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Von der Kraft unserer Seele im Alltag
von Karl Behm

LeerWas ein Mensch als Einzelwesen für seinen Lebenskreis bedeutet, wird heute gern unter dem Gesichtspunkt der Leistung betrachtet. Wir sollten das Wort im umfassenden Sinne verstehen und die „Lebensleistung” eines Menschen meinen, seine Vollwirksamkeit. Und zwar wirkt der Mensch sowohl durch das, was er ist, wie durch das, was er tut. Haben wir auf der einen Seite die Leistung des Handelns, der Tat, so auf der anderen Seite die Leistung des Seins, des Charakters. Diese ist aber gerade das Wesentliche im menschlichen Zusammenleben, das Entscheidende für das Leben einer Volksgemeinschaft.

LeerEs liegt mir fern, diese Unterscheidung etwa zu weit treiben zu wollen, zeigt sich doch gerade aus dem Gebiete der Leistung die Geschlossenheit der menschlichen Persönlichkeit als Körper-Geist-Seele-Einheit. Wohl wirkt der Mensch schon durch sein bloßes Dasein, durch das Schwergewicht seiner Persönlichkeit, wie etwa an bestimmten Führerstellen. Aber entscheidend ist dann doch die von dieser Persönlichkeit nicht wegzudenkende Handlung. Jedes Tun entspringt einer inneren, seelischen Haltung.

LeerWenn wir uns im Leben Rechenschaft geben über unseren Pflichtenkreis oder andere Menschen mit bestimmten Aufgaben betrauen, ja auch etwa sie irgendwie erzieherisch zu beeinflussen versuchen, so beachten wir oftmals nicht genügend die seelische Spannkraft, welche hinter allem Tun stehen muß. Es gibt doch kaum einen Menschen, der nicht mit den besten Vorsätzen an irgend ein Werk herangeht, der nicht den besten Willen mitbringt, in einer Gemeinschaft zu leben und an ihrem inneren Wachsen mitzuarbeiten. Und doch erleben wir bei uns und anderen so vieles Versagen. Wir bringen nicht die Kraft auf, im Vorsatz beharrlich zu sein, einen gleichmäßigen Arbeitsrhythmus durchzuhalten, Geduld zu haben mit anderen. Überall fehlt es an der Kraft unserer Seele im Alltag.

LeerMit unserm Verstande sehen wir oft genug ein, wo wir versagen. Um allerdings zu solcher Einsicht zu kommen, müssen wir meist zum Arbeitsgebiet, zu den Dingen, zu den Menschen einen gewissen Abstand haben, wie er uns etwa durch einen freien Tag geschenkt werden kann. Es gibt aber wohl Umstände, in die wir so verrannt sind, daß Störungen zwar von anderen nur zu deutlich, von uns selbst aber nicht gesehen werden. Solche Erkenntnis liegt in den Worten jenes einfachen 80jährigen Waldarbeiters, der zu seinem ebenso alten König sagte: „Wir merken's halt net, wenn wir troddelig werden, aber die andern”.

LeerDieses Wort können wir alle auf uns anwenden bei einer allmählich sich einstellenden Nervosität, welche die Umgebung regelmäßig eher merkt, als der Nervöse selbst. Um nun wenigstens rein verstandesgemäß in unsern Zustand einen Einblick zu bekommen, sollte jeder Mensch täglich eine Zeit der inneren Ruhe, der Beschaulichkeit haben, in der er sich frei macht von allen Eindrücken der Außenwelt. Er muß versuchen, sich körperlich zu entspannen. Am besten erreicht man es, wenn man im Liegen die Augen schließt. Von der körperlichen Entspannung aus, zu der auch ruhiges und richtiges Atmen gehört, werden wir dazu kommen, daß die nervöse Unruhe allmählich abklingt und wir uns sammeln können.

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LeerWie unser Körper von einer richtigen Ernährung in seiner Leistungsfähigkeit abhängt, so hängt unser geistig-seelisches Wohlbefinden und unsere seelische Spannkraft auch davon ab, wie wir den Hunger unseres inneren Mensehen stillen. Die erste Vorbedingung hierfür ist das eben angedeutete Mebitteren. Unbedingt muß man einmal am Tag zur Entspannung, zur Ruhe zur inneren Sammlung kommen.

