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Zur Frage der Wunderheilungen
von Oskar Planck

Ein Brief

LeerIch hatte versprochen, Dir einmal über unsere schwäbischen „Stundenleute” zu schreiben, und meinte damit jene bäuerlichen Leiter unserer pietistischen Erbauungsstunden, die mit ihrer Bibelfestigkeit, Urwüchsigkeit und Besinnlichkeit ein besonderer Schatz unserer württembergischen Landeskirche sind. Nun hast Du statt dessen „Wunderleute” gelesen und verlangst von mir Auskunft über Blumhardt und Stanger. Du kannst Dir denken, daß meine erste Regung war, das Mißverständnis lachend aufzuklären und den Auftrag zurückzuweisen. Aber auch ein Lesefehler kann einen unter Umständen auf eine richtige Spur weisen. Die Zuschrift aus dem Leserkreise, die Du mitgeschickt hast, zeigt mir, wie ernstlich die mit diesem Namen verbundenen Fragen auch außerhalb Württembergs erörtert werden, so daß ich nicht die Freiheit habe, mich Deiner Bitte zu entziehen.

LeerIch muß Dir freilich unumwunden erklären, daß ich nicht als einer reden kann, der selber besonderer Einblicke in diese Dinge gewürdigt worden wäre, aber Du hast Dich ja auch nur deshalb an mich gewandt, weil ich das Glied einer Landeskirche bin, der Gott diese Fragen ganz besonders auf Herz und Gewissen gelegt hat. Und ebenso fragt Deine Briefschreiberin ausdrücklich nach der Haltung der Kirche. Ihr Anliegen läßt sich kurz so zusammenfassen Wir lesen in den Zeugnissen der urchristlichen Gemeinde, daß damals die Ämter zu weissagen, Wunder zu tun und gesund zu machen in die Gemeinde eingeordnet waren. In unserer Kirche dagegen stoßen wir umgekehrt auf die Abwehr gegen solches Wissen von dem Gebrauch solcher Kräfte. Ist es nicht für die Kirche heute Zeit, ihre Haltung zu überprüfen?

LeerIch habe auf dies hin mein Neues Testament zur Hand genommen. Aus ihm geht in der Tat hervor, daß die Jünger sich bewußt waren, von Jesus zweimal den doppelten Auftrag empfangen zu haben, zu predigen und Wunder zu tun (Matth. 10, 7. 8 und Mark. 16, 15-18), und daß Paulus Wert darauf legt, daß auch in der korinthischen Gemeinde durch ihn „eines Apostels Zeichen geschehen sind mit Wundern und mit Taten”, sodaß sie sich gegenüber den Gemeinden anderer Apostel nicht verkürzt zu fühlen brauchen (2. Kor. 12, 12 f). Noch aufschlußreicher ist 1. Kor. 12, wo Paulus bei seiner Aufzählung der verschiedenen Ämter und Gaben ausdrücklich die Gabe nennt, gesund zu machen, Wunder zu tun und zu weissagen (V. 8-10). Er unterscheidet damit die im Heilen bestehenden Gaben von den in Wundern bestehenden Wirkungen des Geistes, was ich mir aus seinem eigenen Leben an der Heilung des Lahmen in Lystra (Apostelg. 14, 8-10) und der Blendung des Zauberers Elymas in Paphos (Apostelg. 13, 9-11) veranschauliche. Nach 1. Kor. 14 ist das Weissagen nicht als die Voraussage zukünftiger Ereignisse zu verstehen, wie wir landläufig meinen, sondern als „das inwendige Recht und Vermögen, im Namen Gottes zur Gemeinde zu sprechen und ihr ein göttliches Gebot zu sagen, das ihr in ihrer besonderen Lage eben jetzt seinen Willen sichtbar macht” (Schlatter). Beispiel: Paulus vor dem drohenden Schiffbruch (Apostelg. 27, 20-26).

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LeerDiese Gaben sieht Paulus nun in einer gewissen Rangordnung (1. Kor. 12, 28). Er nennt zuerst die Ämter des Apostels, des Propheten und des Lehrers. Die Kirche braucht sie zur Verkündigung dessen, was Gott an uns tut und was er uns tun heißt. Ohne sie kann auf die Dauer keine Gemeinde bestehen. Dann folgen - von den Ämtern unterschieden - die Gaben der Wunder und der Heilung, die Fähigkeit, zu helfen und zu regieren und ganz zuletzt das ekstatische Zungenreden. Auch wenn man zugeben muß, daß diese Rangordnung etwas Fließendes hat, ist doch so viel deutlich, daß für Paulus das Vorhandensein von Prophetie, Wunder und Heilung zum Bild der urchristlichen Gemeinde gehört, und daß diese Größen nicht erst am Rande des Bildes auftauchen. Dazu stimmt das Bild, das die Apostelgeschichte von den Gemeinden in Jerusalem und Ephesus, Samaria, Lydda, Joppe, Lystra, Philippi und Melite zeichnet. An allen diesen Orten ist das Wunder geradezu der Ausgangspunkt des missionarischen Wirkens oder doch der Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, also ein „Zeichen” des göttlichen Wirkens wie bei Jesus selber auch.

