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Was heißt Sünde?
von Walter Uhsadel

LeerEs gehört zu den Zeichen unserer Zeit, daß die zentralen Begriffe der christlichen Glaubenslehre nicht mehr verstanden werden. Darum ist es eine wichtige Aufgabe, denen, die sich nicht mit einer oberflächlichen Meinung über diese Begriffe begnügen wollen, zu einer Klärung zu verhelfen.

LeerÜber das, was mit dem Worte Gnade gemeint ist, hat uns das Zitat aus Luthers Einleitung zum Römerbrief (1) bereits einiges gesagt, das auch für das Verständnis des Begriffes Sünde von Bedeutung ist. Gnade - sagt Luther - ist Gottes Huld, mit der er uns begegnet, als seien wir vor ihm gerecht. Die deutsche Sprache macht uns den Sinn dieser Aussage insofern besonders anschaulich, als das Wort Gnade zusammenhängt mit „neigen”. Gottes Gnade ist sein Geneigtsein über die Menschenwelt. Es ist das Gleiche, was uns auch die Worte des griechischen Urtextes und der lateinischen Bibel sagen; sie bedeuten das, was zu Freude und Dank stimmt, weil es „angenehm” ist. Gott nimmt den Menschen an, er nimmt sich seiner an, er stößt ihn nicht von sich.

LeerWenn man so von der Begegnung des Menschen mit Gott reden kann, muß das schon seine tieferen Gründe haben. Es muß dem Menschen doch nicht selbstverständlich sein, daß für ihn eine Begegnung mit Gott „angenehm” ist. Gott hat für ihn etwas Erschreckendes. Er fürchtet sein Gericht. Nur wer ganz an der Oberfläche des Lebens bleibt, mag das Erschauern vor dem Geheimnis Gottes nicht kennen. Aber ist es denkbar, daß es einen solchen Menschen gibt? Wir werden zwar dem Worte Fausts nicht zustimmen: „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil” (2) aber wir wissen um die Wahrheit, die in diesem Worte steckt.

LeerDas nennen wir Gnade, daß es dennoch ein Begegnen Gottes mit dem Menschen gibt, das nicht erschreckend und vernichtend, sondern Leben spendend ist. Gott ist über diese ihn fliehende Welt geneigt und umspannt sie mit seiner Barmherzigkeit. Im 139. Psalm ist von dieser Flucht des Menschen „bis ans äußerste Meer” die Rede, dieser Flucht, die ihm doch nichts nützt; denn Gott umgibt ihn von allen Seiten. Gnade heißt, daß der fliehende Mensch, der von Gott eingefangen wird, mit Freude und Dankbarkeit erkennen darf, daß seine Flucht nicht nötig war!

LeerUnd jene Flucht heißt: Sünde. Auch hier mag uns die Sprache zu Hilfe kommen: das Wort Sünde ist urverwandt mit den Worten Sund, senden, sondern, Gesinde, Gesindel und bezeichnet eine Trennung. Sünde ist Sonderung von Gott.(3) Das wird uns vor allem in zwei Stücken der Bibel anschaulich: in der Geschichte vom Sündenfall und dem Gleichnis vom verlorenen Sohn. In der Geschichte vom Sündenfall ist von dem Menschen schlechthin die Rede (Adam = der Mensch). Der Mensch will „sein wie Gott”, das heißt, er will selber Herr seines Lebens sein, er will wissen, was gut und böse ist, er will das Ur-teil über sein Leben selber haben, er will sein Leben in die eigene Hand nehmen. Aber in seiner eigenen Hand ist sein Leben nicht mehr geborgen. Es verliert seine schöne Gestalt. Da ist keine „Gestalt noch Schöne” mehr. Und die Welt ist nicht mehr der freundliche Garten (Paradies = Garten), sondern der rauhe Acker, der Dornen und Disteln trägt.

LeerDer Sünder ist der Gott gegenüber eigenmächtige, eigenwillige und eigensinnige Mensch. - Dasselbe zeigt uns das Gleichnis vom verlorenen Sohn: Dieser Sohn will selbstverständlich alles haben, was er vom Vater zu erwarten hat, aber dem Vater selbst wendet er den Rücken. Indem er bei Lebzeiten des Vaters sein Erbe verlangt, erklärt er dem Vater, daß er ihn als tot betrachte. Es ist der Mensch, der sein Leben, seine Gesundheit, das Licht der Sonne, das ihm scheint, das tägliche Brot, das er empfängt, als Selbstverständlichkeit hinnimmt, ohne sich des Gebers dieser Gaben erinnern zu wollen. Im Gleichnis zeigt sich nun, wie die Gaben und Güter, die nicht in der Verantwortung vor dem Vater empfangen und gebraucht werden, unfruchtbar bleiben und zum Unheil dienen. Erst als der verlorene Sohn auf seiner Flucht vor dem Vater an den Rand seiner Existenz gekommen ist, spürt er, daß der Vater ihn dennoch nicht losläßt. Er möchte unter dem Dache, unter der Gnade des Vaters ein bescheidenes Dasein fristen - und wird wieder ganz in das Leben des Vaterhauses aufgenommen.

