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„Jesus der ging den Berg hinan”
von Walter Blankenburg

LeerJesus der ging den Berg hinan

1. Wollt ihr hören ein neu Gedicht
aus der biblischen Geschicht
von unserm Herren Jesu Christ,
der aller Welt ein Schöpfer ist.
2. Jesus der ging den Berg hinan,
er rufet seinen himmlischen Vater an:
„Ach Vater liebster Vater mein,
kann ich der Marter nicht überhoben sein?”
3. „Ach Sohn, du liebster Sohn mein,
Der Marter kannst du nicht überhoben sein:
Es ist viel besser, du sterbst allein,
Denn die ganze Christenheit gemein.”
4. Jesus der ging in Garten,
Seiner bittern Marter tät er warten:
Da entschliefen ihm die Jünger sein,
Der gütige Herr stund gar allein.
5. Die Juden kamen gegangen
Mit Spießen und mit Stangen.
Mit Spießen und mit scharfem Gerüst
Sie suchten den Herrn Jesum Christ.
6. „Wen sucht ihr Juden gemeine,
Ihr großen und auch ihr kleinen?”
„Wir suchen Jesum von Nazareth.”
„Ei, den ihr sucht, das bin ich.”
7. Die Juden sehr erschraken
Von unsers Herren Worten:
Sie fielen alle hinter sich,
Der gütige Herr stund trauriglich.
8. Er hieß sie wiederum auferstehn
Und ließ sie wiederum zu ihm gehn:
Da küßt ihn Judas an seinen Mund,
Der ungetreue falsche Hund.
9. Die Weile währt nit lange,
Sie nahmen den Herren gefangen.
Indem zog Petrus aus sein Schwert,
Hieb Malchus sein rechtes Ohr hinweg.
10. „Ach Peter, steck das Schwert hinein,
Ich will ganz unverfochten sein;
Kein Fechten will ich von dir han.”
Jesus setzt Malchus sein Ohr wieder an.
11. Petrus schrie mit Heller Stimm gegen Gott:
„Herr, ich geh mit dir bis in den Tod:
Mein Leben will ich bei dir lan!”
Petrus der hub zu schwören an.
12. „Petrus, schweig stille deiner Red':
Ehe denn der Hahn zum ersten kräht,
Wirst du mich verleugnen und verschwörn.”
Erst tät sich Petrus Trauren mehrn.
13. Sie legten ihn ein Ketten um seinen Leib,
Sie führten ihn weg zur selben Zeit,
Sie brachten ihn vor Kaiphas dar.
Der das Jahr Hoherpriester war.
14. Wie bald ihn Kaiphas binden ließ
Und ihn mit Ruten schlagen ließ,
Daß von ihm floß sein rosenfarbes Blut,
Das gnug für unsre Sünde tut.
15. Da nahmen ihn der Juden Schar:
Der ein speit ihm in sein Antlitz klar,
Der andre gab ihm ein Backenschlag,
Daß der Herr von Herzen sehr erschrak.
16. Da ward Jesus gar sehr veracht'
Für Hannes, Kaiphas Schweher, bracht,
Der Jesum Christum, Gottes Sohn,
Aufsetzen ließ ein Dornenkron.
17. Da leidt der Herr groß Laster und Schand,
Für Pilatus, den Richter, ward gesandt:
Da täten ihn die Juden verklagen,
Auf daß er würd ans Kreuz geschlagen.
18. Als ihn Pilatus ane sach,
Sprach er: „Was führt ihr für ein Klag
Gen diesen Menschen all gemein?”
Sie schrien: „Er will der Juden König sein.”
19. Pilatus wußt der Juden Haß,
Führt Jesum mit sich in sein Palast.