LeerVergleiche ich nun damit die Haltung des Protestantismus, die noch in meiner Jugendzeit um die Jahrhundertwende dem Wunder gegenüber üblich war, so kann ich nachträglich bloß staunen, wie völlig wir der sogenannten Wissenschaft hörig geworden waren. Wenn ich von meiner persönlichen Erfahrung aus Rückschlüsse ziehen darf, so kam den Gebildeten christlich-idealistischer Prägung nicht einmal der Gedanke in den Sinn, die Wunder der Bibel könnten etwas anderes gewesen sein als die mißverstandene Auswirkung damals oder heute noch unbekannter Naturgesetze. Dem entsprach die Verlegenheit, mit der die herrschende Theologie die Wunder der Bibel geflissentlich verharmloste und die Wunder der Kirchengeschichte schamhaft verschwieg.

LeerFür meine Generation hat der Weltkrieg die Umwälzung unseres ganzen Denkens gebracht und, wenn ich recht sehe, eine Wende im europäischen Denken überhaupt eingeleitet. Das naturwissenschaftlich-historische Weltgebäude, in dem der europäische Protestantismus seit den Tagen der Aufklärung gewohnt hatte und in dem die Vernunft das strenge Hausregiment führte, stürzte wie unter den Erschütterungen eines Erdbebens zusammen, die Pforten des Gefängnisses taten sich auf, und was man ringsum gewahrte, war das Unbegreifliche schlechthin. Mit einem wahren Wonnerausch las man daheim und in den Lazaretten Agnes Günthers „Heilige und ihr Narr” und Schleichs „Schaltwerk der Gedanken”, weil in diesen Büchern das Unbegreifliche Ereignis geworden war. Mit leidenschaftlichem Interesse besprach man in den gebildeten Zirkeln die Phänomene der Geisterseherei, der Sterndeutung, der hintergründigen Seelenforschung und Welterklärung. An Stelle der Wunderscheu war über Nacht die Wundersucht getreten.

LeerIn dieser neuen Lage erkannte der freigewordene Blick mit Staunen, daß, während die Wissenschaft und Theologie die Wunder geleugnet hatte, in der Gemeinde Jesu Christi Wunder über Wunder geschehen waren. In den letzten zwei Menschenaltern hatten Blumhardt in Boll, Seitz in Teichwolframsdorf und Zeller in Männedorf Wunder getan; auch von dem Evangelisten Elias Schrenk wurden Wunderheilungen bekannt, und in der Villa Seckendorf in Cannstatt und bei Stanger in Möttlingen waren sie noch im Schwang.

LeerIch nenne hier absichtlich nur Schwaben, da meine Kenntnis über die Heimatgrenze hinaus lückenhaft und unsicher ist; aber Du siehst, daß schon allein unter meinen Landsleuten nicht wenige sind, bei denen einem das Pauluswort einfällt von den Gotteskindern mitten unter dem unschlachtigen und verkehrten Geschlecht, unter welchen sie scheinen als Lichter in der Welt. Zu diesen Gotteskindern hatte sich in den Zeiten der Verstandesdürre die hilfsbedürftige Menschheit heimlich geflüchtet und bekannte sich nun offen zu ihnen. Zündels „Blumhardt”, der seit 1887 nicht mehr im Buchhandel gewesen war, erlebte seit 1922 eine Massenverbreitung, und Stanger in Möttlingen, der lange verlacht und verlästert worden war, konnte seine „Rettungsarche” bauen. Ist damit nicht für die Kirche die unausweichliche Notwendigkeit gegeben, ihre Haltung gegenüber solchen Wundertätern gründlich zu überprüfen?

Laß mich mit dieser Frage für heute schließen. Wir wollen sie zunächst einmal in unserem Herzen bewegen. Ich danke Dir, daß Du mir dazu den Anstoß gegeben hast.

Evangelische Jahresbriefe 1937, S. 130-133

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-24
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