LeerWir merken nämlich bald, daß wir mit der reinen Erkenntnis schwer ober oft gar nicht auf unser Seelenleben einzuwirken vermögen, da dieses besonderen Gesetzen unterliegt. Wenn ich z. B. einen mir lieben Menschen nach langem Siechtum verliere, so sagt mir meine Einsicht: er ist von seinem schweren Leiden erlöst. Und doch empfinde ich schmerzlich die Leere in meinem Innern, die mir der Verlust dieses Menschen brachte. Zweifellos steht keine Selbstsucht dahinter, etwa die Vorstellung, was dieser Mensch mir durch sein Leben gab und noch hätte geben können, wie er mir vielleicht in meiner Lebenslage durch kluge Ratschläge unmittelbar nützlich gewesen ist. Gewiß mag sich dieses alles bei dem Tode auch in mein Bewußtsein drängen und doch ist es nicht das Wesentliche, aus dem der eigentliche Schmerz entspringt. Dieser ist der Ausdruck der plötzlichen Zerreißung bestehender seelischer Gemeinschaft. Nützlichkeitsbeziehungen zum andern Menschen haben nichts zu tun mit der unendlichen Trauer, die unser ganzes Herz erfüllen kann, wenn Freund Hein zu uns kommt und einen Menschen aus unserm Lebenskreise fortnimmt, den wir mit unserer Liebe umhegen. - Wo findet hier die Seele die Kraft zu tragen?!

LeerIch glaube, daß von den schwersten Anforderungen angefangen, die das Leben an uns stellt, vor allem, was wir im Kriege, in Not und Tod erlebten und erleben, bis hin zu den kleinsten seelischen Leistungen, welche jede Stunde des Tages von uns erfordert, die eigentliche seelische Kraft, derer wir bedürfen, grundsätzlich immer dieselbe ist. Wer nicht den Alltag meistert, ist besonderen Lebenslagen erst recht nicht gewachsen. Eine gewisse Einschränkung ist hierzu allerdings zu machen. Wissen wir doch, daß bei vielen Menschen Schicksalsschläge notwendig sind, um ihre Seele bis auf den Grund aufzuwühlen. Ein im Alltag Kleinmütiger kann dann plötzlich über sich hinauswachsen. - Bei erstarrten Seelen sind gewaltige Schicksalsprüfungen notwendig, um das Wachstum der Seelenkräfte von Neuem einzuleiten. Was wären wir alle für selbstgenügsame, selbstzufriedene, eigensüchtige, genußhungrige, tatenlose und schlaffe Menschen, wenn nicht tägliches Leid unsere Seele bereiten würde.

LeerVon Gott ist uns unsere Seele geschenkt mit ihrer Kraft, mit ihrem bestimmten Leistungsvermögen. Wir sollten sie nicht schlechter behandeln als unsern Körper. Wie der Körper klein, zart, hilflos seine Lebensbahn beginnt, so braucht auch unsere Seele ihr Wachstum, ihr Erstarken, ihre Entfaltung. In dieser Hinsicht eines allmählichen Heranreifens besteht manche Ähnlichkeit zwischen dem Körperlichen und dem Seelischen. Verweichlichung gibt es hier und da, ebenso wie Abhärtung. Wenn ich hier das Wort Abhärtung gebrauche und darunter verstehe, daß die seelische Tragkraft des Menschen allmählich wächst, so ist das etwas wesentlich anderes natürlich als eine seelische Verhärtung, welcher Hinweis mir notwendig erscheint, um einer Mißdeutung des Vergleiches vorzubeugen.

