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von Wilhelm Stählin |
Wir gehen in einen zweiten Kriegswinter hinein, und das große Ringen zieht immer weitere Teile der Welt in seine Wirbel und Strudel hinein. Eine Umgestaltung der Erde, eine Umwälzung aller Ordnungen, Verhältnisse und Lebensformen ist in Gang gekommen, die wir in ihrem vollen Ausmaß nicht zu begreifen und mit unseren Gedanken nicht zu begleiten vermögen. Als wir Kinder waren, hat man uns die Entfernung der Erde von der Sonne anschaulich zu machen versucht, indem man uns sagte, wenn es möglich wäre, daß ein sehr schnell fahrender Zug ohne Aufenthalt von der Erde zur Sonne sich bewegte, so würden erst die während dieser rasenden Fahrt geborenen Enkel aus Ziel gelangen. So erscheint uns unsere Lage: Dürfen wir erwarten, daß wir selbst die Zeit einer in sich gefestigten und beruhigten neuen Ordnung Europas noch erleben werden? Oder wird unser Lebensschifflein bis an unser Ende von den Stromschnellen in reißendem Gefälle weitergetragen, ohne die Möglichkeit, eine friedliche Mündung oder einen stillen Hafen zu erreichen? Es ist gut, wenn wir uns an solche Gedanken gewöhnen und uns auf dieses Schicksal innerlich bereiten. Wer nur die Ruhe sucht und sozusagen dauernd damit hadert, daß ein gewalttätiges Geschehen „immer noch” das Gleichmaß seiner Tage und seiner Lebensgewohnheiten stört, der ist den Anforderungen dieser Zeit nicht gewachsen. Je nach Alter und Temperament empfinden die einzelnen, die ganz positiv in der Zeit stehen möchten, mehr die wilde Freude an einer großen und harten Zeit oder mehr die eigene Verantwortung dafür, daß die wahren und tiefsten Kräfte, von denen wir Menschen leben, im dem Gebäude einer neuen Welt wirksam werden. Dabei dürfen wir, gerade wir, am wenigsten übersehen, daß auch die christliche Kirche selbst in einen Prozeß geheimnisvoller Umschmelzung eingetreten ist, den wir staunend, oft erschüttert, oft beglückt miterleben. Es scheint, daß wir noch längst nicht in die tiefste Talsohle der Zerstörung und des Verfalls der Kirche hinuntergestiegen sind. Es zerbricht noch viel mehr. Aber gleichzeitig brechen an den verschiedensten Punkten lange verschüttete Quellen auf. Verlorene und vergessene Erkenntnisse leuchten auf; während um uns her Tausende von dem breiten Strom mitgerissen werden und fast über Nacht entdecken, daß sie keine Christen mehr sind, fangen andere an, zum ersten Male zu begreifen, was es um den Glauben an Christus eigentlich ist, und schmücken die verfallenen Altäre mit den Blumen und Lichtern ihrer Andacht und Liebe. Bücher erscheinen, atemraubend eines nach dem andern, die nicht um ihrer Vokabeln willen „christlich” sind, sondern weil in ihnen die Urlaute des christlichen Erlösungsglaubens wie aus einer unheimlichen Tiefe hervorbrechen. Es ist viel Selbstbesinnung in allen Zweigen und Teilen der christlichen Kirche, viel ehrliche Bereitschaft, umzudenken und umzulernen und unter Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrhunderte wirklich einen Schlußstrich zu ziehen. Wir müssen, nein wir dürfen auch hier im Raum des Christentums Zeugen und Träger eines radikalen Umbruchs sein; Gott weiß, was in diesen furchtbaren Wehen geboren werden will. Wer sich das Christentum nur in den überkommenen Formen unserer engbegrenzten konfessionellen Landeskirchen denken kann, ist übel dran; er sieht nur Bedrohung und Ende, wo wir vertrauen, daß Gott seine Kirche durch die Wüste in ein neues Land führen will. Hermann Sauer hat jüngst in viel gelesenen Aufsätzen die Geschichte von dem Propheten Elia (1. Kön. 19) auf die Lage unserer Kirche gedeutet; und das wollen wir mit vielen anderen ihm danken: Der Mann Gottes, dessen Wort gewesen war wie eine Fackel, flieht in die Einsamkeit und legt sich hin um zu sterben; alles scheint zu Ende und er kann nicht mehr weiter. In eben dieser Stunde aber rührt ihn der Engel Gottes an: Steh auf und iß, du hast einen großen Weg vor dir! Es gibt eine dürre theologische Schulweisheit, die ihre Heimat am Altar und ihre Verwurzelung in den Geheimnissen des Sakramentes vergessen hat und verleugnet; sie mag lauter richtige Dinge sagen, und es wird doch alles im Kern verfälscht, wenn es nicht mehr „kat' eusébeian”, aus der Haltung der gläubigen Verehrung heraus, gesagt wird. Der Nicht-Theologe hat zumeist ein scharfes Auge für diese tödliche Gefahr der Schriftgelehrten, und er weiß und empfindet unmittelbar, daß eine Lehre von Gott nur dann in Wahrheit recht, gesund und heil sam ist, wenn sie in allen ihren Worten und in der ganzen Art ihres Sprechens die fromme Ehrfurcht und Liebe erkennen läßt, in der man allein von Gott und göttlichen Dingen reden darf. - Auf dem Augsburger Reichstag (1530) soll ein Anhänger