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von Adelbert Alexander Zinn |
Das, was ich über meinen eigenen, recht krummen Weg zum Vaterunser zu erzählen habe, macht nicht Anspruch darauf als mehr denn ein persönliches Bekenntnis genommen zu werden. Es geschieht keinesfalls in der verwegenen Absicht, meine eigene Stimme in das Gespräch frommer und gelehrter Leute zu mischen, das seit Jahrhunderten über das Gebet des Herrn geführt wird und von dem ich gewiß nur einen winzigen Teil erlauscht habe. Obwohl ich immer das Vaterunser für den geschliffensten Edelstein in der Christuskrone ansah, habe ich mir doch nicht recht zugetraut, daß ich den Glanz des Lichts, der aus ihm zurückstrahlt, dahin in mein Leben werfen könne, wo es am finstersten ist. Wie man die schönste Melodie auch dann noch liebt, wenn man sie unzählige Male gehört und gespielt hat, aber doch nicht mehr die tiefe Erschütterung durch sie erwartet, die das erste Hören brachte, so nahm ich das Vaterunser als etwas Vertrautes, dessen Verstehen keine besondere Leistung mehr von mir fordere. In Wahrheit kannte ich nur seine Worte, redete es, aber betete es nicht. Das ging so eine lange Zeit. Ich hatte schon Narben in der Seele und war in allerlei schmerzliche Schicksale verflochten, als ich eine seltsame Beobachtung an mir machte. Wenn ich nach der siebenten Bitte sagte: „denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit” , stieß ich mich an diesem „denn” , um das ja auch Luther herumgeht. Dann freilich kam aus den weiten und edlen Worten ein Gefühl, das stärker an mein Herz rührte als alles vorher. Ich nahm den Schluß als Preis, Dank und Bekenntnis schlechthin und hörte eine feierliche Musik in ihm. Es war mir gar nicht recht, daß beim Hamburger Gottesdienst die Gemeinde dem Pfarrer gerade an dieser Stelle das Wort vom Munde nimmt und es im Gewoge von Orgel und Stimmen meist undeutlich wird. Das Amen dahinter galt mir nicht mehr als ein Aussummen des feierlichen Klanges vorher. So glich ich also einem Mann, der vor einem herrlichen Dom steht und nicht durch sein großes feierliches Tor eintreten will, sondern sich ein Nebentürchen sucht. (Die alten Hirten werden sagen, „Aufsässige Schafe haben es nun einmal an sich, daß sie den Weg zur Hürde erst finden, wenn sie der Hund gezwickt hat” .) Ich bin durch den Anbau, den eine spätere Zeit an des Heilands Gebet gemacht hat, in sein Heiligtum gekommen und habe es für eine recht große Entdeckung gehalten, daß mir die vier letzten Bitten zu einer Art von Kern- und Hauptstück wurden. Die fünfte Bitte ging mir in ihrem ersten Teil immer leicht aus dem Herzen. Daß ich der Nachsicht und der Vergebung bedürftig war, ließ sich nicht schwer begreifen. Aber da hing ja noch das Zentnergewicht an ihr: „wie wir vergeben unsern Schuldigern” . Danach kann nur der Vergebung erwarten, der selbst vergibt. Ich fand, das sei recht schwer und untersuchte die Gesinnung, ans der heraus man zum Schuldiger gegen mich geworden war. Da fand ich denn meist, sie sei unchristlich gewesen und zuweilen sogar eine klare Auflehnung gegen Gottes Gesetz. Wenn ich sie hinnahm, stärkte ich also die Feinde Gottes. Ist nicht die Menschheit immer zerfallen gewesen in Heere, die für Gott und solche, die gegen ihm kämpften? Da sich Gott nicht bekriegen läßt, bekriegen sich eben seine Gläubigen und seine Feinde. Darum heißt es seinen Mann im Kampf stellen, wenn nicht Christentum und Schwäche dasselbe sein sollen. Mit derlei Gedanken verlief ich mich arg. Es hat lange gedauert bis ich fand, ich habe wieder einmal das Einfache vor selbstgemachten Schwierigkeiten übersehen. Da stand ja unseren Schuldigern. Das sind die Menschen, die sich gegen uns vergangen haben. Die meiste Feindschaft, der meiste Haß und der meiste Kampf kommen nur daher, daß ein Einzelner sein Recht versehrt glaubt. Das Unrecht, das Andern geschieht, vergibt sich leicht und tut nicht weh. Aber das, was mir einer antut, das brennt. In diesem zweiten Teil der fünften Bitte wird nichts anderes von mir verlangt als das, was schon durch die christliche Grundhaltung zugestanden sein muß, nämlich, daß ich mein eigenes Glück und Leid nicht als das Wichtigste auf der Welt nehmen soll. Es kommt dazu, daß ich ja selber nicht nur Schuldner, sondern