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LeerWir kennen nun verschiedene Wege der körperlichen Erziehung. Ich weiß, wie ich den Körper gesund erhalte, ihn leistungsfähig mache, seine Kraft, seine Ausdauer, seine Schnelligkeit und Geschicklichkeit steigere. - Wir kennen verschiedene Wege der geistigen Ausbildung. Es sind Methoden erarbeitet, wie wir uns ein bestimmtes Wissen aneignen, wie wir die Fähigkeiten des Intellektes steigern und künstlerische Anlagen fördern können. Wie steht es mit den Fähigkeiten, mit den Funktionen unserer Seele? Hier handelt es sich zweifellos um das Gebiet unseres religiösen Lebens. Nur tiefe, echt religiöse Menschen werden die von uns geforderte Spannkraft der Seele im Alltag erreichen. Der Mensch, welcher in tiefster Seele fromm ist, an dessen Seele Christus gearbeitet hat, ist ein anderer Mensch als solcher, der nur „religiös empfindet”, und der vielleicht verstandesmäßig einige bestimmte kirchliche Lehrmeinungen kennt und diese womöglich noch falsch verstanden hat!

LeerWenn wir angesichts der Notlage unserer Kirche immer wieder die Schuld zuerst bei uns selber suchen, stoßen wir unter mancherlei Tatsachen auch auf die, daß wir etwa einen Lehrer hatten, welcher zu den festgesetzten Stunden des Schulplanes „Religion” unterrichtete, ohne daß sein religiöses Leben im übrigen Unterricht durchzuspüren war. In Nachwirkung dieser Beobachtung kam vor Jahren bei mir die längst wieder verlassene Meinung auf: wenn unsere innere eindeutige und klare religiöse Haltung durch all unser Sein und Handeln durchzuspüren sein muß, so wären etwa besondere kultische Räume nicht nötig, ja gefährlich, da die Gefahr bestände, das religiöse Leben auf solche Bezirke zu beschränken. Naturschutzgebiete und Indianerreservate haben Museumswert. Seelisch-religiöses Leben auf bestimmte Stunden oder Räume beschränkt, bedeutet Absterben. Alles quellende Leben und erst recht das unserer Seele will Entfaltung, Ausbreitung, Durchflutung unseres ganzen Seins!

LeerErnster aber scheint mir heute die andere Gefahr: daß mit der Zerstörung des geheiligten Raumes das Leben der Seele den Quell verliert, aus dem es mit geistlicher Kraft gespeist wird. Nur dadurch können wir uns im Tischgebet sammeln, nur dadurch wachsen die Kräfte unserer Seele, daß wir in geweihte Bezirke hineintauchen können, um von dort her in den Alltag Kraft hineinzunehmen.

LeerDer Mensch, der in eine Gemeinschaft hineintauchen kann, die von Kräften des Glaubens getragen wird, erfährt die Bereicherung durch einen eigenartigen Kraftstrom. Die Wiedergabe eines Erlebnisses möge andeuten, was ich meine. Ein Student ging im Winter eine Straße, die an einem Berghang entlang führte. Als er eine Straßenkreuzung erreichte, kam plötzlich vom Berge her ein rodelnder Junge, der wegen des Eckhauses vorher nicht gesehen werden konnte. Der Student sprang erschreckt zurück und rief dem Jungen empört nach: „Verflixter Bengel!” Eine Ordensschwester hatte zu gleicher Zeit die Straßenecke erreicht, auch sie war entsetzt zurückgefahren. Aber trotz dieses Schreckens sah sie mit strahlenden Augen dem seinen Schlitten geschickt steuernden Jungen nach und sagte halblaut vor sich hin: „Du kannst aber mal schön fahren”. - Das Verhalten des Studenten darf wohl kaum als ichsüchtig ausgelegt werden, es ist aber ein ichbezogenes triebhaftes Antworten auf einen Schreck, Angst vor Beschädigung der eigenen Person. - Bei der Schwester sehen wir die geläuterte seelische Haltung, die Loslösung von der natürlichen Ichhaftigkeit und die ganz entschiedene Hinwendung zum Du. Wir Männer sind wohl geneigt, solches Verhalten ans dem Wesen der Frau und Mutter erklären zu wollen, ich glaube aber doch, daß wir hier das Ergebnis der seelischen Erziehung eines frommen Menschen haben.