Von ihm da fordert er Bericht,
Jesus antwortet ihm aber nicht.
20. Pilatus sprach aus Zorn und Grimm:
„Weißt du, daß ich ein Richter bin?
Zu tun, zu lassen hab ich Gewalt.”
Darauf antwortet ihm Jesus bald:
21. „In dein Händen hast weltlich Gericht,
Die G'walt hast du von dir selber nicht,
Sondern von meim Vater oben herab,
Der mich in die Welt gesendet hat.”
22. Do kam Pilatum an ein Graus,
Er führt Jesum bald wieder aus.
Zu'n Juden redt er mit Geduld:
„An diesem Menschen find ich kein Schuld!”
23. Die Juden schrien aus grimmigem Mut:
„Über uns soll gehn all sein Blut,
Über uns und alle unser Kind:
Läßt ihn los, bist nit des Kaisers Freund!”
24. Bald sich Pilatus von ihm wendt,
Von Stund an wusch er seine Händ:
„Unschuldig bin ich an diesem Blut,
Seht, daß ihr ihn recht richten tut.”
25. Sie nahmen ihn in guter Acht,
Ein schweres Kreuz hätten sie ihm gemacht,
Daran der Herr sollt werden geschlagen.
Mußt er auf seinem Rücken tragen.
26. Sie zwungen Simon, den frommen Mann,
Daß er mußt helfen das Kreuze trag'n
An die Statt, da es ward aufgericht:
Zu Gott hätt' er groß Zuversicht.
27. Do ward Jesus ans Kreuz gehenkt,
Mit Gallen und Essig getränkt;
Jesus, der schrie aus hartem Weh:
„Eli lama asabthani!”
28. Zween Mörder wurden mit ihm gehenkt:
Der ein' ihn tröst, der ander' ihn kränkt.
Der erste sprach zu ihm zugleich:
„Herr, denk mein, in deins Vaters Reich.”
29. Der ander sprach mit großem Spott:
„Nun hilf uns und dir, bist du Gott!
Lös uns von diesem harten Band,
Des du neben uns hast große Schand.”
30. „Ach Vater, wie verläßt du mich!
Überheb mich des, das bitt ich dich,
Gib mir Geduld in meinem End,
Nimm meine Seel in deine Händ!”
31. „Ach Vater, liebster Vater schon,
Vergib ihn', sie wissen nicht, was sie tun,”
Sprach Jesus in seiner letzten Zeit:
Hiemit sein Seel vom Leibe scheid.
32. Die Juden sprachen mit großem Spott:
„Bist du ein König und nennst dich Gott,
Hilf dir selber und steig herab!”
Hiemit Jesus sein Geist aufgab.
33. Wie das einer unter ihn' ersach,
Alsbald er ihn in sein Seit stach:
Daraus floß Wasser und Blut
Der ganzen Christenheit zugut.
34. Es war ein frommer Mann allda,
Hieß Joseph von Arimathia,
Der bat um den Leichnam zart,
Auf daß er da begraben ward.
35. Joseph, der fromm' Mann nahm ihn ab
Und tät ihn legen in sein Grab,
Am dritten Tag wieder auferstand
Und sitzt zur rechten Gotteshand.
36. Er herrscht in des Vaters Herrlichkeit
von nun an bis in Ewigkeit,
Zu urteilen in derselben Frist
Alles, was tot und lebendig ist.
37. Da wird er lan die Posaunen erschall'n,
Die Toten wird er wecken all':
Da wird ein jeder nehmen sein Lohn,
Was er Guts oder Übels hat getan.
38. Darum sollt ihr dankbar sein
Gott um solch bitter Leiden sein,
Das er um unsertwillen getan allein,
Damit er uns löst von der Höllen Pein.

