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Zur Frage nach einer christlichen Anthropologie und Ethik 1
von Walter Uhsadel

LeerDie Wirrnis des geistigen Lebens der abendländischen Welt scheint ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Größer als sie ist, scheint die Ratlosigkeit nicht werden zu können. Die Versuche, dem Leben einen festen Grund zu geben, haben eine verwirrende Fülle erreicht. Antworten auf die drängenden Fragen des Menschenherzens schallen wild und zügellos durcheinander und gegeneinander. Merkwürdig genug, daß unzählige Menschen, die unruhig in dies Stimmengewirr hineinhorchen, doch immer wieder den Weg zur Kirche finden. Wenn ich an einem Heiligen Abend oder Karfreitage, am Bußtag oder am Totensonntage über die dichtgedrängte Menschenmenge, die den Raum des Gotteshauses füllt, dahinschaue, bewegt es mich immer von neuem: Was suchen sie an dieser Stätte? Leben sie nicht längst in Gedanken und Meinungen über das Menschenleben, die mit dem christlichen Glauben kaum noch etwas zu tun haben? Ist in ihrem Leben Christus noch der Herr und die Mitte, Über dem und neben dem nichts anderes Platz hat? Dreht sich ihr Leben um Christus? Ist für ihren Blick alles unter sein Licht gerückt und sehen sie alles unter seiner Gewalt? Ist nicht ihr alltägliches Leben von ganz anderen Wirklichkeiten und Mächten beherrscht und bestimmt? Was zieht diese Menschen, die, wenn man ihre Haltung im alltäglichen Leben betrachtet, von ganz andern Dingen beherrscht werden als vom christlichen Glauben, dennoch zur Kirche?

LeerSie suchen nach der Wahrheit über den Menschen, und sie können nicht von der Ahnung loskommen, daß in der Kirche die Lösung des Lebensproblems ihrer wartet. Sie ahnen, was Emil Brunner ausspricht: „Alle Religion wird vom Zweifel ergriffen und zerfetzt - mit Ausnahme jenes Glaubens, der um das Mißverständnis der Vernunft mit sich selbst weiß, daß die Vernunft der Abkömmling, nicht aber der Herr des Gotteswortes ist. Dieser Satz läßt sich selbstverständlich nicht beweisen; nur das praktische Experiment wird ihn, bis zum Ende der Zeiten, erweisen”. Und dieses Experiment erleben wir heute in einer Deutlichkeit wie lange nicht.

LeerDaß Tausende, die mit der Kirche zerfallen scheinen, dennoch nicht einmal den Versuch machen, sich von ihr zu lösen, sondern immer wieder einmal den Weg zu ihr suchen, hat seinen Grund nicht in der Trägheit, sondern darin, daß es ein innerstes Stück Glaubensgewißheit gibt, daß kein Zweifel ausrottet. Anders gesprochen: es gibt keine ungebrochene Selbstherrlichkeit des Menschen; es bleibt in aller Selbstherrlichkeit als eine Unruhe die Ahnung, daß der Mensch dennoch einen Herrn hat, dem er verantwortlich ist. „Wohl weiß jeder Mensch um Verantwortlichkeit - sonst wäre er kein Mensch, sondern Gott oder Teufel... Aber ebenso gewiß ist das andere: daß Grund, Tiefe und letzter Sinn der Verantwortlichkeit dem Menschen verborgen bleiben, bis sie ihm durch den christlichen Glauben offenbart werden” (Brunner).

LeerFür den, der das sieht, ist es nicht überraschend, daß heute die Frage nach der Anthropologie leidenschaftlich gestellt wird, daß Sie vom Pädagogen wie vom Theologen, vom Arzt wie vom Psychologen mit der gleichen Dringlichkeit auf geworfen wird. Wir haben keine Lehre vom Menschen mehr! Das ist der Notruf. Und wenn man genauer hinsieht, hat es in der abendländischen Welt nie eine andere allgemein gültige Lehre vom Menschen gegeben als die christliche. Sie aber ist verloren gegangen und durch armselige Surrogate ersetzt. Das ist der Grund der Not, die sehr viel tiefer und umfangreicher ist, als die meisten ahnen. Der Seelsorger und der Arzt wissen wohl etwas davon, wie sich hinter der Fassade der Selbstsicherheit und großer Taten die ganze Ratlosigkeit und Zerfahrenheit einer Menschenseele verbirgt.