auch Gläubiger genug habe. Viele von ihnen sind nicht mehr am Leben. Meine Schuldscheine können also an sie nicht mehr bezahlt werden. Das ergibt, in die Region der irdischen Buchhaltung übersetzt, einen recht beträchtlichen Ausgleichsfond. Also: Was mir einer getan hat, das soll ich vergeben. Damit mache ich mich nicht unfrei im Kampf für den Glauben, sondern erst recht frei. Gar nichts habe ich für mein eigenes Leben anfangen können mit der sechsten Bitte und mit Luthers Erklärung dazu. Daß Gott mich in Versuchung führt, das wollte mir nicht in den Sinn. Wie kann er Experimente mit mir machen, wo er weiß, wie es ausgeht! Und danach kam noch: „Sondern erlöse uns von dem Übel” . Nach dem „sondern” konnte das eigentlich nur heißen von dem Übel der Versuchung. Theologische Freunde, denen ich später diese Laienmeinung erzählte, haben mich verständnislos angesehen und sich ehrlich gewundert, was für Schrullen ein sonst ganz vernünftiger Mensch haben kann. Aber ich bin trotzdem der Meinung, daß es viele geben wird, die das „sondern” wie mich zu Fall gebracht hat. In dieser Meinung bestärkte mich nun erst wirklich das, was für mich in den ersten drei Bitten liegt. Sie haben sich mir am längsten verschlossen, denn ich hielt es beinahe für lästerlich, Gott von mir aus zu bitten, daß sein Name geheiligt werde, sein Reich komme und sein Wille im Himmel wie auf Erden geschehe. Nun aber ist es mir, als gehe der Weg zum Gebet des Herrn allein über die ersten drei Bitten. Ich höre bei jeder Bitte ein „Wieder” mit: Dein Name werde wieder geheiligt, wie er einmal in der Schöpfung geheiligt war, ehe die Menschen, die Du geschaffen hast, sich gegen Dich auflehnten und sein wollten wie Du. Dein Reich komme wieder, das Reich des Friedens, das Reich der Demut und das Geborgensein in Dir. Dein Wille geschehe wie im Himmel auch wieder auf der Erde, und das wird sein, wenn die Menschen den weiten Weg durch Schuld und Kampf und Haß unter der Fron des Verstandes zuende gegangen sind und den Wegweiser auf Golgatha mit rechten Augen ansehen, an dem sich für jeden entscheidet, ob er das, was er bisher für „Vorwärts!” gehalten hat, künftig für „Zurück!” halten will und das, was er für „Zurück!” gehalten hat, ihm künftig „Vorwärts!” heißen soll. Wer aber den Garten Gottes zu seinem Ziel nimmt, der kann auch sagen: „Lieber Vater” , denn er sehnt sich heim wie der verlorene Sohn in die Hut, die er verlassen hat. Wenn ich das Gebet des Herrn mit dieser Anrede beginne und dann die ersten drei Bitten auf die Erbschuld beziehe, die wir ja nicht darum tragen, weil sie einmal in fernster Zeit von Menschen begangen worden ist, sondern weil wir sie selbst immer wieder begangen haben und noch begehen in der Auflehnung gegen Gott, dann sind die andern Bitten mir erst ins rechte Licht gerückt. Dann ist es nicht seltsam, daß ich nach der dritten Bitte von meines eigenen Lebens Nahrung und Notdurft spreche. Seit der Wille des Herrn nicht mehr auf Erden geschieht, soll der Mensch ja sein Brot im Schweiße seines Angesichts essen. Der Kampf um das Brot, das nicht aus Gottes Gnade gegeben wird, hat das Gesicht der heutigen Welt geformt. Gib Du wieder jedem das Seine, Herr. Noch trägt die Erde Nahrung für uns alle, wenn wir uns bescheiden. Verzeih uns unsere Schuld, wie wir verzeihen unsern Schuldigern. Laß uns nicht draußen auf dem verfluchten Acker, der Dornen und Disteln trägt, verderben. Wir werden schlechter in der Not und ein Opfer des Bösen. Hilf uns von diesem Übel. Wir wissen nun, daß wir die Herrschaft im Reich von uns aus nicht führen können in der Auflehnung gegen Dich, denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.” Seit ich das Vaterunser so ganz als Einheit empfinde, habe ich auch erfahren, wie schwer es ist, es wirklich zu beten. Manchmal will es beim ersten Mal noch gar nicht glücken. Der Lärm der Zeit schrillt noch dazwischen. Da muß ich es denn ein zweites und ein drittes Mal wagen. Die Probe darauf, ob es geglückt ist, mache ich beim Amen. Geht das so leichthin aus mir heraus, dann war es nichts Rechtes und es muß neu versucht werden, ob nicht das Amen zuletzt doch klingen will wie eine Glocke. Evangelische Jahresbriefe 1938, S. 124-127 |
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