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LeerWie können wir Menschen, die wir mitten im Leben stehen, die wir täglich ein reiches Maß von Arbeit zu leisten haben und nur in seltenen Fällen frei über unsere Freizeit verfügen können, die wir also mehr oder weniger in einer ständigen Hetze leben - wie können wir anfangen, an unserer Seele zu arbeiten? Hier komme ich zurück auf die oben erwähnte Forderung einer täglichen kurzen Zeit der Besinnung. In dieser Zeit, die uns Ruhe und daraus entspringende Spannkraft geben soll, lassen wir uns etwa folgendes .durch den Kopf gehen, was ich kürzlich einem jungen Menschen schrieb, um ihm brieflich in einer bestimmten Lebenslage zu helfen:

Leer„In uns allen kämpft Sehnsucht in die Ferne, der Wunsch herauszukommen, die Welt zu sehen, etwas zu erleben, mit der anderen Sehnsucht, die glücklichen Tage der unbeschwerten Kindheit festhalten zu wollen, sich geborgen zu wissen bei Eltern und Geschwistern; es kämpfen Fernweh und Heimweh.

LeerDiese Spanne können wir nur dann ertragen, wenn wir lernen, zu einer großen inneren Ruhe zu kommen, die wir dann erreichen, wenn wir so recht von Herzen des inne werden, was uns allein im Leben Halt gibt: Ich bin - in Gott - geborgen. Es verlohnt sich, den Inhalt dieses Satzes sich immer wieder zu vergegenwärtigen.

1. Zuerst die Tatsache meines Lebens als das eines einzelnen Geschöpfes mit all seinen inneren und äußeren Nöten, die Tatsache meines Daseins, also: „Ich bin” in mein Bewußtsein aufzunehmen.

2. Dann, in dem Gefühl der Vereinzelung, des ganz auf mich allein Gestelltseins, wohin auch keine noch so innige Beziehung zu andern Menschen reicht, dann heißt es, sich besinnen auf den Ort, wo ich bin, wo ich nach meinem tiefsten Wesen als Mensch hingehöre: in Gott.

3. Dann strömt alle von Ihm, dem Vater unser aller, kommende Kraft in mich ein, alles fällt von mir ab an Beängstigendem. Alles Kleine wird unwesentlich, wenn ich nur ganz sicher in die unabänderliche Tatsache: „Ich bin in Gott” hineinwachse, als die Tatsache, von deren Wahrheits- und Wirkungsgehalt mein ganzes Leben ausfüllen zu lassen ich willens bin. Und in das sehnende, das unruhvolle, das trauernde Herz zieht ein die große Ruhe, die über uns kommt, wenn wir wissen, wir sind geborgen. Und eine andere Geborgenheit als allein die in Gott gibt es nicht. Er hält seine schützende Hand über uns alle auf allen unsern Wegen. So hole dir von diesem Wissen Kraft und kehre immer wieder zurück zu dem Satz als zu dem Zauberwort für unsere Kraft im Alltag: Ich bin in Gott geborgen!”
LeerArbeiten wir so an unserer Seele, daß wir in die Einsamkeit gehen, um Kraft zu sammeln, lassen wir in der Stille Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus, an uns arbeiten in Gericht und Gnade, so werden wir in besonderer Weise befähigt, uns einzusetzen für unsere Mitmenschen, für unsere Volksgemeinschaft, in unserm Familienleben und in unserm alltäglichen Werk.

LeerWenn ich die Kinder so fröhlich dem Leben hingegeben sehe und ihre frohe Aufgeschlossenheit zu Blumen und Tieren, dann muß ich an ein bestimmtes Kind denken, das mit staunenden Augen jene herrlichen Blumen in der Hand hielt, welche wir „flammende Herzen” nennen. Von der unverbrauchten seelischen Kraft unserer Kinder sollen wir Erwachsenen wieder lernen!

Evangelische Jahresbriefe 1937, S. 133-138

[Dr. Karl Behm war leitender Arzt der Kinderheilanstalt Bad Orb]

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-24
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