LeerEs ist gar nicht auszudenken, um welche Reichtümer allein an allertiefstem, bestem und stärkstem Volksgut unser Volk gebracht werden würde, wenn das geistliche Volkslied immer mehr aus den Liederbüchern unserer Zeit verschwände, wenn man bei der Erschließung alter Volksliedquellen nur eine gewisse, von irgendeinem modernen Denken geleitete Auswahl treffen würde; denn im geistlichem Lied lernen wir unser Volk an der Wurzel seiner religiösen Kraft und Ehrfurchtsfähigkeit kennen, die einfach beispielhaft bleibt. Beide Eigenschaften haben in ihrer Unverbildetheit und Urwüchsigkeit unserem Volke u. a. auch ein ganz besonders feines Verständnis der Bibel geschenkt. Davon zeugt nicht zuletzt eine Gattung Passionslieder, die wenig bekannt ist und doch gerade heute uns von neuem zu ergreifen vermag, das ist die  L i e d p a s s i o n . Darunter verstehen wir eine liedmäßige Umdichtung der Leidensgeschichte, bezw. von Abschnitten aus ihr, in Form und Gestalt ähnlich der strophischen Volksliedballade, wie eine ganze Reihe von Beispielen bezeugt.

LeerNun ist es immer so gewesen, daß die Übersetzung einer Geschichte in eine Gedichtform, wenn sie ernsthaft sein will, ein ganz besonderes Verständnis des zu verarbeitenden Stoffes voraussetzt. Und das ist es gerade, was die deutschen Liedpassionen uns so wert macht, nämlich ihr außerordentlich tiefes Verstehen der Leidensgeschichte, ihr Hervorheben von verborgenen Inhalten der ursprünglichen Geschichte, wobei sie Erkenntnisse zeigt, die nur einer unverbildeten Schau gesund empfindender Menschenkinder möglich ist. So stellen die Liedpassionen meistens zugleich eine Auslegung des biblischen Berichtes von besonderer Feinheit und Richtigkeit dar, und darum können sie uns in ihrer Weise in das Verständnis der Passionsgeschichte einführen.

LeerWir greifen aus dieser Gattung Passionslieder eins zur näheren Betrachtung heraus und zwar das unter dem Namen „Jesus, der ging den Berg hinan” bekannte Lied, dem freilich in protestantischen Gesangbüchern des 16. Jahrhunderts noch ein einleitender Vers vorangestanden hat. In unserem Lied wird in 38 Strophen die Leidensgeschichte durchschritten, nicht im Anschluß an eins der Evangelien, sondern in Zusammenarbeitung von Zügen ans allen vier Evangelien. Freilich nicht nach der Vollständigkeit der Wiedergabe darf der Wert des Liedes bemessen werden, ja nicht einmal nach dem Maßstab historischer Treue. Jeder aufmerksame Leser wird sofort merken, daß es nach der Schilderung des Evangelisten Pilatus war, der Jesus die Dornenkrone aufsetzen ließ und nicht Hannas (vgl. Vers 16).

LeerAuch wird Jesus nach dem johanneischen Bericht zuerst zu Hannas (nur hier kommt ja Hannas überhaupt vor) und danach zu Kaiphas geführt. Solche Dinge sind unwesentlich gegenüber der erstaunlichen Kraft der Versenkung in den inneren Ablauf und in die unerbittliche Folgerichtigkeit der Leidensgeschichte, die das Lied offenbart. Mit welchem Mitverstehen wird das Gethsemane-Gebet geschildert und durch eine erdichtete Antwort Gottvaters (Vers 3) gedeutet. Wie lebendig überhaupt die Darstellung des Vater-Sohn Verhältnisses, wie herzlich der mehrfach wiederkehrende Ruf „Ach Vater, liebster Vater” (Vers 2, 30 und 31)! Die Wahrheit des Herrenwortes „Ich und der Vater sind eins” wird hier in wunderbarer Weise deutlich gemacht.