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LeerDarum ist ein Buch wie das Emil Brunners für alle, die in der Stille an der Überwindung dieser Not arbeiten, ein großes Geschenk. Hier wird uns die christliche Lehre vom Menschen wiedergeschenkt. „Daß auch der Ungläubige nicht ohne Gottesbeziehung und eben darum verantwortlich sei und daß diese Verantwortlichkeit auch durch die radikalste Geltendmachung der schenkenden Gnade Gottes nicht außer Kraft gesetzt, sondern im Gegenteil in Anspruch genommen werde”, das bezeichnet Brunner selbst als den Grundgedanken seines Buches, das eigentlich nur eine Reihe von Variationen über dieses eine Thema darstelle. Es ist ein Buch, das ebenso in die Tiefe des theologischen Gespräches der Gegenwart, wie in die Problematik des heutigen Lebens eindringt. Es zeigt uns den wirklichen Menschen, das heißt den Menschen, der im Widerspruch von Schöpfung und Sünde, seiner Gottebenbildlichkeit und seiner Selbstherrlichkeit lebt, den Menschen mit dem cor incurvatum in se, dem auf sich selbst zurückgekrümmten Ich, und es zeigt ihn uns nicht in der Abstraktion, sondern in dieser unserer verworrenen Lebenswirklichkeit, in der die Frage nach dem wahren Menschen von neuem ausbricht. Darin liegt ein ganz besonderer Wert des Buches für den Nichttheologen (und Brunner schreibt bewußt so, daß es auch für diesen lesbar ist), daß es die Züge des wirklichen Menschen bis hinein in die letzten Winkel unserer geistigen Situation verfolgt.

LeerDieser wirkliche Mensch aber wird in der Begegnung mit dem Kreuze Christi zum wahren Menschen. „Das Kreuz Christi ist die objektive Fixierung des Widerspruchs zwischen dem wahren und wirklichen Menschen; darum ist es für den wirkliehen Menschen - bis das Wunder der Bekehrung an ihm geschieht - das widerwärtigste. Er haßt in ihm die Wahrheit über sich selbst...” Von entscheidender Bedeutung ist es, daß Brunner im Glauben an Christus nicht eine „Weltdeutung”, sondern Teilnahme an einem Geschehen sieht, Teilhaftigkeit an einem neuen, am ewigen Leben, Leben in der neuen Schöpfung! Darin bewährt, bekundet sich der wahre Mensch.

LeerAn diesem Punkte setzt nun ein anderes Buch ein, Alfred Dedo Müllers „Ethik”. Es geht Müller um den „evangelischen Weg zur Verwirklichung des Willen”. Denn das ist nun die Frage, wie der im Glauben an Christus zur Wahrheit über sich selbst gelangte Mensch in dieser irdischen Wirklichkeit, innerhalb derer er am neuen Leben teil hat, zu handeln vermag. Es ist überraschend zu sehen, wie auch Müller von der neuen Schöpfung in Christus ausgeht und im Entscheidenden mit Brunner übereinstimmt, daß nämlich Christus das Haupt eines Leibes, seiner Gemeinde ist. Darum sieht er den „Ort der Verwirklichung” in der Kirche. Sieht Brunner den Weg zum wahren Menschen darin, daß der Mensch „den Weg zurückgeht bis zum Ursprung, in der «Rekapitulation», in der objektiven «Anamnese» dieser Vergangenheit im Kreuz des Christus”, so könnte Müller fortfahren: „Nur der an der Quelle erneuerte, nur der von ihrer belebenden Kraft durchpulste, nur der mit dem Blut Christi getränkte Mensch kann die Ausgabe erfüllen, die aller Weltarbeit zugedacht ist. Denn in menschlicher Weltarbeit will Gott seine Schöpfung weiterführen, zurückführen, erneuern. In der Kirche taucht nichts anderes als das Grundproblem der Verwirklichung in seiner konzentriertesten Gestalt auf... Deshalb enthält die Kirche implicite und in nuce alle Probleme der Verwirklichung in sich. Das macht ihre Knechtsgestalt und ihre Urbedeutung aus. Sie ist nicht dazu da, um über das Leben zu herrschen, sondern den letzten und reinsten Sinn des Lebens zur Darstellung zu bringen und darin allem Leben zu dienen.”