des Alten zu einem der reformatorisch Gesinnten gesagt haben: „Eure Theologie versteht man nur, wenn man viel betet.” Welches Lob und welche Verpflichtung! „Der Apostel Paulus scheint in ganz besonderem Maß davon betroffen zu sein, daß seine Gedanken mißverstanden und mißdeutet werden. Gerade gegen eine „Ethik”, die an das „ethische Ich” appelliert und erwartet, daß durch dessen Anstrengung das Rechte und Gute geschieht, kämpft der Apostel Paulus auf Schritt und Tritt. Er hält gar nichts von den „Werken des Gesetzes”, die der Mensch im mühseligen Gehorsam gegen ein sittliches Gebot vollbringt, sondern er redet am liebsten in dem Bild der „Früchte”, die aus einem Lebenszusammenhang selbstverständlich erwachsen; er spricht von dem neuen Leben, das der Mensch durch die Verbindung mit Christus und durch das Wirken des göttlichen Geistes empfängt, und von den Lebensformen, in denen sich dieses neue Leben darstellt. Das ist also das genaue Gegenteil von jenen Anstrengungen, die Sie beschreiben, und es ist mir schon immer unheimlich gewesen, wenn darauf der gar nicht passende Ausdruck „Ethik” angewendet wird. Auf der anderen Seite macht der Apostel seine Christen sehr dringend dafür verantwortlich, daß diese „Früchte” auf dem Baum ihres Lebens wirklich wachsen, und er weist sie sehr nüchtern und unerbittlich in die konkreten menschlichen Verpflichtungen, in denen sie sich als Christen bewähren sollen. Lesen Sie unter diesem Gesichtspunkt den 2. Teil des Epheserbriefes oder auch nur das 12. Kapitel des Römerbriefes! Diese Mahnungen und diese Verantwortung kann man allerdings nicht aus dem Christentum hinweg denken, ohne das Ganze zu verfälschen und zu einer gefährlichen Schwärmerei zu machen. Es gibt keine „Glaubenshaltung”, die nicht zugleich die strenge Verpflichtung zu einer bestimmten Lebenshaltung in sich schlösse; und gerade an diesem praktischen Verhalten wird erst sichtbar, ob die „Glaubenshaltung” gesund und echt oder nur eine Illusion und eine seelische Aufgeregtheit ist. Wir können den Apostel Paulus nicht entbehren, auch Sie nicht, und wir sollten uns da am wenigsten gegen ihn wehren, wo seine nüchternen Mahnungen anfangen, für uns unbequem zu werden.” Manche haben Anstoß genommen an dem Ausdruck, der Berneuchener Dienst sei eine „lose Vereinigung” von Männern und Frauen: Wir verlangen ja gerade nach starker Führung und Bindung; ein loser Kreis kann den Dienst nicht leisten, der auf uns in der Kirche wartet; wir wollen nicht ein unverbindliches, sondern ein verpflichtetes Christentum; so oder ähnlich hieß es in mehreren Briefen. Diese Stimmen waren mir eine besondere Freude; was sie verlangen, ist das Wesentliche und Notwendige. Aber von geistlicher Lebenshilfe und Lebensordnung zu reden, ist nicht Aufgabe einer Satzung; und es ist auch gut, daß kein Mitglied des Berneuchener Dienstes als solches gezwungen wird, solche Bindungen auf sich zu nehmen, wie sie einzelne als heilsam und hilfreich erkannt haben. Freilich gerade die Dinge, die man nicht organisieren und festlegen kann, sind die allerwichtigsten: „Ich möchte, daß man sich besönne, wie jedem einzelnen Mitglied des Berneuchener Dienstes eine starke Hilfe geleistet werden könnte. Sie können mir erwidern: nun will der Einzelne schon wieder etwas für sich. Ja das will ich auch ganz bewußt. Wenn wir zum Dienst gerufen werden, muß auch ein Dienst an uns geübt werden.” Auf einer ganz anderen Linie liegt die Frage, ob es in einem Kreis wie dem Berneuchener Dienst eigentlich möglich und richtig ist, wenn ein Mitglied nur um des Beitrags willen ausgeschlossen werden kann. Es wäre natürlich ganz verkehrt, wenn wir irgend jemand zum Austritt nötigten, nur weil er den Beitrag nicht bezahlen kann; das haben wir auch in all den Jahren noch nie getan; sondern für diejenigen, die gern die Verbindung mit uns aufrecht erhalten wollten und das nur finanziell nicht leisten konnten, war in jedem Fall die gern angebotene Hilfe bereit, die ihm die weitere Zugehörigkeit ermöglichte. Aber es gibt seltsame Leute, die sich zwar die Mitgliedsgaben schicken lassen, aber keinen Beitrag bezahlen, eine Aufforderung nicht beantworten und auf eine wiederholte Mahnung wieder hartnäckig schweigen. Soll man diese Mitglieder nicht aus der Liste streichen? Und zuletzt ein ganz innerliches Wort. Eine Teilnehmerin einer unserer geistlichen Wochen erinnert an den Grundton, der damals unsere Woche durchdrang: „Gott loben, das ist unser Amt. So ist es in diesen Jahren immer mit mir gegangen; alles andere können andere viel besser, aber das Gotteslob als Aufgabe der Kirche und jedes einzelnen ist die herrliche Sache, die uns befohlen ist.” Ev. Jahresbriefe 1941, S. 24-31 |
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