LeerSünde ist Lösung des Lebens von seinem Ursprünge, vom Vaterhause, von der Obhut und Macht dessen, dem wir das Leben zu verdanken haben.

LeerEs ist also falsch, den Begriff Sünde mit seelischer oder sittlicher Minderwertigkeit gleichzusetzen, wie es oft genug geschieht. Der Sünder ist nicht ein „minderwertiger Mensch”. „Wir sind allzumal Sünder” - sowohl der bedeutende, verdienstvolle Mann, als auch der Verbrecher. Der Begriff Sünde gehört weder der Psychologie oder Charakterologie, noch auch der Ethik an, sondern der Dogmatik, nicht der Seelenkunde oder Sittenlehre, sondern der Glaubenslehre. Es geht bei dem Begriff Sünde nicht um den Menschen an und für sich, auch nicht um das Verhältnis des Menschen zum andern Menschen, sondern um das Verhältnis des Menschen zu Gott.

LeerSo ist denn der Gegensatz zu Sünde nicht Leistung, Verdienst, gute Taten, sondern Glaube, das heißt: Gott angehören, ge-horsam sein, sich ihm an-geloben.(4) Wir haben es also mit zwei einander entsprechenden Begriffspaaren zu tun: Sünde = Flucht vor Gott und Gericht = Gottes Urteil über den flüchtigen Menschen; Gnade - Erbarmen Gottes mit dem Menschen, der sich ihm ausliefert, und Glaube = Bindung des Menschen an den gnädigen Gott.

LeerAber nun ist noch ein Letztes über die Sünde zu sagen. So gewiß der Begriff Sünde als der Glaubenslehre zugehörig das zerstörte Verhältnis des Menschen zu Gott bezeichnet, so notwendig ist es doch, von hier aus die Folgerungen für die Lehre vom Menschen und die Lehre vom gemeinsamen Leben der Menschen zu ziehen. Denn ist das Verhältnis des Menschen zu Gott zerstört, so ist auch das Bild des Menschen verzerrt und das Leben des Menschen mit dem Menschen verwirrt. So hat denn der Begriff Sünde doch seine Beziehung zur Seelenkunde und Sittenlehre.

LeerZunächst zur Sittenlehre: der „Sünder” begegnet dem andern Menschen falsch, weil er ihm nicht in der Verantwortung vor Gott gegenübertritt. Sein letzter Maßstab für das Verhältnis vom Ich zum Du liegt für ihn beim eignen Ich. Ein Gleichnis dafür ist die Haltung des Bruders im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Erst in der Verantwortung gegenüber dem Vater, der sie beide liebt, können die beiden einander wieder Brüder werden. (5)

LeerUnd zur Lehre vom Menschen: die heutige Psychologie hat uns sehr deutlich gemacht, welch tiefe Wahrheit in der Aussage der Bibel liegt, daß die Sünde der Leute Verderben ist, daß die Lösung von Gott, der Eigen-Wille und Eigen-Sinn den Menschen seelisch zerstören, daß der Mensch, der nicht in der Einfriedung durch den Willen Gottes in der Gottebenbildlichkeit leben will, allen dunkeln Gewalten preisgegeben ist. In der Trennung von Gott verwildert er wie ein herrenloser Acker. „Die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod” (Jac. 1, 15).

Anmerkungen

1: Weihnachtsbrief 1936, Titelseite
2: Goethes Faust, 2. Teil, 1, Akt „Finstere Galerie”.
3: Diese Ableitung des Wortes Sünde wird gelegentlich bestritten. Aber andere etymologische Erklärungen scheinen mir weit weniger überzeugend. Und sollte auch eine andere Ableitung richtig sein, so bleibt doch diese weitverbreitete Verbindung der Worte Sünde und Sund eine ausgezeichnete Deutung des Begriffes Sünde.
4. Glaube hängt zusammen mit geloben. Vgl. „Gott loben, das ist unser Amt”, 5. Strophe des Liedes: Nun jauchzt dem Herren, alle Welt. Und niederdeutsch „De lowen” = Der Glaube (Bugenhagen).
5: Die Aufsätze des „Gottesjahr 1937” stellen das in aller Vielfältigkeit und Ausführlichkeit dar.

Evangelische Jahresbriefe 1937, S. 64-67

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-24
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