LeerSchauen wir auf andere Züge! Wie ist durch ein knappes Wort die große Einsamkeit des Herrn in jenen Stunden ausgesagt:
„Da entschliefen ihm die Jünger sein,
Der gütige Herr stund gar allein.” (Vers 4, zweite Hälfte)
LeerOder wie ist das Charakteristische bei der Gefangennahme durch wenig Striche klar hervorgehoben. Wohl, Jesus wird gefangen genommen, aber trotzdem bleibt er der überragende, der Herr der Situation, der zugleich der der Liebe ist, der Erbarmen hat mit denen, die solcher Schlechtigkeit verfallen sind:
„Sie fielen alle hinter sich,
Der gütige Herr stund trauriglich.” (Vers 7, zweite Hälfte)
LeerGanz besonders lebendig wird die Petrusgestalt bei der Gefangennahme. Das Gespräch vom Gründonnerstagabend wird in unserem Lied mit in die Nacht, und zwar in den Augenblick, wo Petrus das Schwert zieht, verlegt. In den Worten „Petrus schrie mit heller Stimme gegen Gott” liegt doch wohl beides, der Ausdruck aufrichtigen Wollens und doch auch zugleich der verkrampfte und verzweifelte Schrei eines Menschen, der etwas gelobt, was er nicht halten kann. Hier wird wiederum durch einen feinen kleinen Strich deutlich gemacht, wie auch der Mensch, der an sich ganz und gar die Züge von Mannhaftigkeit und männlicher Kraft getragen hat und für den darum die deutsche Volkspoesie immer eine besondere Vorliebe gehabt hat, vor der Schwere des Gottesweges zusammenbricht.

LeerIn den Versen 20-22 wird noch einmal die königliche Majestät des Heilandes überaus plastisch gezeichnet. Pilatus versucht Jesus einzuschüchtern. Sofort (im Liede steht „bald” im Sinne von alsbald) gibt Jesus eine Antwort, die Pilatus völlig in Verstörung und Verwirrung versetzt:
„In dein Händen hast weltlich Gericht,
Die G'walt hast du von dir selber nicht,
Sondern von meim Vater oben herab,
Der mich in die Welt gesendet hat.
Do kam Pilatum an ein Graus,
Er führt Jesum bald wieder aus.” (Vers 21 u. 22, erste Hälfte)
LeerDiese Punkte mögen genügen, um zum gründlichen Lesen und Singen dieses besonders tiefen Volksliedes anzuregen. Vermag es uns nicht die Leidensgeschichte von neuen Seiten zu erschließen und ans ihrer unerschöpflichen Tiefe neue Erkenntnisse zu schenken?

LeerSolche die Leidensgeschichte nacherzählenden Lieder haben in früherer Zeit in den protestantischen Gottesdiensten ihren festen Platz während der Karwoche gehabt. Ein Anfang, diesen wichtigen alten Brauch wieder neu aufleben zu lassen, ist bereits gemacht, indem das Lied „Da Jesus an dem Kreuze stund”, das ja auch eine solche Liedpassion ist, in den „Liedern für das Jahr der Kirche” dem Karfreitag zugeteilt wurde. Das Lied „Jesus der ging den Berg hinan” wäre als weitere Liedpassion wohl wert, in unseren Passionsgottesdiensten Verwendung zu finden. Eine geschickte Auswahl von Strophen wird zumeist erforderlich sein (vgl. z. B. die sehr gute, das Vater-Sohn Verhältnis betreffende von Walther Hensel in den Finkensteiner Blättern Band V, 52). Aber darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, das ganze Lied als geistliches Spiel mit verteilten Rollen im Wechselgesang von Schulkindern vortragen zu lassen, wobei die Worte der vorkommenden Einzelpersonen einzelnen Kindern zugewiesen werden, während der Chor den verbindenden Text des Evangelisten und die Worte der Menschengruppen singt.

LeerVon dem Liede sind verschiedene, z. T. sehr von einander abweichende Melodiefassungen überliefert. Wir haben hier die vielfach bekannte aus den Finkensteiner Blättern gewählt. Ebenda findet sich auch ein ganz einfacher, wundervoller vierstimmiger Satz zu diesem Liede aus dem Jahre 1625. Der schlichte Melodieverlauf im schwebenden Dreitakt ist ganz und gar der Erhabenheit der Leidensgeschichte angemessen. Der Text und die ursprüngliche Form der Weise stammen aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem 16. Jahrhundert.

Evangelische Jahresbriefe 1937, S. 54-59

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-07
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