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LeerIn der „Verwirklichung der Kirche” sieht Müller „das sittliche Grundproblem”. Sie ist der „Ort der urbildlichen Verwirklichung”. - Von hier aus (dem Schlußkapitel des Buches) fällt erst das rechte Licht auf die breite Fülle dessen, was Müller in seinem Buche behandelt. Es ist alles gesehen vom Raume der Kirche her, im Raume der Kirche, deren Haupt Christus ist, in dem als dem Herrn der Welt „alle Dinge verfaßt” sind. Es gilt für das Handeln des wahren Menschen - weil Gott durch ihn sein Werk treibt - das „omnia instaurare in Christo”. (Brunner)

LeerDamit ist uns eine christliche Ethik gegeben, die die ganze Breite der Weltwirklichkeit, der das Handeln des Christen gilt, nicht vom einzelnen, sondern vom Leibe Christi aus sieht, die nicht von einer Idee des Christlichen, sondern von der Wirklichkeit Christi ausgeht, die nicht abstrakte Lehre ist, sondern in die Wirklichkeit der Welt, die sie vorfindet, eingeht. Christliche Ethik ist für Müller „eine innere Angelegenheit der Gemeinde, die sich auf ihre sittliche Existenz und ihre Verantwortung für die Welt besinnt”.

LeerDas ist ein völlig neuer Ansatz für die Ethik, von dem aus nun auch Dinge, die bisher kaum gesehen wurden, ihre Bedeutung enthüllen. So werden wir auf den Gottesdienst „als moralisches Problem” hingewiesen: „Wer... wissen will, ob unter uns echte Verwirklichung möglich ist, darf der Frage nach dem wirklichen Gottesdienst, dessen wir fähig sind, nicht ausweichen”. „Zweifellos haben wir eine Epoche hinter uns, die durchaus blind dafür war, daß Gottesdienst eine Grundfrage des Lebens ist. Hier den richtigen Weg der Erneuerung zu finden, ist entscheidend für alle Fragen sittlicher Wiedergeburt”! Von dort aus werden wir weitergeführt zur Frage nach der geistlichen Übung in ihrer Bedeutung für das sittliche Leben: Gebet, Meditation, Fasten, Freizeit. Das alles in strenger Bindung an das Wort der Heiligen Schrift und vielfältig belegt durch das Schrifttum der Reformatoren! Andererseits dann die erstaunliche Weite des Blickes in die Weltwirklichkeit. Wie Brunner sucht auch Müller nicht nur strenge Konzentration auf den christlichen Glauben, sondern wagt von dort aus den Vorstoß in die Welt mit der verwirrenden Fülle ihrer Erscheinungen. So ist auch sein Buch ein Stück lebendigen geistlichen Kampfes mit der Christus entfremdeten Wirklichkeit. Schon die Menge der zu allen Lebensgebieten beigebrachten Literatur zeugt davon, daß hier der ernste Versuch gemacht wird, diese Weltwirklichkeit als das, was sie ist, anzureden und so von ihr und zu ihr zu sprechen, daß sie es zu hören vermag.

LeerBeide Bücher - von deren Reichtum wir in diesem kurzen Bericht keine Anschauung geben konnten - werden uns einen großen Dienst tun, wenn wir uns um die Frage mühen, wie wir dem dunklen Ahnen derer, die aus weiter Ferne wieder nach der Kirche suchen, Antwort zu geben haben. Sie beide aber mahnen uns auch, ehe wir Antwort geben, selber das zu sein, wonach die Welt hungert: Kirche Jesu Christi, in der die Welt das Leben empfängt.

Anm. 1: Emil Brunner: Der Mensch im Widerspruch. Die christliche Lehre vom wahren und vom wirklichen Menschen. Furche-Verlag, Berlin 1937 ...
Alfred Dedo Müller: Ethik. Der evangelische Weg der Verwirklichung des Guten. Verlag Alfred Töpelmann, Berlin 1937, ...

Evangelische Jahresbriefe 1938, S. 26-29

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-15
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