in die Gestalten und Umstände der Weihnachtsgeschichte hineinzudenken und zu leben. Die Mutter Maria ist die ganz bereite und aufgeschlossene Mutter, die ganz ihrem Kinde lebt, die sich der nachsinnenden Betrachtung ganz hingibt, die auch den leisesten Zug des Christuskindes verfolgt, die ihm als Mutter ganz gehört und von ihm alles empfangen will. Gerade diese ihre Art macht sie zum Sinnbild rechten Christenlebens und zur Wegbereiterin für die göttliche Art des Heilands auf Erden. Und mit dem allen ist sie zum Urbild der Kirche geworden. Es wird ihr Name nicht genannt; als Sängerin steht sie hinter dem Lied, sie tritt ganz zurück. Aber eben als eine, die keinen Augenblick von sich reden macht, sondern nur von dem erschienenen Heiland, ist sie Vorbild für rechte Gottesverehrung.

LeerDie im 17. Jahrhundert nachweisbare wechselchörige Melodie zu unserem Liede zeigt einen für den Bereich des Volksliedes selten klaren künstlerischen Aufbau und eine bewußte Gliederung. Ausgehend von einem ganz ruhigen Wiegengesang bekommt sie bei der ersten Antwort des zweiten Chores durch die Hinführung zu dem Schlußton „b'” eine gewisse Spannung, die hervorgerufen ist durch die Betrachtung der Worte „zart” und „hart”. In der Mitte des Liedes steht dann mit deutlicher, aber doch nicht aufdringlicher Inbrunst das immer wiederkehrende Gebet:
„Ach schlaf, ach tu die Äugelein zu,
Schlaf und gib uns die ewige Ruh”,
Leervornehmlich gekennzeichnet durch das mixolydische „es””, wie ja auch schon die Hervorhebung des 4. Tones „b'” im zweiten Zeilenpaar eine charakteristische mixolydische Wendung darstellt; dagegen sind Anfang und Schluß des Liedes sowie der Ablauf des Mittelstückes ganz wiegenliedhaft dur-mäßig. Das vierte und fünfte Zeilenpaar leiten textlich wie musikalisch (wenn auch textlich nicht streng beim 3.-5. Vers) in umgekehrter Form wieder zum Anfang zurück. Dabei wird auch die Spannung und Dringlichkeit des Mittelteils gegen Ende hin gelöst, so daß zuletzt die symbolhafte Ruhe des Anfangs wieder spürbar wird. So wölbt sich das kleine Wiegenlied zu einem hohen Bogen und umschließt das Gebet des Christen mit göttlicher Stille und Erfüllung, und schon seine äußere Gestalt hat einen gleichnishaften Sinn.

Evangelische Jahresbriefe 1937, S. 15-18

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-07
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